60 Jahre Nostra Aetate

Paradigmenwechsel im Verhältnis des Katholizismus zu Judentum und Islam

„Gemäß ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern, fasst sie (die Kirche, AR) vor allem das ins Auge, was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt.“ (Nostra aetate, 1, lateinisches Original: „In suo munere unitatem et caritatem inter homines, immo et inter gentes, fovendi ea imprimis hic considerat quae hominibus sunt communia et ad mutuum consortium ducunt.”)

Die Erklärung „Nostra aetate“ („Über die Haltung der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“) vom 28. Oktober 1965 ist zwar das kürzeste Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, doch aufgrund ihres Inhalts eine der bedeutendsten und wirkungsreichsten. Wohl in kaum einem anderen Themenfeld wurde die theologische und kirchliche Wende so augenfällig und spürbar wie im konkreten Verhalten und in der Positionierung zu den anderen Religionen. Ein Friedenstreffen mit Gebet der Religionen etwa wie 1986 und seitdem regelmäßig wäre ohne das Konzil völlig undenkbar, ebenso wenig der Besuch eines Papstes in einer Synagoge oder Moschee. Zu Recht wurde deshalb in der Rezeption des Konzils immer wieder von einem „Paradigmenwechsel“ gesprochen und nicht ohne Grund ist Nostra Aetate neben der Liturgiereform, dem Ökumenismus-Dekret und der Erklärung zur Religionsfreiheit bis heute der Stein des Anstoßes schlechthin für die traditionalistischen und fundamentalistischen katholischen Strömungen.

Der Anstoß: Die Erneuerung der Beziehungen zum Judentum

Papst Johannes XXIII. hatte zunächst nicht im Sinn, eine allgemeine Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen durch das Konzil erarbeiten zu lassen. Vielmehr ging es ihm um eine neue Grundlegung des Verhältnisses zum Judentum. Anlass war vor allem das Erschrecken über die Shoah und die zunehmende kritische Auseinandersetzung damit. Zwar lässt sich zum Beginn des Konzils noch keine grundlegende theologische Wende im Verhältnis zum Judentum in der lehramtlichen Theologie feststellen, doch Personen wie Johannes XXIII. und der deutsche Kardinal Augustin Bea praktizierten eine Haltung der Offenheit, sodass während des Konzils ungeahnte Lernprozesse möglich wurden. Der unermüdliche Einsatz einzelner Personen im Vorfeld wie etwa des jüdischen Historikers Jules Isaac spielte dabei eine große Rolle. Eine offene, dialogische, lernbereite Haltung, die den anderen nicht als Objekt, sondern als Subjekt, als Person wahr- und ernstnahm, führte zu veränderten theologischen Verhältnisbestimmungen. Nostra Aetate ist ein pastoraler und dogmatischer Text zugleich „ein Dokument der Wahrheit und der Liebe“ (Johannes Österreicher).

Politische Proteste von arabischen Staaten und Bischöfen aus islamischen Ländern, die eine kirchliche Anerkennung des Staates Israel und deren Konsequenzen fürchteten, drohten die Erklärung zu verhindern und führten schließlich dazu, dass das Konzil sich auch zum Islam und zu den anderen Religionen äußerte. So entstand eine eigene Erklärung mit fünf Artikeln, deren inhaltliches und formales Herzstück Artikel 4, die Erklärung zum Judentum, ist.

Artikel 4 entwirft Grundzüge einer neuen und dennoch biblisch begründeten Israeltheologie, die vor allem auf den Kapiteln 9–11 des Römerbriefs des Paulus aufbaut. Das Konzil betont, dass das Volk Israel Wurzel der Kirche ist, dass beide– wie durch ein Eheband („vinculum“) – auf ewig miteinander verbunden sind; das Volk Israel steht nach wie vor im Bund mit Gott; in Christus sind Juden und Heiden versöhnt und vereinigt; die gemeinsame eschatologische Hoffnung wird ausgedrückt, eine Kollektivschuld der Juden am Tode Jesu wird endlich zurückgewiesen und jede Form von Antisemitismus beklagt. Vorausgegangen war dieser Erklärung bereits 1964 ein kurzer, aber fundamental wichtiger Abschnitt in der Kirchenkonstitution Lumen Gentium (Artikel 16), wo die bleibende Erwählung des Volks Israel, des Judentums erklärt wurde. Nach Lumen Gentium 16, in dessen Licht die Erklärung Nostra Aetate zu lesen ist, steht das Volk Israel unter allen Religionen der Kirche am nächsten, die Beziehung zwischen beiden ist einzigartig. Eine Selbstbestimmung der Kirche und damit auch eine Verhältnisbestimmung zu allen anderen Religionen sind damit ohne die Bezugnahme auf das Judentum nicht mehr möglich.

Freilich ließ Nostra Aetate 4 auch viele Fragen offen (zum Beispiel die Mitverantwortung der Kirche für Judenfeindschaft, die Stellung zum Staat Israel, die Judenmission) und bleibt in Manchem noch in traditionellen Denk- und Sprachschemata hängen. Es war eben ein erster, aber äußerst wichtiger Schritt, die Öffnung einer Tür, durch die nun im Folgenden katholische und jüdische Partnerinnen und Partner des Dialogs gehen konnten und wollten.

Haltung und Verhältnis zu anderen Religionen

Artikel 4 der Erklärung, der sich ausdrücklich auf das Verhältnis zum Judentum bezog, wurde in eine umfassendere Sicht der Verhältnisbestimmung zu den anderen Religionen eingebettet.

Nostra Aetate 1 nimmt die zunehmenden Kontakte zwischen den Religionen und Völkern in der sich globalisierenden Welt zum Ausgangspunkt und formuliert das eigentliche Anliegen und Selbstverständnis der Kirche, nämlich: „Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern“ (vgl. Lumen Gentium 1, 48). Um dieses Ziel zu erreichen betont das Konzil in der Erklärung bewusst das, „was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt“. Diese eher konsensorientierte Hermeneutik ist das Besondere und Neue im Unterschied zur Differenzhermeneutik der vorkonziliaren Kirche, die nur Unterschiede und Widersprüche sehen wollte. Das theologische Verhältnis zu den anderen Religionen wird dann schöpfungstheologisch und eschatologisch-soteriologisch grundgelegt: Alle Menschen haben denselben Schöpfer und „dasselbe letzte Ziel“, sie stehen unter dem einen Heilswillens Gottes und damit in der einen Heilsgeschichte.

Nostra Aetate 2 würdigt „die Anerkennung einer höchsten Gottheit“, die sich nicht selten in den Religionen findet. Von „Heiden“ oder „Ungläubigen“ ist in der Erklärung wie auch den anderen Konzilsdokumenten nicht mehr die Rede, weil diese traditionellen Begriffe polemisch-abwertend konnotiert sind. Dann werden kurz – zu kurz, um den vielgestaltigen Realitäten wirklich gerecht werden zu können – Lehren und Praktiken des Hinduismus und Buddhismus angesprochen. Dann ein zentraler, häufig zitierter Satz: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alldem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist“ (siehe auch Gaudium et Spes 2). Gleichzeitig will und muss die Kirche weiterhin Christus verkündigen, „in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden“. Hier wird also wie bereits in Lumen Gentium 16 eine dogmatische Abstufung vorgenommen: die anderen Religionen enthalten göttliche Wahrheiten und eröffnen so Heil, die Fülle der Wahrheit und des Heils aber liegt in Jesus Christus und in den Sakramenten der Kirche.

Der christliche Wahrheits- und Heilsanspruch wird damit nicht mehr in exklusiver, sondern in inklusiver Weise vertreten: Die anderen Religionen sind keine separaten Heilswege neben dem Heilsweg Jesus Christus, vielmehr ist der dreifaltige Gott gnadenreich in den anderen Religionen gegenwärtig, wenn auch nicht so deutlich, sicher und wirksam wie in der (katholischen) Kirche. Das neue, inklusive Modell der Verhältnisbestimmung enthält also immer noch ein gewisses dogmatisches Gefälle gegenüber den anderen, was später immer wieder von innen wie außen kritisiert wurde, doch stellt sich die Frage, ob eine Religion, die sich bzw. den eigenen Wahrheitsanspruch ernst nimmt, über diese Position hinauskommen kann. Eher muss man wohl auch den anderen einen solchen inklusiven Anspruch zugestehen und der Inklusivismus darf eben nicht in überheblicher Weise vertreten werden, sondern sollte immer um die eigenen Begrenzungen wissen. Die religiösen Traditionen anderer Religionen jedoch wurden jedenfalls erstmals mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil positiv gewürdigt.

Auch Nostra Aetate 3 muss zusammen mit Lumen Gentium 16 gelesen werden. Dort heißt es, dass der Heilswille Gottes besonders auch die Muslime umfasst, die „mit uns den einen Gott anbeten“. Nostra Aetate 3 würdigt auf diesem Hintergrund den Glauben und die Glaubenspraxis der Muslime und benennt die Haltung, die katholische Christ:innen Muslim:innen und ihrem Glauben gegenübertreten einnehmen sollen: „Hochachtung“, „Wertschätzung“ (aestimatio)! Zu Mohammed und dem Koran jedoch schweigen die Konzilsväter. Der entscheidende Unterschied beider Glaubensweisen im Hinblick auf die Bedeutung Jesu Christi wird angesprochen, die islamische Leugnung des Kreuzestodes Jesu (vgl. Sure 4,157) und damit auch von dessen universaler Heilsbedeutung bleibt unerwähnt.

Nostra Aetate 5 sieht in der Gottebenbildlichkeit und der damit verbundenen Würde jedes Menschen den eigentlichen Grund für die „brüderliche“ Haltung gegenüber allen Menschen und schafft so eine inhaltliche Brücke zur Konzilserklärung über die Religionsfreiheit, die fast zeitgleich verabschiedet wurde. Ohne die Anerkennung der Religionsfreiheit nämlich ist ein Dialog auf Augenhöhe, ein Dialog von Gleichberechtigten nicht möglich. Diese Basis ist in Deutschland gegeben und zu bewahren, dafür ist zu kämpfen, weil die Religionsfreiheit Gradmesser ist für die Gewährung anderer Freiheits- und Gleichheitsrechte.

Die nachkonziliare kirchliche Rezeption

Nostra Aetate hätte kaum Chancen auf kirchliche Rezeption gehabt, wenn nicht noch während des Konzils oder bald danach entsprechende Strukturen geschaffen worden wären wie das Sekretariat für die Nichtchristen (seit 1988 Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog) und diözesane Dialogeinrichtungen. Fragen, die das Konzil offengelassen oder erst aufgeworfen hatte, wurden zumindest teil- oder ansatzweise in nachkonziliaren kirchlichen Äußerungen thematisiert:

  • die positive Würdigung der religiösen Traditionen und Werte auch des nachbiblischen Judentums,
  • die Aufarbeitung und das Eingeständnis der Mitschuld der Kirche an diversen Formen der Judenfeindschaft,
  • die Verhältnisbestimmung von Dialog und Mission: dabei wird der Dialog einerseits als Teil der gesamten Sendung der Kirche verstanden, andererseits soll der Dialog nicht für die Mission verzweckt werden,
  • das in den Religionen vorhandene Wahre und Heilige (Nostra Aetate 2) wird auf die wirksame Gegenwart des dreieinigen Gottes und das universale Handeln des Heiligen Geistes zurückgeführt,
  • eine Relativierung der universalen und einzigartigen Heilsbedeutung Jesu Christi und der Kirche wird in der Erklärung der Glaubenskongregation „Dominus Iesus“ (2000) abgelehnt.

An dieser Stelle sei noch erwähnt, welch große Bedeutung das Pontifikat Johannes Pauls II. für den interreligiösen Dialog bis heute hat: Er hat immer wieder in seinen Ansprachen und Schreiben die einschlägigen Konzilstexte zitiert und interpretiert, hat originelle Gesten der Versöhnung und Verständigung gesetzt wie den Besuch der Synagoge Roms und der Umayyadenmoschee in Damaskus oder die Friedenstreffen in Assisi. Während Papst Benedikt theologisch wieder stärker abgrenzte und Porzellan zerschlug, wenn man an die Regensburger Rede oder den Streit um die Wiederzulassung der tridentinischen Messe mit ihren judenfeindlichen Inhalten etwa in der Karfreitagsfürbitte denkt, knüpfte Papst Franziskus an die Dialogbemühungen von Johannes Paul II. an und setzte neue Akzente.

Der heutige Kontext: Dialog unter Druck

Texte wie die des Konzils entwickeln nur dann eine Relevanz, wenn sie rezipiert werden. Rezeption aber heißt hier vor allem konkrete Umsetzung im interreligiösen Dialog auf verschiedenen Ebenen, die letztlich ineinander reifen müssen: 1) im Dialog des alltäglichen Zusammenlebens in Schule, Nachbarschaft, Beruf, Stadtteil, 2) im Dialog des religiösen und theologischen Austauschs, 3) im Dialog des praktischen und partnerschaftlichen Handelns zum Wohl anderer, 4) im Dialog der spirituellen und ästhetischen Erfahrung und schließlich 5) aus institutioneller Ebene. Betrachtet man die gegenwärtige Situation in Deutschland und weltweit, so ist der interreligiöse Dialog von vielen Seiten her unter enormen Druck geraten. Einige der Herausforderungen, die sich auf der Basis von Nostra Aetate für den gegenwärtigen interreligiösen Dialog ergeben, seien im Folgenden nur thesenhaft angerissen:

(1) Das Gespräch über die und mit den Religionen findet nie in einem luftleeren, nur religiösen oder theologischen Raum, sondern unausweichlich in konkreten gesellschaftlichen und (religions-)politischen Kontexten statt, die den Dialog und die Beziehungen immer wieder belasten und gefährden, aber auch bereichern, schärfen und reifen lassen können.

Fundamentalismen gefährden in allen Religionen den Dialog und das alltägliche Zusammenleben. Die religiösen Fundamentalismen können als anti-liberale und anti-moderne Protestbewegungen gesehen werden, die sich aus Angst vor Identitäts- und Machtverlust speisen. Sie entstanden weltweit im 19. und 20. Jahrhundert als Reaktion auf Aufklärung, Freiheits- und Gleichheitsforderungen und Veränderungen im Zuge moderner, säkularer und pluraler Gesellschaften. Sie richten sich gegen historisch-kritisches Denken, zum Teil auch gegen naturwissenschaftliche Theorien wie die Evolutionstheorie, gegen Religionsfreiheit und Gleichberechtigung. Es handelt sich im Kern um religiös-politische Ideologien der Ungleichwertigkeit, die absolute und exklusive Wahrheitsansprüche erheben und dadurch intolerante Haltungen evozieren, die auch zu Gewalt führen können. Ein friedliches Zusammenleben aber setzt demokratie- und pluralitätsfähige Religionen voraus.

Die Trenn- und Konfliktlinien verlaufen dabei meist weniger zwischen den Religionen als vielmehr quer durch die Religionen. Deshalb sind versöhnende Gesten und Schritte des Zueinanders, besonders durch die führenden Religionsvertreter auf den verschiedenen Ebenen ebenso vonnöten wie die kritische Aufarbeitung von gewaltlegitimierenden religiösen Traditionen. Die Gewaltproblematik betrifft dabei nicht nur den Islam oder die „abrahamischen Religionen“, sondern ebenso den Hinduismus und den Buddhismus. Der Dialog muss außerdem kontextualisiert, verräumlicht werden und einen konkreten Sitz im Leben haben, andernfalls wird er zur Showveranstaltung ohne nachhaltige Wirkung.

(2) Parallel zur religiösen Pluralisierung und zum religionsproduktiven Impetus der Postmoderne gibt es je nach Kontext einen unterschiedlich stark wachsenden säkularen, zum Teil religionskritischen oder gar religionsfeindlichen Sektor. Der interreligiöse Dialog zumindest hierzulande findet in einem zunehmend säkularen Umfeld statt. Die säkulare Öffentlichkeit und Gesellschaft braucht aber religionsbezogene Kompetenzen wie etwa ein Mindestmaß an Wissen über die Religionen und hermeneutische Fähigkeiten zur Deutung von religiösen Symbolen, Riten und Texten. Religionen dürfen dabei nicht nur als Problem wahrgenommen und möglichst aus dem öffentlichen Bereich verdrängt werden, sondern sind als Ressourcen und Bereicherung zu sehen, sofern sie die Spielregeln von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anerkennen und im besten Fall auch begründen und verteidigen.

Die Verlockung ist groß, dass die Religionen sich gegen Anfragen und Kritik von außen abschließen oder gar gegen die säkularen Kräfte zusammenschließen. Dies widerspräche dem konziliaren Verständnis von Dialog und Zeugnis, die niemanden ausschließen und die Anfragen des anderen ernst nehmen sollen. Auch eine engere Zusammenarbeit der Religionen im Bereich der Kommunikation und Medienethik ist eine wichtige Aufgabe: Wie kann das Religiöse in den Massenmedien präsent sein, ohne dass es zu Manipulationen, Fehlinformationen, Proselytismus oder Hetze kommt?

(3) Der interreligiöse Dialog auf der offiziellen Ebene ist stark androzentrisch geprägt, was bei der patriarchalen Struktur und Prägung der meisten Religionen (Ausnahmen sind etwa das Reformjudentum oder Teile des Protestantismus) nicht verwundern dürfte. An der Basis und in der Praxis des interreligiösen Dialogs dagegen sind sehr häufig Frauen engagiert und bringen wichtige Perspektiven ein, die auf der offiziellen und theologischen Ebene künftig stärker wahrgenommen werden und zur Sprache kommen müssen.

Entwicklungen und Herausforderungen im christlich-jüdischen Dialog

Noch immer sind religiöse und nichtreligiöse Formen der Judenfeindschaft im kirchlichen und gesellschaftlichen Kontext nicht überwunden und in den letzten Jahren sogar wieder stärker und vor allem offener vertreten worden. Zu den aktuellen Aufgaben der Kirchen, ja aller Religionsgemeinschaften gehört es, die Grenzen zwischen einer legitimen Kritik an der konkreten Politik Israels und einer judenfeindlichen Israelkritik zu markieren und zu vermitteln: Judenfeindlich wird die Kritik dann, wenn das Existenzrecht Israels bestritten wird, wenn an den Staat Israel andere Maßstäbe angelegt werden als bei anderen Staaten, israelische Politik mit dem Nationalsozialismus verglichen wird oder wenn das Judentum insgesamt verantwortlich gemacht wird für konkretes Fehlverhalten israelischer Politik und Regierung. Das Existenzrecht des Staates Israel muss allein aus völkerrechtlicher Sicht unverhandelbar sein.

Für christliche Theologie stellt sich aber eine weitergehende Frage, nämlich ob und in welchem Maße der Staat Israel auch eine theologische Bedeutung hat: Die Landverheißung gehört zur biblischen Bundestheologie, ohne daraus konkrete politisch-rechtliche Gebietsansprüche ableiten zu können oder wie im evangelikalen Christentum damit messianische Erwartungen (messianischer Zionismus) zu verknüpfen. Die biblische Bundestheologie verbindet mit der Landverheißung aber auch die Gerechtigkeitsforderung, was die Anerkennung des Existenzrechts und die gleichberechtigte Behandlung der Palästinenser impliziert. Wird diese berechtigte Forderung nicht eingelöst, ist prophetische Kritik legitim und notwendig.

(2) Für den Dialog mit dem heutigen Judentum genügt es nicht, sich intensiver mit dem Alten Testament zu beschäftigen und dessen Eigenwert als Offenbarung zu entdecken, vielmehr müssen Christ:innen auch das nachbiblische, rabbinische Judentum, den Talmud, die jüdische Mystik und heutige Strömungen des Judentums besser kennen und als eine mögliche und legitime Auslegung der Hebräischen Bibel schätzen lernen. Das Judentum darf nicht ein Randthema in Verkündigung und Katechese bleiben, vielmehr muss dessen unverzichtbare Gegenwart für den christlichen Glauben immer wieder bewusst gemacht und konkret erfahrbar hat werden.

(3) Höchst bedeutsam waren zwei Erklärungen von orthodox-jüdischer Seite zum Dialog mit dem Christentum, zumal viele orthodoxe jüdische Theologen bislang dem Dialog kritisch bis ablehnend gegenüberstanden. Ende 2015 publizierten etwa 50 orthodoxe Rabbiner aus verschiedenen Kontinenten die Erklärung „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“. Nach einer positiven Würdigung der Dialogbemühungen und der erneuerten Israeltheologie der katholischen und anderen christlichen Kirchen in den letzten Jahrzehnten kommt das Dokument zu einer erstaunlichen theologischen Verhältnisbestimmung zum Christentum: Das Christentum sei weder Zufall noch Irrtum, „sondern g‘‘öttlich gewollt und ein Geschenk an die Völker. Indem Er Judentum und Christenheit getrennt hat, wollte G‘tt eine Trennung zwischen Partnern mit erheblichen theologischen Differenzen, nicht jedoch eine Trennung zwischen Feinden (…) Jetzt, da die katholische Kirche den ewigen Bund zwischen G‘‘tt und Israel anerkannt hat, können wir Juden die fortwährende konstruktive Gültigkeit des ‚Christentums als unser Partner bei der Welterlösung anerkennen, ohne jede Angst, dass dies zu missionarischen Zwecken missbraucht werden könnte.“ (Absatz 3)

Juden und Christen seien Partner: „Wir Juden und Christen haben viel mehr gemeinsam, als was uns trennt: den ethischen Monotheismus Abrahams; die Beziehung zum Einen Schöpfer des Himmels und der Erde, der uns alle liebt und umsorgt; die jüdische Heilige Schrift; den Glauben an eine verbindliche Tradition; die Werte des Lebens, der Familie, mitfühlender Rechtschaffenheit, der Gerechtigkeit, unveräußerlicher Freiheit, universeller Liebe und des letztendlichen Weltfriedens.“ (Absatz 5) Juden und Christen bleiben dem Bund mit Gott treu, „indem sie gemeinsam eine aktive Rolle bei der Erlösung der Welt übernehmen.“ (Absatz 7) Keine offizielle orthodox-jüdische Stellungnahme ging bislang soweit in der theologischen Anerkennung des Christentums und macht damit deutlich, dass der christliche Glaube für den jüdischen Glauben theologisch nicht irrelevant ist.

Am 1. Februar 2017 veröffentlichten die Europäische Rabbinerkonferenz (etwa 700 Rabbiner) zusammen mit dem Rabbinischen Rat von Amerika (etwa 1000 Rabbiner) die Erklärung „Zwischen Rom und Jerusalem: Die gemeinsame Welt und die respektierten Besonderheiten – Reflexionen über 50 Jahre Nostra Aetate“. Die Erklärung ist eine Frucht des Dialogs mit dem Vatikan seit 2002. Obgleich sie in expliziter Abgrenzung zu dem oben zitierten Dokument „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun“ (2015) eine theologische Anerkennung des Christentums vermeidet, würdigt und begrüßt sie die veränderte Einstellung, die Dialogbemühungen und die neue theologische Verhältnisbestimmung der katholischen Kirche seit dem Zweiten Vatikanum. Trotz der tiefen theologischen Unterschiede, die unüberbrückbar seien, beruft sich das Dokument auf orthodoxe Quellen, die den Christen „einen besonderen Status“ zuerkennen, „weil sie den Schöpfer des Himmels und der Erde anbeten, der das Volk Israel aus der ägyptischen Knechtschaft befreite und der die Vorsehung über die ganze Schöpfung ausübt.“ Katholiken seien außerdem „Partner, enge Verbündete, Freunde und Brüder in unserem gemeinsamen Streben nach einer besseren Welt“. Es gebe viele moralische Werte, die Juden und Christen gemeinsam haben, ebenso den gemeinsamen „Glauben an den göttlichen Ursprung der Tora und an eine endgültige Erlösung“.

Entwicklungen und Herausforderungen im christlich-muslimischen Dialog

(1) Der christlich-muslimische Dialog wurde spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 von sicherheits- und integrationspolitischen Debatten bestimmt und überlagert. Im Gegenzug entstanden eine Vielzahl von lokalen und überregionalen Dialoginitiativen, die wichtige Brückenfunktionen in die jeweiligen Gemeinschaften hinein haben. Auch der theologisch-wissenschaftliche Dialog wie etwa durch das Theologische Forum Christentum Islam hat ein neues und theologiegeschichtlich bislang einzigartiges Niveau erreicht, sodass auch kontroverse Themen wie Mission, Genderfragen oder Menschenrechte offen diskutiert werden können. Dennoch gibt es bis heute unter muslimischen Theolog:innen noch kaum Vertreter:innen, die sich intensiver mit der Bibel und der christlichen Theologie beschäftigen. Der „Offene Brief“ von 138 muslimischen Gelehrten an die Christenheit mit dem Titel „A Common Word“ (2007), der das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe als gemeinsame Basis beider Religionen erklärt, kann hier als erster Schritt gesehen werden.

(2) Zu den immer noch offenen theologischen Fragen im Verhältnis zum Islam zählt die Frage, ob bzw. inwieweit Mohammed aus christlicher Sicht als Prophet und der Koran als Offenbarungsschrift anerkannt werden können. Hierzu bedarf es einer theologisch fundierten Kriteriologie. Der pneumatologische Ansatz des Konzils, wonach der Geist Gottes über die sichtbaren Grenzen der Kirche hinauswirkt, könnte hier weiterführen.

(3) Die große Herausforderung für Christen im Dialog mit Muslimen – wie auch mit Juden – besteht darin, ihr Bekenntnis vom dreieinigen und vom in Jesus Christus menschgewordenen Gott in verständlicher und lebensnaher Weise so auszudrücken, dass Missverständnisse überwunden werden, die Zweifel am monotheistischen Bekenntnis des Christentums wecken könnten. Dies setzt religiöse Sprachfähigkeit auf Seiten der Christen voraus. Gemeinsam aber sind Christen, Juden und Muslime aufgefordert, Zeugnis vom Schöpfergott in der zunehmend säkularisierten Welt zu geben.

Rechtspopulistische und christlich-fundamentalistische Strömungen haben in den letzten Jahren auch die Islamfeindschaft zum zentralen Mobilisierungsfaktor erkoren. Kritik an bestimmten Ausformungen des Islams und an faktischen Problemen muss erlaubt und möglich sein, jeder Form von Hetze und Menschenverachtung jedoch muss die vom Konzil geforderte Haltung der Hochachtung und Liebe entgegengehalten werden.

Herausforderungen im Dialog mit ostasiatischen Religionen

(1) Der Dialog mit Hinduismus und Buddhismus steht in Mitteleuropa heute eher im Schatten des gesellschaftspolitisch forcierten Dialogs mit dem Islam. Dennoch sind auch diese Religionen hier präsent und üben mit ihren spirituellen Angeboten eine Anziehungskraft für Christen aus. Der Dialog mit diesen Religionen kann gerade die spirituelle Ebene der interreligiösen Lernprozesse bereichern und so auch eigene christliche Traditionen wieder entdecken helfen. Dies erfordert eine kritische Unterscheidung der Geister: inwieweit können fremdreligiöse spirituelle Praktiken mit dem eigenen Glauben vereinbart werden, wo verläuft die Grenze zum Synkretismus? Diese Fragen können letztlich nur aus der konkreten Begegnung heraus beantwortet werden. Wichtige theologische Themen des Dialogs mit diesen beiden Religionen müssen vertieft werden, die hier nur angedeutet werden können: Schöpfung, Personalität Gottes, Menschenwürde, Auferstehung.

(2) Wahrzunehmen und in den Dialog hinein zunehmen sind schließlich auch die vom Konzil nicht ausdrücklich genannten Religionen, die im Zuge der Globalisierung in Mittel- und Westeuropa präsent geworden sind wie die Sikhs, die Bahais oder die Shintoisten. In Bezug auf diese Religionen fehlen bislang weitgehend theologischen Reflexionen der Verhältnisbestimmung ebenso wie konstante bilaterale Beziehungen.

(4) Der Islam kennt keine verbindliche religiöse Instanz, die dem Papst oder einem kirchlichen Lehramt gleichkommen würde. Erst seit wenigen Jahren schließen sich muslimische Gelehrte zu wechselnden informellen Gremien zusammen, um mit gemeinsamen Erklärungen stärker innerislamisch und außerhalb der islamischen Welt wahrgenommen zu werden. Der bereits erwähnte „Offene Brief“ mit dem Titel „A Common Word“ (2007), der das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe als gemeinsame Basis beider Religionen erklärt, war einer der ersten Schritte in diese Richtung. Hoffnung gibt die gemeinsame Erklärung zur „Geschwisterlichkeit aller Menschen“ von Papst Franziskus und dem Großscheich der Azhar Ahmad M. al-Tayyeb vom 4. Februar 2019 in Abu Dhabi, wo sich beide Seiten zur gleichen Würde und zu den gleichen Rechten (unter anderem Religionsfreiheit) und Pflichten aller Menschen bekennen, Gewalt und Terror verurteilen und sich zu Dialog und gerechtem Handeln verpflichten. Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und der dadurch ausgelöste Krieg im Nahen Osten mit zehntausenden Opfern haben freilich viele Dialogbemühungen zwischen den abrahamischen Religionen vor eine schwere Belastungsprobe gestellt und nicht selten auch schwer gestört. Jahrelang aufgebautes Vertrauen wurde zerstört und es wird viele Jahre brauchen, um dieses wieder mühsam aufzubauen.

Fazit: Christen und Nichtchristen als Partner auf einem gemeinsamen Weg

Die Aufforderung von Nostra Aetate 3, „gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen“ kann und soll heute als Auftrag für den interreligiösen Dialog allgemein verstanden werden. Christen und Angehörige anderer Religionen, ja alle Menschen guten Willens können und sollen gleichberechtigte Partner werden, die sich in der pluralen Gesellschaft füreinander und für andere einsetzen. Der interreligiöse Dialog ist kein Allheilmittel, aber er kann zu notwendigen Lernprozessen und Perspektivenänderungen befähigen. Zugleich setzt er interreligiöse und interkulturelle Kompetenzen voraus, die in allen Bildungseinrichtungen von der Kita über die Schulen bis zur Erwachsenenbildung vermittelt und eingeübt werden sollten. Dazu gehören religiöse Sprach-, Dialog- und Kritikfähigkeit. Die neue Haltung des Konzils, die in Nostra Aetate deutlich wird, ist nicht Überlegenheit, sondern Dienst am Nächsten: so verstanden und umgesetzt kann Nostra Aetate tatsächlich zum „Kompass des kirchlich-glaubenden Handelns im 21. Jahrhundert“ (Roman Siebenrock) werden.

Andreas Renz, München

Der Autor ist promovierter katholischer Theologe und Religionswissenschaftler. Er leitet den Fachbereich Dialog der Religionen im Erzbischöflichen Ordinariat München und ist Dozent an der Katholisch-Theologischen Fakultät der LMU München. Er ist Autor mehrerer Bücher zum Verhältnis der Religionen (unter anderem „Gott und die Religionen – Orientierungswissen Religionen und Interreligiosität“, Stuttgart, Kohlhammer, 2020, sowie ein Standardwerk über Nostra aetate: „Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog“, Stuttgart, Kohlhammer, 2014) sowie Mitherausgeber des Online-Handbuchs Christlich-islamischer Dialog,

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2025, Internetzugriffe zuletzt am 11. September 2025, Titelbild: Über den Wolken, Foto: Hans Peter Schaefer)