738 Tage
Israel zwei Jahre nach dem 7. Oktober 2023
„Mein Vater spricht nie über Rache. Nur über Verantwortung. Sein Ziel war und ist es, den Kibbuz wieder aufzubauen, den noch verbliebenen Familienangehörigen von Geiseln zu helfen, ihnen eine Stimme zu geben. Mein Vater glaubt immer noch an Frieden, auch wenn es für ihn nach dem 7. Oktober sehr schwer vorstellbar ist, wie es funktionieren soll. Sein ganzes Leben hat er dafür gekämpft, dass wir in Israel und Gaza als Nachbarn zusammenleben können.“ (Yair Moses, Sohn des über 80 Jahre alten Gadi Moses aus Nir Oz, der am 30. Januar 2025 nach 482 Tagen freikam, zitiert von Natalie Amiri in ihrem Buch „Der Nahost-Komplex“, München, Penguin Verlag, 2025)
Das neue Buch von Natalie Amiri bietet einen umfassenden Überblick über die politische Lage, die gesellschaftlichen Entwicklungen und Kontroversen der Region. Sie hat mit zahlreichen Menschen und Organisationen gesprochen und die Orte des Geschehens bereist, mit der Ausnahme von Gaza, wo Journalist:innen von außen keinen Zugang erhielten. Das Buch beginnt mit einem Statement von Margot Friedländer: „Es gibt kein jüdisches, kein muslimisches, kein christliches Blut. Es gibt nur menschliches Blut!“ Es endet mit einem Brief Natalie Amiris an Margot Friedländer, den sie nach einem gemeinsamen Abendessen geschrieben hatte.
Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober durchzieht das gesamte Buch. Natalie Amiri dokumentiert Telefonate, Presseerklärungen, Telefonate während des Terrorangriffes, aber auch Äußerungen israelischer Politiker des Likud und der beiden rechtsextremistischen Koalitionspartner, die die Vernichtung Gazas androhen und die Schaffung eines Groß-Israel ankündigen. Sie zitiert ebenso Stimmen wie die von Yair Moses und von Noa, die sie nur mit Vornamen nennt, aber wohl die ehemalige Geisel Noa Argamani sein dürfte: „Für mich hat der Tod von Jonathan und seinen Freunden klargemacht: Frieden ist die einzige Antwort.“
Isaak und Ismael
Als Natalie Amiris Buch in Druck ging, waren noch 48 Geiseln in der Gewalt der Hamas. Die Angriffe der IDF in Gaza dauerten an. Am 13. Oktober 2025 war es so weit: Die letzten 20 lebenden Geiseln der Hamas sind frei. Nach 738 Tagen! Darunter vier deutsche Staatsangehörige: die Zwillinge Ziv und Gali Berman, Rom Braslawski, Alon Ohel. Nach wie vor sind 19 Leichen in Gaza (Stand 16. Oktober 2025). (Im Unterschied zu ihren Vorgänger:innen Olaf Scholz und Annalena Baerbock wiesen Friedrich Merz und Johann Wadephul ausdrücklich auf die deutschen Geiseln hin.) Im Gegenzug musste Israel etwa 2.000 inhaftierte Palästinenser:innen, darunter 250 zu lebenslanger Haft verurteilte Mörder freilassen. Unter den 250 Mördern war Hilmi Al-Maash, Planer eines Selbstmordattentats in einem Bus im Jahr 2004, durch das elf Menschen starben und vierzig verletzt wurden, darunter die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev. In einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung bekannte sie die Ambivalenz ihrer Gefühle. Sie schrieb auch über Trump, der „endlich verstand, dass Netanjahu und seine Regierung nicht für die Mehrheit der israelischen Gesellschaft sprechen.“ Aber nichts ist wie es sein sollte: „Wie absurd das ist – der Präsident einer fremden Supermacht kümmert sich mehr um die israelischen Bürger als ihre eigene Regierung. So wie Katar, die Türkei und Ägypten sich weit mehr um die Bewohner des Gazastreifens kümmern als die Anführer der Hamas.“
Die Gräuel des 7. Oktobers waren die größte Mordaktion gegen Jüdinnen und Juden seit der Shoah. Aber es gibt noch ein anderes Datum, das Pogrom in Kischinew im April 1903, unter dessen Eindruck der hebräische Nationaldichter – so wird er in Israel von vielen gelesen – Chaim Nachman Bialik das Gedicht „In der Stadt des Tötens“ schrieb. Dieses Gedicht wurde mit einem sehr lesenswerten Nachwort der israelischen Psychologin und Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen in dem Band „Wildwuchs“ mit mehreren Erzählungen des hebräischen Dichters neu veröffentlicht (München, C.H. Beck, 2024). Ayelet Gundar-Goshen wies darauf hin, dass Netanjahu am 7. Oktober 2023 aus diesem Gedicht zitierte: „Nicht kann selbst die Hölle so grausig Verbrechen, / nicht Kindesblut rächen“. Die Geschichte des Judentums ist eine Geschichte der Verfolgung, der Pogrome, sie ist aber auch – so liest Ayelet Gundar-Goshen Bialiks Erzählung „Hinter dem Zaun“ – „die Geschichte der Halbbrüder Ismael und Isaak. Beide sind Söhne Abrahams, aber nicht Bruderliebe, sondern reinster Hass herrscht zwischen ihnen.“ So werden wohl nach wie vor von vielen Menschen die Geschichten der Bibel und des Koran gelesen.
Misstrauen und Heuchelei
Eine prominente Kritikerin der Netanjahu-Regierung ist die deutsch-israelische Autorin Sarah Levy, die schon in ihrem ersten Buch „Fünf Worte für Sehnsucht“ (Hamburg, Rowohlt, 2022) die Zerrissenheit einer liberalen israelischen Jüdin angesichts der anti-liberalen und anti-demokratischen Reformen der Regierung Netanjahu beschrieb. Ihr im August 2025 erschienenes Buch „Kein anderes Land“ (Hamburg, Rowohlt, 2025) schrieb sie unter dem Eindruck des 7. Oktober. Opfer sind nicht nur jüdische Israelis, auch arabische wie beispielsweise Marwa, die KiTa-Erzieherin ihres Sohnes Oz, die ihr Erscheinungsbild und ihr Verhalten ändert, um nicht als Araberin gesehen zu werden. Sarah Levys Buch ist voller Fragen: „Ich will nicht so sein wie jene, die keinen Unterschied machen zwischen einem Volk, einer Regierung, einer Armee, einer Terrorgruppe oder einem Kind. Doch je mehr ich in diese dunkle Welt eintauche, desto mehr merke ich, wie auch ich härter werde, die Versuchung spüre, mich zu verschließen, vor dem Leid in Gaza durch die Bomben der israelischen Armee. Es gelingt mir in diesen Tagen nicht mehr automatisch, die gleiche Empathie für palästinensische Opfer zu empfinden wie für israelische Opfer. Als ob mein Mitgefühl gedämpft sei unter der Last der Berichte aus Israel und dem Gefühl, dass es sich hier um einen existenziellen Krieg handelt. Was, wenn wir das hier nicht gewinnen? Was wird aus den Geiseln? Was wird aus Israel? Aus dem jüdischen Volk? Und wie sieht ‚gewinnen‘ überhaupt aus, wenn beiden Seiten schon so viel verloren haben?“
Es geschieht so etwas wie eine schleichende Verhärtung. Ayelet Gundar-Goshen lässt die psychologischen Mechanismen in ihrem fünften Roman „Ungebetene Gäste“ (Zürich / Berlin, Kein & Aber, 2025) erahnen. Naomi ist mit ihrem einjährigen Sohn Uri alleine zu Hause. Ein arabischer Handwerker renoviert. Sie ist hin- und hergerissen, ob sie ihm vertrauen kann oder nicht lieber doch ihren Mann herbeitelefoniert. Der Handwerker geht zur Toilette und in diesem Augenblick lässt ihr Sohn einen Hammer auf die Straße fallen, der einen Jugendlichen erschlägt. Der Araber wird verhaftet, weil sie sich nicht traut, die Wahrheit zu sagen. Alle handelnden Personen, sie selbst, ihr Mann, der Vater des Opfers, die Familie des Arabers, die Therapeutin Noga verstricken sich in ihren Vorurteilen und Halbwahrheiten. Naomi und ihr Mann wandern nach Lagos in Nigeria aus und das Spiel der unausgesprochenen Wahrheiten und vermuteten Halbwahrheiten setzt sich fort, auch im Kontakt mit der Nigerianerin Ayobami, die nicht die ist, als die sie zunächst erscheint. Und was macht Naomis Mann eigentlich wirklich in Nigeria? Ayelet Gundar-Goshen lässt – wie in ihren anderen Romanen – die Perspektiven wechseln, es gibt auch eine Auflösung, die jedoch keine Lösung ist. Über allem herrscht gegenseitiges Misstrauen, das im Roman noch unterhaltsam klingen mag, aber in der Realität brutale Folgen hat.
Exemplarisch für die Heuchelei der israelischen Regierung und die Hilflosigkeit der Menschen in Israel – man könnte vielleicht sogar von Psychoterror sprechen – ist für Sarah Levy „Das furchtbare Spiel mit der Familie Bibas“, so der Titel ihres Beitrags in der ZEIT vom 20. Februar 2025. Der 20. Februar war der Tag, an dem die Hamas die Särge der ermordeten Shiri Bibas, der Mutter, und ihrer beiden Kinder, der vierjährige Ariel und der zehn Monate alte Kfir, übergab (der Artikel enthält ein entwürdigendes Bild, in der ein Hamas-Terrorist die Särge präsentiert, in dem Shiri zugeschriebenen Sarg lag – wie sich herausstellte – übrigens jemand anders). Die Kinder wurden nach der Entführung von Hamas-Terroristen im November 2023 mit bloßen Händen erwürgt: „Die Bibas-Familie ist zum Symbol der Grausamkeit des 7. Oktober geworden. Terroristen haben an dem Tag mehr als 1.200 Menschen ermordet. Noch nie wurden so viele Zivilisten, Kinder, Frauen, Alte, Verletzte, selbst bereits Getötete als Geiseln genommen und verschleppt. Doch zwei kleine Kinder, neun Monate und vier Jahre alt, mit ihrer Mutter im Schlafanzug als Geisel zu nehmen – so etwas gab es noch nie in der Geschichte Israels“. Dem Vater Jarden Bibas erzählte die Hamas, seine Familie wäre bei einem Luftangriff der IDF ums Leben gekommen. Sarah Levy verzweifelt an der israelischen Regierung, die kein sonderliches Interesse zu zeigen schien, „die letzten verbleibenden Kindergeiseln aus Gaza zurückzubringen“.
Die Bewohner:innen der von der Hamas heimgesuchten Dörfer traten für Frieden und ein friedliches Miteinander von Israelis und Palästinenser:innen ein. Das interessierte die Hamas – und auch einen großen Teil der Weltöffentlichkeit – so gut wie gar nicht. Ebenso deutlich wie das Schicksal der Familie Bibas zeigt der Überfall des Nova-Festivals die Brutalität der Hamas.
In einem Satz ließe sich der Überfall, der am 7. Oktober 2023, 6:29 Uhr begann, wie folgt zusammenfassen: Über 3.000 schwer bewaffnete Männer fallen unter Lobpreisungen Allahs unbewaffnete harmlose Menschen, die nur eines wollten: in Frieden tanzen, in Frieden leben.
Re’im 7. Oktober 2023, 6:29 Uhr
Der Überfall auf das Nova-Festival ist sehr gut dokumentiert. Dafür sorgten nicht zuletzt die Terroristen selbst. Sie filmten sich bei ihrem Morden und stellten die Bilder ins Netz, oft mit den ihren Opfern geraubten Mobiltelefonen oder mit eigenen Kameras, die ihre Taten wie ein Ego-Shooter-Computerspiel erscheinen lassen. Eine große Zahl dieser Bilder zeigt die „Tribe of Nova Foundation“ in der Nova Music Festival Exhibition, einer Ausstellung, die vom 7. Oktober bis zum 16. November 2025 in der Haupthalle des Berliner Flughafens Tempelhof zu sehen ist. Die Ausstellung sahen zuvor in New York City, Los Angeles, Buenos Aires, Miami, Toronto und Washington D.C bereits über eine halbe Million Menschen. Die folgenden Sätze sollen einen Eindruck vermitteln, was zu sehen ist.
Der zu Beginn einstimmende Film zeigt die friedliche Stimmung bei Sonnenaufgang, einem magischen Moment vieler Festivals. Wenige Minuten vor dem Angriff. Er endet mit der Warnung der DJ’s vor den anfliegenden Raketen und wir treten in die große Eingangshalle des Flughafens. Zunächst sehen wir auf einer Empore Originalvideos der Terroristen, die sich mit Allahu Akbar anfeuern, sich rühmen, dass sie an diesem Tag ins Paradies kämen. Wir sehen, wie sie unbewaffnete, hilflose Menschen jagen. Wir sehen den Bulldozer, der den Grenzzaun einriss und Platz schuf für all die Zivilisten, die zur Plünderung eilten, wir sehen lange Kamerafahrten über die Straßen mit all den zerstörten Autos, dazwischen ein fahrender Pick-Up mit Terroristen, die immer wieder absteigen und schießen, wir sehen flüchtende Menschen zwischen den Bäumen. In der Halle sehen wir Originalstücke vom Gelände: Zelte, auf dem Boden verstreute Habseligkeiten, Kuscheltiere, Wasserflaschen, Kleidungsstücke, Schmuck, das DJ-Pult und die Lautsprecherboxen, eine Bar, Dixi-Toiletten, durchsiebt von Einschusslöchern vollautomatischer Gewehre, ausgebrannte und umgestürzte Autos, Tische, auf denen die Schuhe, die Mützen, Portemonnaies, Handyhüllen gesammelt sind.
Auf einem Tondokument ist ein Terrorist zu hören, der sich gegenüber seinen Eltern rühmt, er sei ein Held, er habe zehn Juden getötet und telefoniere jetzt vom Mobiltelefon einer Jüdin. Wir sehen das Video mit der ermordeten Shani Louk auf einem Pick-Up, um sie herum Terroristen, die Gott hoch leben lassen, das Video der um Hilfe rufenden auf einem Motorrad zwischen zwei Terroristen eingeklemmten Noa Argamani, dokumentiert ist das Telefonat zwischen Roni Gonen und ihrer Mutter. Am Rand können wir die kleinen Bunker betreten, in denen sich Festival-Besucher.innen versuchten zu verstecken, zu 20 oder gar zu 40 in einem engen vielleicht drei oder vier Quadratmeter großen Raum, bis die Terroristen sie mit Handgranaten heraustrieben oder töteten. Ein junger Mann positionierte sich am Eingang eines solchen Bunkers und versuchte, die Handgranaten zurückzuwerfen. Zu den Waffen der Hamas gehörten auch Viagra-Pillen. In der Nova Exhibition sind Berichte dokumentiert, wie ein Hamas-Terrorist eine Frau vergewaltigt, während ein Kumpan gleichzeitig mehrfach mit dem Messer auf sie einsticht (diesmal kein Video). Eine Karte markiert die Orte, an denen Zivilist:innen und Sicherheitskräfte ermordet, an denen Menschen entführt worden sind. Zu sehen sind an zwei großen Wänden hinter der in der Mitte der Halle aufgestellten Bühne des Festivals auf der einen Seite die Bilder aller Opfer des Festivals, auf der anderen die aller auf dem Festival entführten Menschen. Kerzen davor mit Testimonials der Besucher:innen.
Die israelische Regierung verfügt über einen etwa 45 Minuten langen Film, den sie allerdings nur ausgewählten Politiker:innen und Journalist:innen zeigt. Aber auch wer diesen Film nicht sehen oder die Nova Exhibition nicht besuchen kann, kann sich umfassend informieren. Berichte gibt es in Hülle und Fülle. Nur ein Beispiel: Der Bericht „Sexual Violent Crimes on October 7“ der Association of Rape Crisis Centers in Israel (ARCCI) liegt bereits seit Februar 2024 in verschiedenen Sprachen vor, seit August 2025 auch in deutscher Sprache. Nur die Plattform mena-watch informierte zeitnah über diese Übersetzung.
„Wir hassen nicht“ (Ofir Amir)
Der Titel der Ausstellung der Nova Tribe Foundation geht auf eine Tätowierung zurück, die sich Mia Schem, eine der Geiseln, nach ihrer Befreiung stechen ließ. „Wir werden wieder tanzen“ – das ist die zentrale Botschaft der Ausstellung, die nach der Darstellung der Gräuel im Hauptraum in weiteren Räumen Programme und Projekte zur Betreuung der befreiten Geiseln und der Angehörigen der Geiseln und Ermordeten angeboten werden. Es sind Räume der Meditation, Räume der Ruhe, mit Vorträgen und Videos über die verschiedenen Programme. Die Botschaft lautet: „Wir hassen nicht“ – so Ofir Amir, der mit mehreren Freunden das Festival organisiert hat, wie auch in den Jahren davor. Es war geplant, wenig später am selben Ort das israelische Burning Man durchzuführen.
Ofir Amir wurde in Offenbach geboren. Er beschrieb Anfang Oktober 2025 in der Jüdischen Allgemeinen, wie er den Terrorangriff vom 7. Oktober 2025, 6:29 Uhr, erlebte. Ihn selbst schossen die Terroristen in beide Beine, er überlebte, erlebte aber, wie Freund:innen neben ihm ermordet wurden. „Trotzdem sind wir hier. Wir glauben an das Gute und lassen uns nicht unterkriegen. Wir antworten mit Musik. Mit Erinnerung. Mit Licht. Mit Liebe. Unsere Botschaft ist klar: Terroristen haben uns angegriffen. Aber unsere Reaktion darauf ist, nicht zu hassen. Diese Macht geben wir ihnen nicht. Als in Manchester bei einem Ariana-Grande-Konzert ein Selbstmordattentäter 23 junge Menschen tötete, war die Welt zu Recht erschüttert. Als bei uns mehr als 400 junge Menschen brutal ermordet wurden, war das Schweigen ohrenbetäubend. Das ist es bis heute. Noch immer werden Menschen als Geiseln in Gaza festgehalten – darunter Besucher des Nova-Festivals. Sie kamen, um zu tanzen, zu feiern, zu leben.“
Julius Geiler interviewte Ofir Amir für den Berliner Tagesspiegel: „Sehen Sie, ich werde oft gefragt, wie es mir geht. Aber es gibt Gruppen von zwölf Freunden, die gemeinsam das Festival besucht haben und von denen am Ende nur zwei wieder nach Hause gekommen sind. Ich habe beide Beine, ich habe die Geburt meiner Tochter erlebt, ich bin zu meiner Frau zurückgekehrt. Ich habe so viele Freunde verloren. So viele Freunde wurden noch viel schwerer verletzt, als ich. Who am I to complain.“ In der Süddeutsche Zeitung sagte Ofir Amir in einem Interview mit Peter Richter: „Das ist uns passiert, aber wir hassen nicht.“
Am 2. Oktober 2025 veröffentlichte die ZEIT Testimonials von Überlebenden, die Evelyn Finger protokollierte, der Rentner Itzik Askapa, der sich einmischte, als die Hamas die Polizeistation neben seinem Haus eroberte, Yasmin Porat, die es schaffte zu fliehen, aber in ein Feuergefecht geriet. Sie überlebte, ihr Partner wurde ermordet. Daniel und Neria Sharabi hätten gerne noch mehr Menschen gerettet, konnten inzwischen mit dem Verein „Für die Überlebenden und die Verwundeten“ über 1.400 Traumatisierten helfen. Eldad Adar gesteht, er war erleichtert, als er erfuhr, dass seine Tochter Gili Adar „nur erschossen“ wurde.
Ofir Amirs Text in der Jüdischen Allgemeinen endet zuversichtlich: „Ich bin Vater geworden, während ich kaum stehen konnte. Heute kann ich wieder laufen. Meine Tochter fängt langsam an zu sprechen. Wenn meine Tochter mich eines Tages fragt, was am 7. Oktober 2023 passiert ist, werde ich ihr sagen: Es war ein Tag, an dem Terroristen, die ihr Leben dem Hass gewidmet haben, unvorstellbares Leid über uns gebracht haben. Ein Tag, an dem ich meine Freunde verlor und dem Tod entkommen bin. Aber ich habe seitdem auch gelernt, dass selbst im tiefsten Dunkel ein kleines Licht bleibt, das eines Tages die Welt erleuchten kann. We will dance again!“
Auf Seiten der Hamas dominiert nach wie vor der Hass, nicht nur der Hass auf Israel und auf alle Jüdinnen und Juden, auch der Hass auf die Palästinenser:innen, die ihnen nicht folgen wollen. Die Plattform mena-watch bietet jeden Donnerstag Berichte unter anderem auch zu Palästinenser:innen, die sich gegen die Hamas erheben. Mohammed Altlooli berichtet regelmäßig über die Verfolgung von Oppositionellen, am 15. Oktober 2025 über Hinrichtungen durch die Hamas. Ihnen wurde vorgeworfen, sie wären Kollaborateure Israels. Darüber berichteten ebenfalls am 15. Oktober 2025 die Süddeutsche Zeitung und der Tagesspiegel. Beunruhigend ist die Einlassung Trumps, der Tagesspiegel titelt: „Trump vergleicht die Hinrichtungen der Hamas mit seinem Durchgreifen in Washington.“ Einen Tag später verkündete Trump auf Truth Social, die Hamas würde vernichtet, wenn sie weiterhin Menschen hinrichte.
„Resonanzraum“ Palästina
Was ist Recht, was ist Unrecht? Diese Frage stellt sich täglich. Es war die Frage, die Leonard Cohen sich stellte, als er 1973 während des Yom-Kippur-Krieges in Israel vor Soldaten sang. Matti Friedman zitiert ihn mit einer unveröffentlichten Strophe von „Lover, Lover, Lover“ in seinem Buch „Wer durch Feuer – Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens“ (übersetzt aus dem Englischen von Malte Gerken, Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2023). Immer wieder hat sich die israelische Soziologin Eva Illouz kritisch geäußert. Mitte September 2025 erschien bei Suhrkamp ihr Buch „Nach dem 8. Oktober“, die deutsche Übersetzung des französischen Originals vom August 2024, das bei Gallimard erschien.
In ihrem Essay fragt Eva Illouz unter anderem, wie es sein kann, dass sich Hass als Tugend ausgeben kann. Diese Frage betrifft nicht nur Hamas-Terroristen, sondern auch all diejenigen, die die Hamas für eine Gruppe von Freiheitskämpfern halten (wie beispielsweise sehr prominent Judith Butler oder Pankaj Mishra, die unter anderem auch leugneten, dass es Vergewaltigungen gegeben habe). Eva Illouz nennt zwei Gründe, unter anderem in Anlehnung an den Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann: „Der erste Punkt hängt mit kognitiven Verkürzungen zusammen, den Modi des schnellen Denkens; der zweite mit der Art und Weise, wie wir unsere Identität im Hinblick auf die institutionellen Bedingungen geltend machen, die uns zu sagen erlauben, ‚was wir sind‘ und ‚wer wir sind‘.“ Ähnlich argumentierten Monty Ott und Jessica Ramczik am 13. September 2025 in der Jüdischen Allgemeinen: „Palästina wird zur Projektionsfläche, weil es an einer konsistenten Erzählung mangelt.“ Dabei geht es gar nicht um die Palästinenser:innen als konkrete Menschen: Deren Leid „dient nicht als Ausgangspunkt für diplomatische oder politische Lösungsansätze, sondern als moralischer Resonanzraum, in dem man sich selbst als Teil eines heroischen Befreiungskampfes verorten kann.“
Eva Illouz sieht eine gefährliche Mischung am Werk: „Durch die Alchemie der umherwandernden Strukturen werden Antikapitalismus, Globalisierungsgegnerschaft und Antizionismus eins mit der Befreiung von sämtlichen Unterdrückungen.“ Unter „umherwandernden Strukturen“ versteht Eva Illouz ein Konzept, das mangels empirischer Begründungen „von einer Disziplin auf eine andere und von einem Kontext auf einen anderen übertragen werden kann.“ Es geht um eine im Grunde inhaltsleere „Identitätspolitik“, für die es keine konkreten Akteure mehr braucht, „eine neue Form von symbolischem Kapital, die ich als moralisches Kapital bezeichnen möchte.“ Schon Khomeini sei es gelungen, seinen Islamismus als antiimperialistischen Klassenkampf zu markieren. So wurde der Jubel über den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober, in der Berliner Sonnenallee, auf dem New Yorker Times Square und anderswo möglich: „Soweit ich mich erinnern kann, hat kein anderes Massaker – ob im Südsudan oder im Kongo, in Äthiopien, Sri Lanka, Syrien oder der Ukraine – im Westen und in islamischen Ländern so viele Menschen glücklich gemacht.“ Anders gesagt: Weil ich moralisch zu den Guten gehöre, ist alles, was ich denke, sage, tue, gerechtfertigt. Eva Illouz sagte in einem am 22. September 2025 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Gespräch mit Andreas Tobler: „Die Linke ist einem Gefühl der moralischen Überlegenheit erlegen“.
Wie dieses „Gefühl der moralischen Überlegenheit“ im Alltag wirkt, dokumentierte die Amerikanerin Hannah Shapiro, die seit fünf Jahren in Berlin lebt (der Name ist ein Pseudonym), im Juli 2024 in der Jüdischen Allgemeinen: „Nach dem Angriff in Berlin-Mitte“: „Vor anderthalb Wochen wurden mein Freund und ich auf dem Weg zum Schabbat-Essen von palästinensischen Demonstranten in Mitte angegriffen, als wir anhielten, um ein Eis zu essen. Wir wurden ohne Zustimmung gefilmt, angeschrien und mit Vergewaltigung bedroht. Ich wurde bespuckt, weil ich eine Davidstern-Halskette trug. Mein Freund wurde geschlagen und an den Haaren zu Boden geschleift. (…) Während Juden wieder einmal in den Schatten gedrängt werden, sind die Menschen auf den Straßen von Berlin still. Niemand, der sah, wie die Männer uns angriffen, tat etwas. Keiner rief die Polizei. Mein Freund lag in einem Scherbenhaufen und schützte seinen Kopf, während ich zur Polizei rannte. Niemand fragte, ob er Hilfe brauchte. Die Polizei brachte uns in die Eisdiele, um uns vor dem Mob draußen zu schützen, der ‚Eine Lösung! Eine Lösung!‘ skandierte. Währenddessen liefen die Leute weiter an dem Mob vorbei, um sich ein Eis zu bestellen – so als würde nichts passieren.“
Alle Jüdinnen und Juden werden in solchen Ereignissen in Kollektivhaftung genommen, ihnen wird eine Kollektivschuld unterstellt. Eine Langzeitstudie der Fachhochschule Potsdam und des Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung in Berlin belegt die nachhaltige Wirkung der unmittelbar nach dem Pogrom vom 7. Oktober einsetzende Welle des Antisemitismus in Deutschland. Franziska Hein berichtete in der Evangelischen Zeitung: „Jüdinnen und Juden würden permanent aufgefordert, Rechenschaft über ihre politische Position zum Nahost-Konflikt abzulegen. (…) Typisch für Antisemitismus sei zudem, dass komplexe gesellschaftliche Verhältnisse auf einzelne Personen oder Gruppen projiziert würden. Jüdinnen und Juden würden für den Krieg in Gaza kollektiv verantwortlich gemacht.“ Ähnlich erging es Menschen, die als Araber:innen identifiziert wurden. Sie wurde für den Terrorangriff der Hamas kollektiv ebenso in Haftung genommen.
Mit einer solchen Argumentationskette wird die Kritik an dem Vorgehen der IDF in Gaza – oder auch dem Vorgehen gewalttätiger Siedler im Westjordanland – geschwächt und sie verstärkt die Kompromisslosigkeit der israelischen Regierung. Netanjahu und seine Koalitionspartner können sich mit dem pauschalen Antisemitismusvorwurf aus der Verantwortung herausreden. Der Angriff auf Katar, die Offensive auf Gaza-Stadt, die Ankündigungen, die besetzten Gebiete zu annektieren, die nationalistisch-imperialistisch-faschistoiden Invektiven von Smotrich und Ben-Gvir, denen Netanjahu nicht widersprach, sie hingegen mitunter selbst äußerte – all dies sorgte in den vergangenen zwei Jahren zunehmend dafür, dass Israel sich selbst in der Welt isolierte. Die Anerkennung mehrerer westeuropäischer Staaten für einen palästinensischen Staat – gemeint ist die Regierung der palästinensischen Autonomiebehörde – ist nur der Gipfel eines Eisbergs, den die israelische Regierung mit ihrem kompromisslosen Vorgehen in Gaza selbst geschaffen hat.
Die Argumente der Liberalen, Demokraten und Linken in Israel werden kaum noch wahrgenommen oder sogar umgedeutet. Sie verschwinden in einer eigentlich unsinnigen Debatte um einen Begriff wie „Staatsräson“, der in einer Knessetrede wie seinerzeit in der Rede von Angela Merkel, seine Berechtigung hatte, aber kein konkretes Konzept für das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel hervorbringen kann. Im Grunde ist der Begriff auch eine „umherwandernde Struktur“ im Sinne von Eva Illouz. Meron Mendel hat den Begriff in seinem Buch „Über Israel reden – Eine deutsche Debatte“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2023, das Buch erschien vor dem 7. Oktober) dekonstruiert. Der Begriff postuliert etwas, das weder klar definierbar noch konsensfähig ist. Im Grunde verhindert er Dialog: „Angela Merkel und weitere deutsche offizielle Amtsträger haben den deutschen Staat auf die Sicherheit eines anderen Staates verpflichtet. Ausgelassen wurde die Frage, was Israel tun oder unterlassen solle, damit diese Garantie in Zukunft bestehen kann. Das Versprechen wurde nicht einmal an Bedingungen geknüpft, wie etwa an das Fortbestehen der israelischen Demokratie.“ Meron Mendel fährt fort: „Im Jahr 2008 war es vermutlich nicht vorstellbar, dass diese so fragil ist. Als Israeli hat mich Merkels Rede damals gerührt. Heute blicke ich mit Angst auf die politischen Entwicklungen in Israel (…). Wie kann eine deutsche Staatsräson für Israels Sicherheit das Land vor der Gefahr der demokratischen Selbstzerstörung schützen?“
Nach dem 13. Oktober 2025
Der 13. Oktober 2025 war hoffentlich ein Anfang. Es ist noch ein sehr langer Weg zu einem dauerhaften Frieden, zum Ende jeden Terrors, gleichviel ob von palästinensischen Terroristen oder israelischen Siedlern im Westjordanland, zum Ende jeglicher Spielarten von Antisemitismus, auch in Deutschland, zum Ende der Versuche Netanjahus, die israelische Demokratie zu zerschlagen, zu einem palästinensischen Staat. Auch die Aufarbeitung des Staatsversagens am 7. Oktober 2023 in Israel steht noch aus: Die Späherinnen von Nahal Oz hatten schon vor dem Überfall mehrfach gemeldet, dass jenseits der Grenze in Gaza sich Terroristen zusammenfänden, die einen Überfall trainierten. Die israelische Regierung wollte nicht hören.
Erst Donald Trump gelang es mit seiner „Bulldozer“-Methode (den Begriff verwendete Zeruya Shalev in ihrem oben zitierten Beitrag), Netanjahu zu einer (vorläufigen) Einsicht zu bringen und nach 738 Tagen am 13. Oktober 2025 die letzten noch lebenden Geiseln nach Hause zu bringen. Trump ließ dem israelischen Kabinett keine andere Wahl, als seiner Friedensinitiative zuzustimmen. Und es gelang ihm, die arabischen Staatschefs und sogar die Türkei zu gewinnen! Er schaffte es sogar, Netanjahu im Oval Office zu einer telefonischen Entschuldigung für die Bombardierungen eines mutmaßlichen Aufenthaltsorts von Hamas-Führern in Doha zu bewegen (Lea Frehse nannte diese Bombardierung in der ZEIT mit Recht einen Anschlag auf die Diplomatie. Das war im Übrigen auch der 7. Oktober, denn die Hamas verfolgte auch das Ziel, jede Annäherung zwischen Israel und weiteren arabischen Staaten nach dem Muster der Abraham-Abkommen von 2020 zu verhindern.)
Wir müssen ehrlich sein: Niemand weiß wie es weiter geht. Israel ist stark und schwach zugleich. Das Vorgehen der IDF war ungeachtet ihres brutalen Vorgehens durchaus erfolgreich. Israels Feinde sind so schwach wie nie zuvor. Hisbollah und Hamas haben ihre Anführer verloren. Der Iran, der sie finanzierte und unterstützte, und die jemenitischen Huthis wurden ebenfalls geschwächt. Die arabischen Staaten rund um Israel und die palästinensischen Gebiete wollen Ruhe. Die Entwaffnung der Hamas (durch wen eigentlich?) und der Hisbollah (durch den gestärkten, aber in sich nach wie vor schwachen libanesischen Staat) werden jedoch nicht einfach. Und was ist mit all den palästinensischen Splittergruppen, dem Islamischen Dschihad, der sich am 7. Oktober beteiligte, der PFLP (Volksfront für die Befreiung Palästinas)? Wo Waffen sind, finden sich immer wieder Terrorgruppen, die sie nutzen, möglicherweise auch außerhalb der Region. Die Instabilität Syriens ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor. Das Westjordanland ist angesichts der ständigen Übergriffe der Siedler, die die von Ben-Gvir befehligte Polizei gewähren lässt, ohnehin ein Pulverfass.
Hinzu kommt die gefährliche Sympathie der israelischen Regierung für falsche Freunde, auf die Eva Illouz im April 2025 in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung hinwies. Offenbar sieht die Regierung bei europäischen Rechtsextremisten keine antisemitische Bedrohung. So „empfing die israelische Regierung Vertreter rechtsextremer Parteien aus der ganzen Welt. Zwei rechtsextreme Politiker aus Frankreich, Jordan Bardella des Rassemblement National und Marion Maréchal, Mitglied des Europäischen Parlaments, zogen durch die Straßen von Jerusalem. Ihre Partei und die Ideen, die sie vertreten, verteidigen eine christliche Zivilisation, die Juden in der Vergangenheit als gefährlich und minderwertig angesehen hat. Viele ihrer Wähler sind antisemitisch eingestellt. / Der israelische Minister für Diaspora-Angelegenheiten, Amichai Chikli, erwägt sogar den Aufbau von Beziehungen zur AfD, einer Partei, die nicht einmal versucht, die Nationalsozialismus-Nostalgie einiger ihrer Mitglieder zu verheimlichen. Ich könnte mir vorstellen, dass einige von ihnen heimlich darüber lachen, dass israelische Juden sie jetzt mit Verbündeten verwechseln und dass Israel ihnen einen moralischen Status verleiht, der ihnen in ihrer eigenen Gesellschaft verwehrt bleibt. Die Geschichte ist nicht tragisch oder absurd, sie strotzt vielmehr vor Ironie.“
Welche innenpolitischen Ziele wird die israelische Regierung verfolgen? Wird sie von ihren geplanten Justizreformen ablassen? Sehr wahrscheinlich ist das nicht, es sei denn, sie wird bei hoffentlich bald anberaumten Wahlen in die Opposition geschickt. Das ist immerhin nach den aktuellen Umfragen wahrscheinlicher als dass der am 8. Oktober explodierte Antisemitismus in den westlichen Ländern, der latent ohnehin schon immer vorhanden war, von einem auf den anderen Tag verschwindet.
Die Demonstrationen gegen die Regierung Netanjahus, für die Befreiung aller Geiseln, für die Beendigung des Krieges, belegen, dass sehr viele Menschen in Israel ihre Demokratie – die einzige in der gesamten MENA-Region – wertschätzen und wie sehr sie sie bedroht sehen, nicht nur durch den Terrorismus von außen, eben auch durch die eigene Regierung. Würde man die Zahl der Teilnehmenden an den Demonstrationen auf deutsche Bevölkerungszahlen umrechnen, wären dies etwa sieben bis zehn Millionen Menschen in jeder Woche vor dem Brandenburger Tor.
Sarah Levy, Ayelet Gundar-Goshen, Eva Illouz und viele andere haben die Zerrissenheit beschreiben, unter der so viele Menschen in Israel leiden. Sabine Brandes, Israel-Korrespondentin der Jüdischen Allgemeinen, berichtete am 4. September über den Schulbeginn in Israel am 26. August 2025: „Endlich wieder Schule“. 180.000 Kinder wurden eingeschult, doch es war etwas anders als zuvor: Erstmals wurde eine Mehrheit der Kinder in orthodoxen statt in säkularen Schulen eingeschult. Sabine Brandes berichtete auch von Widerspruch und Widerstand am ersten Schultag: „Doch der Krieg ist noch nicht vorbei: Zum zweiten Mal begann das Schuljahr inmitten der andauernden Kämpfe gegen die Hamas in Gaza. Hunderte von Gymnasiasten schwänzten den ersten Schultag, um an Kundgebungen für einen Waffenstillstands- und Geiselbefreiungsdeal teilzunehmen. / Andere erschienen zwar zum Unterricht, trugen als Zeichen der Solidarität aber gelbe T-Shirts- der Farbe des Kampfes für die Freilassung der Geiseln – statt den für diesen Tag üblichen weißen.“ Organisiert hatten den Streik Schülervereinigungen. Anlass der Demonstrationen war auch eine Entscheidung des Bildungsministeriums, „dass in den Abiturprüfungen nicht mehr zu Themen wie den Prinzipien einer liberalen Demokratie, der Bedeutung einer Unabhängigkeitserklärung oder Verfassung als Kontrolle der Staatsmacht geprüft wird. Nach wie vor werden aber Konzepte eines Staates mit religiös-traditioneller Identität und die Rolle des religiösen Rechts abgefragt.“
Die Überlebenden des Terrorangriffs hätten eine Antwort auf die eigentlich ganz einfache Frage. Zelda Biller formuliert sie im September 2025 in der ZEIT: „Die weißen Tischdecken fehlen, die Songs sind trauriger“: „Werde ich eines Tages im Nilus oder in dem nächsten Tel Aviver Boheme-Café sitzen und auf Israel schimpfen, oder werde ich es weiter von Europa aus romantisieren? Vermutlich ist der Traum am Ende immer schöner als die Realität.“ Oder ganz anders gefragt: Wird es wieder ein Nova-Festival geben? Sicherlich nicht unmittelbar auf dem Gelände in Re’im, das zur Gedenkstätte geworden ist, aber vielleicht nebenan.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2025, Internetzugriffe zuletzt am 16. Oktober 2025. Das Titelbild zeigt DJ Skazi am 28. November 2023 vor den Bildern der am 7. Oktober 2023 von der Hamas ermordeten und verschleppten Teilnehmer:innen des Nova-Festivals in Re’im, nahe der Grenze zwischen Israel und Gaza. Foto: Yonatan Sindel. Courtesy: Jüdisches Museum Frankfurt am Main. Das Bild war auch Teil der Ausstellung „Im Angesicht des Todes“, die im Mai 2025 im Demokratischen Salon unter der Überschrift „Auf Simches – Im Angesicht des Todes“ vorgestellt wurde):