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Ein Gespräch mit der Soziologin Juliane Karakayalı über Segregation im Alltag

„Sprache ist nicht statisch, Familiensprachen und Muttersprachen können sich ändern, ob als Folge von Migration, Vertreibung und Kriegen oder einer Liebe wegen. Selbst im hohen Alter ist ein Sprachwechsel möglich. In meiner Familie wechselte man die Sprachen, Länder und Alphabete mehrmals, manchmal sogar innerhalb von wenigen Jahren und ohne überhaupt die eigene Wohnung zu verlasen. Familiengeschichten, Erinnerungen und Menschen gingen dabei verloren, manche Erinnerungen wurden willentlich ausgelöscht, andere konnten gerettet und weitergegeben werden. Dass ausgerechnet Deutsch die erste Sprache meiner Kinder werden würde, ist nicht frei von historischer Ironie.“ (Olga Grjasnowa, Die Macht der Mehrsprachigkeit – Über Herkunft und Vielfalt, Berlin, Dudenverlag, 2021)

Sprache ist ein zentraler Aspekt der Migrations- und Integrationsforschung. Sprache ist aber auch ein gesellschaftliches – manche sagen kulturelles – Kampfgebiet, auf dem Ängste vor dem Fremden, vor dem Anderen ausgetragen werden. Eine der Aufgaben der Sozialwissenschaften, der Soziologie, besteht darin, den Mechanismen solcher Konflikte nachzugehen, die immer mit der Frage einhergehen, wie viel Inklusion eine Gesellschaft bereit ist zu akzeptieren.

Juliane Karakayalı, Foto: privat.

Segregation ist einer der zentralen Fachbegriffe der Migrations- und Integrationsforschung, die oft auch zugleich Diskriminierungsforschung ist. Dies ist Gegenstand der Forschungen der Soziologin Juliane Karakayalı, die seit 2010 als Professorin an der Evangelischen Hochschule Berlin tätig ist. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind, Migration und Flucht, Rassismus, institutioneller Rassismus, Antisemitismus, Schule, Rechtsextremismus, Gender- und Queerstudien. Sie leitet das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte ORAS-Projekt („Organisation, Rassismus, Schule, Beschwerden über Rassismus in der Schule“), das noch bis Ende 2025 läuft.

Juliane Karakayalı veröffentlicht regelmäßig zu Entwicklungen in unserer postmigrantischen Gesellschaft und beschäftigt sich mit der Frage des institutionellen Rassismus in der Schule, unter anderem im Kontext segregierender Beschulungspraktiken. Mit mehreren Kolleg:innen hatsie zu diesem Thema eine eindrucksvolle Studie über die Beschulung zugewanderter und geflüchteter Kinder in Berlin veröffentlicht. Sie plädiert für eine möglichst frühzeitige Integration in Regelklassen, da diese helfen, viele Konflikte, die im Allgemeinen mit dem Thema verbunden werden, im Vorfeld zu vermeiden. Auch die deutsche Sprache lässt sich in einem solchen geregelten Alltag leichter erlernen. Weitere Themen ihrer Veröffentlichungen: Care Work, Segregation, Ukraine, auch Drittstaatler:innen aus der Ukraine, Klassenverhältnisse, NSU-Komplex. Juliane Karakayalı ist Vorstandsmitglied im Rat für Migration und Vertrauensdozentin der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Die Migrant Care Workers und der Pflegenotstand

Norbert Reichel: Mit Care-Work haben Sie sich in Ihrer Dissertation beschäftigt, die im Jahr 2009 unter dem Titel „Transnational Haushalten“ veröffentlicht wurde.

Juliane Karakayalı: In der ersten Phase meiner wissenschaftlichen Tätigkeit habe ich mich sehr viel mit Geschlechterverhältnissen und Migration befasst. Daraus ist die Dissertation entstanden. Ich wollte ein Thema ansprechen, das in den Medien immer mal wieder am Rande angetippt wurde, aber in der Forschung nicht so berücksichtigt wurde wie eigentlich erforderlich, vor allem, wenn es in einem halb-legalen Rahmen stattfand. Gegenstand war eine Sonderregelung für die Länder, die Anfang der 2000er Jahren der EU beigetreten sind: Frauen aus Osteuropa konnten vermittelt über die Bundesanstalt für Arbeit als Pflegehelferinnen nach Deutschland kommen und sollten zumeist in den Haushalten der Pflegebedürftigen wohnen und diese betreuen. Es gab damals noch keine Untersuchungen zum Leben dieser Frauen. Mich interessierte, dass die Bundesanstalt für Arbeit sich an der Schaffung von halb-legalen Arbeitsverhältnissen beteiligte, in denen die in den Familien der Pflegebedürftigen arbeitenden Frauen weder vor Überausbeutung, im Hinblick auf ihre Arbeitszeit, noch vor Übergriffen geschützt waren. Ich fand es auch spannend, dass es um Frauen aus Osteuropa mit in der Regel qualifizierten Arbeitsbiographien ging, die dann aber nach der Grenz- und Maueröffnung nicht mehr genug verdienten und sich auf eine klassisch weibliche Tätigkeit festlegen lassen mussten, der sie mit ihrer hohen Ausbildung eigentlich versucht hatten zu entkommen.

Norbert Reichel: Aus eigener Erfahrung darf ich vielleicht Folgendes beitragen. Wir hatten etwa ein halbes Jahr lang eine Polin angestellt, die meine Eltern intensiv, 24 Stunden, 7 Tage lang betreute. Sie war ausgebildete Krankenschwester und kannte sich mit Demenz aus, unter der mein Vater litt. Wir waren so froh, dass sie da war. Als sie Urlaub hatte, kam eine andere Frau, die jedoch völlig überfordert war, sodass meine Schwester, die sich beruflich als Geschäftsführerin eines Hospizvereins gut mit der Problematik auskannte, Urlaub nahm, um die Pflege für eine Zeit zu übernehmen. Ich frage mich natürlich, ob wir hier jemanden ausgebeutet haben?

Juliane Karakayalı: Naja, viele Familien haben wenig andere Wahl. Es gibt kaum Möglichkeiten, ältere Menschen so pflegen zu lassen, wie man sich das wünscht, in einer liebevollen Umgebung, mit möglichst viel Autonomie. Dieses Care-Arrangement hat also auch mit der Pflegekrise zu tun. Aber: Stellen Sie sich vor, Sie hätten jemanden nach deutschen Bedingungen eingestellt, dann wäre klar gewesen, Sie bräuchten ein Dreischichtsystem, drei Personen, die die 24 Stunden am Tag abdeckten. Die hätten auch Anspruch auf Urlaub, sodass Vertretungsregelungen erforderlich gewesen wären. Das hat bei Ihnen jetzt eine einzelne Person übernehmen müssen. Aber andererseits können Sie für eine pflegebedürftige Person zu Hause auch keinen Taubenschlag einrichten, in dem das Betreuungspersonal ständig rotiert. Und leisten könnte sich das eben auch niemand. Inzwischen gibt es vielfältige Pflegeagenturen, die Betreuungskräfte aus dem Ausland vermitteln. Die arbeiten in einem halb-legalen Rahmen insofern, als diese Beschäftigungsverhältnisse eigentlich der Scheinselbstständigkeit entsprechen und auf jeden Fall ist es eine prekäre Beschäftigung.

Norbert Reichel: Ein Schichtsystem hätte die Kosten für die Pflege verdreifacht, wenn – angesichts der Urlaubs- und Krankheitsvertretungen – nicht sogar vervierfacht. Mir fällt immer wieder unangenehm auf, dass Politiker:innen beim Thema der Vereinbarung von Familie und Beruf viel über Kinderbetreuung reden, aber kaum über Altenbetreuung. Es wird auch meines Erachtens viel zu wenig bedacht, welche Auswirkungen die Pandemie auf Care-Berufe hatte. Sie hat den Pflegenotstand noch einmal verschärft.

Juliane Karakayalı: Ja, wenn man sich die Arbeitsbedingungen einer Person ansieht, die eine pflegebedürftige oder demente Person betreut, dann ist das sehr schwierig, dauerhaft mit einer Person, der es schlecht geht, zusammen zu sein, oder mit den oft sehr großen Stimmungsschwankungen, die demente Personen unter Umständen haben. Das ist eine große Aufgabe, die eigentlich kaum jemand aushält. Es wäre eigentlich besser, wenn es ein solches Arbeitsverhältnis nicht gäbe. Aber gleichzeitig werden die Ausbildungen dieser Frauen in Deutschland nicht anerkannt und sie haben wenig Möglichkeiten, woanders zu arbeiten.

Gesellschaft als Segregationsmaschine

Norbert Reichel: Nach Ihrer Dissertation haben Sie sich auf andere Bereiche der Migrationsforschung konzentriert.

Juliane Karakayalı: Ganz klassisch biographisch auf das Thema Schule. Meine Kinder kamen damals in die Schule. So kam es, dass ich mich intensiver mit dem Thema Rassismus in Institutionen beschäftigte.

Norbert Reichel: Dazu gehört der Aspekt der Rassifizierung durch Segregation. In meiner Zeit als Leiter einer unter anderem für Integration zuständigen Referatsgruppe im nordrhein-westfälischen Schulministerium unter Leitung von Sylvia Löhrmann haben wir versucht, die zugewanderten und geflüchteten Kinder und Jugendlichen in Regelklassen zu integrieren. Als wir den Erlass dazu veröffentlichten, zeichnete sich schon der Wahlkampf 2017 ab und wir wurden von der Opposition und manchen interessierten Eltern- und Lehrerverbänden heftigst angegriffen. Vorgeworfen wurde uns, wir würden die armen deutschen Kinder benachteiligen, weil jetzt die anderen Kinder in die Klassen kämen. Nach Lektüre Ihrer Forschungsergebnisse komme ich aber zu dem Schluss, dass wir damals mit unserer integrativen Linie richtig lagen.

Juliane Karakayalı: Das Thema der Segregation ist sehr relevant. In Berlin gibt es immer wieder heftige Debatten um die Frage, wo man sein Kind einschulen kann, welche Schulen angeblich gar nicht in Frage kommen. Diese Debatte wird auch durch die lokale Medienberichterstattung befeuert. Als dann 2015 eine größere Zahl von Geflüchteten nach Berlin kam, wurden auf einmal Willkommensklassen in großer Zahl eingerichtet. Ich hatte mich da gerade mit der Geschichte der sogenannten Ausländerregelklassen beschäftig, die ja ein Instrument rassistischer Segregation und eine bildungspolitische Katastrophe waren. Mein Team und ich stellten fest, dass es jetzt mit den gleichen Begründungen wieder so gemacht und dann auch noch von der Verwaltung zum Erfolgsmodell erklärt wurde. Die Schulleitungen waren zumeist froh, dass ihnen die Aufgabe, neu zugewanderte Schüler:innen in den Regelunterricht aufnehmen zu müssen, abgenommen wurde, weil sie die an Lehrkräfte übergeben konnten, die weniger kosten, weil sie kein Lehramtsstudium absolviert haben und die auch nicht regulärer Teil des Kollegiums sind.

Wir haben in einer qualitativen Studie 13 Schulen untersucht. Alles Negative, das Sie andeuteten, hat sich bestätigt. Der Berliner Senat hat Jahre später eine eigene Studie beim Leibniz-Institut für Bildungsforschung in Hannover in Auftrag gegeben, die uns im Großen und Ganzen bestätigte. Lehrkräfte und Schulleitungen wünschten sich mehr politische Vorgaben, weil sie sich überfordert fühlten, wie sie diese Beschulungsformen gestalten sollten. Eine andere quantitative Untersuchung bestätigte, dass Kinder in diesen segregierten Klassen schlechter lernen.

Norbert Reichel: Wer regelmäßig den Tagesspiegel liest, wird schnell feststellen, dass die Berliner Schulpolitik nicht sonderlich gut wegkommt, zumindest die sozialdemokratische, die bis zum Regierungswechsel nach der letzten Wahl im Jahr 2023 dominierte. Die aktuelle christdemokratische Politik setzt allerdings auch nicht gerade auf Integration und Gerechtigkeit, wie der Streit um den Zugang zu den Gymnasien zeigt. Es gibt einen Trend zu mehr Segregation. Ein großes Manko ist und bleibt meines Erachtens die fehlende Vorbereitung der Lehrkräfte in ihrer Ausbildung.

Juliane Karakayalı: Für den Unterricht in den Vorbereitungsklassen werden die Lehrkräfte nicht vorbereitet, sie müssen sich selbst überlegen, was sie wie unterrichten. Viele haben gar keine pädagogische Ausbildung, viele sind Quereinsteiger:innen. Es ist kaum möglich, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Kinder in den sogenannten Willkommensklassen in die Schulgemeinschaft integriert werden könnten, zumal die Lehrkräfte in diesen Klassen oft selbst nicht in das Schulleben eingebunden sind. Sie nehmen an den üblichen Abläufen in der Schule kaum teil.

Norbert Reichel: Doppelte Separierung. Die Kinder werden separiert, ihre Lehrkräfte ebenso.

Juliane Karakayalı: So ist es. Dazu kommt, dass die Klassen immer da aufgemacht werden, wo gerade Platz ist. Wir haben Räumlichkeiten gesehen, die spotten jeder Beschreibung, Abstellräume mit kaputten Computern und Tischen. Dazwischen stehen dann Stühle, auf denen die Schüler:innen lernen sollen.

Norbert Reichel: Sie verwendeten eben schon den Begriff „rassistisch“. Auf diesen Begriff reagieren viele Leute ausgesprochen allergisch. Daher meine Frage, was das „Rassistische“ an der beschriebenen Situation ist.

Juliane Karakayalı: Beim Rassismus geht es um historisch legitimierte Gruppeneinteilungen, bei denen zwischen „uns“ und „den anderen“ unterschieden wird. Die Wir-Gruppe ist dann immer mit positiven Attributen belegt, die ist bildungsorientiert, friedlich, modern, demokratisch und so weiter. Die Wir-Gruppe bestimmt die Normalitätsvorstellungen einer Gesellschaft. Die Anderen weichen angeblich immer irgendwie von der Norm ab, gelten als problematisch, als rückständig, auch als aggressiv, als bildungsfern. Diese Eigenschaften werden als natürliche Eigenschaften behauptet. Diejenigen, denen negative Eigenschaften zugeschrieben werden, erfahren nicht nur Vorurteile, sondern sie werden in allen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen, auf dem Wohnungsmarkt, in der Gesundheit, in der Bildung und so weiter. Somit wird diese Hierarchie im Alltag immer wieder reproduziert.

In den Vorbereitungsklassen werden neuzugewanderte Schüler:innen ohne bildungspolitische Vorgabe und Qualitätskontrolle von oft nicht angemessen ausgebildeten Lehrkräften in mangelhaften Räumlichkeiten unterrichtet. Das würde ich als einen rassistischen Ausschluss bezeichnen. In Bildungseinrichtungen kann man das generell sehen. In Deutschland geht man gerade in der medialen Berichterstattung davon aus, dass Schüler:innen, die nicht so gut lernen, selbst schuld sind. Die sind eben nicht so, wie sie sein sollten. Es wird selten reflektiert, dass in dem bestehenden Bildungssystem eigentlich bestimmte Kinder und Jugendliche gar nicht erfolgreich sein können. Es ist eine Tatsache, dass in Deutschland der Zusammenhang zwischen sozialem Status und schlechtem Schulerfolg so ausgeprägt ist wie in kaum einem anderen OECD-Land. In anderen Ländern ist der Bildungsaufstieg leichter, weil die sich auf eine diverse Schülerschaft eingestellt haben. Bei jeder Untersuchung der letzten zwanzig Jahre wird dieser Zusammenhang in Deutschland erneut bestätigt. Und anstatt das Bildungssystem zu verändern, wird die Anwesenheit migrantischer Schüler:innen für die schlechten Ergebnisse verantwortlich gemacht.

Norbert Reichel: Sobald eine solche Studie der Öffentlichkeit vorgestellt wird, reagiert die Politik, auch wenn kaum jemand die Studie wirklich gelesen hat. Es sind immer die Migrant:innen. Subtext: Gäbe es die nicht, wäre bei uns alles in Ordnung. Migranten-Bashing als Lösung.

Juliane Karakayalı: Eltern werden mit den Daten, zum Beispiel der PISA Studie, und auch den anschließenden medialen Debatten verunsichert. Eltern denken dann sehr schnell, sie würden ihre Kinder am besten fördern, wenn sie möglichst wenig Kontakt mit migrantischen Kindern hätten.

Norbert Reichel: Wenig bedacht wird, dass es sich auch und vielleicht sogar in erste Linie um ein soziales Problem handelt.

Juliane Karakayalı: Zum sozialen Ausschluss kommt der Rassismus dazu. Es gibt viele rassistische Ausschlüsse, die mit einer kulturellen Abwertung einhergehen und die Bildungschancen verschlechtern. Es ist belegt, dass Schüler:innen mit einem beispielsweise türkischen Namen in Prüfungen schlechter bewertet werden als Schüler:innen mit deutschen Namen. Das gilt auch bei der Überweisung an Gymnasien. Es gibt das Primat der deutschen Sprache. Mehrsprachigkeit wird nicht gewürdigt, jedenfalls nicht jede Form davon. Türkisch, Arabisch oder Russisch wird nur an wenigen Schulen als dritte Fremdsprache unterrichtet und anerkannt.

Norbert Reichel: Oder warum es so wenige bilinguale Schulen gibt, deren Sprachen nicht Englisch oder Französisch sind. In Köln gibt es immerhin eine deutsch-türkische und eine deutsch-italienische Grundschule.

Juliane Karakayalı: Davon gibt es viel zu wenige. Nicht beachtet wird oft auch, dass die schlechten Quoten in den diversen Leistungsstudien (IGLU, PISA und so weiter) eben nicht nur durch migrantische Jugendliche zustande kommen. Auch die deutsch-deutschen Schüler:innen schneiden zunehmend schlechter ab. Studien belegen, dass bereits die Hälfte der Schüler:innen Nachhilfe erhält – auch in der Grundschule. Die Schule kommt also offensichtlich nicht ihrem Auftrag nach, die Schüler:innen so zu unterrichten, dass sie den Lehrstoff bewältigen können – das tun bezahlte Nachhilfekräfte.

Norbert Reichel: Ich nenne das eine doppelte Privatisierung, einmal der Trend vieler Eltern zu Privatschulen, daneben der Trend zur Auslagerung schulischen Lernens auf Nachhilfeinstitute, die man mit Recht auch als Nachhilfeindustrie bezeichnen könnte. Als 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket beschlossen wurde, waren die Nachhilfeinstitute sehr interessiert, mit der mit dem Paket möglichen Lernförderung Geld zu verdienen, im Grunde eine staatliche Subvention eines Wirtschaftszweiges. Tutor:innenmodelle, Peer-to-peer-Learning, Förderangebote im Ganztag – all das war natürlich aufwendig und hatte es schwer, sich gegen die Nachhilfeindustrie durchzusetzen. In Nordrhein-Westfalen gelang das damals, wie es heute ist und wie in anderen Ländern, weiß ich nicht, aber allein schon die Bezeichnung der Lernförderung als „Nachhilfe“ lässt Schlimmes vermuten.     

Juliane Karakayalı: Man fragt sich, warum das System immer weiter so gefüttert wird. Wie kommt es, dass viel zu wenige junge Menschen Lehrkräfte werden wollen, obwohl die Bezahlung deutlich über dem liegt, was Lehrkräfte in anderen Ländern verdienen. Offenbar ist das System, ist der Beruf Lehrer:in für junge Leute unattraktiv.

Norbert Reichel: Viele retten sich in Teilzeit, fast die Hälfte aller Lehrkräfte. Als Länder aus Gründen des Mangels die Teilzeit einschränken wollten, stieß das auf großen Protest der Gewerkschaften und Verbände.

Juliane Karakayalı: Jeder Versuch einer größeren Reform scheitert. Wenn etwas Neues erfunden wird, stehen mehrere Systeme nebeneinander. In Berlin kann man in acht Jahren und in neun Jahren zum Abitur gelangen, man kann nach der vierten und man kann nach der sechsten Klasse aufs Gymnasium wechseln.

Manche Schulen sind weiter als die Politik, aber merkt die Politik das auch?

Norbert Reichel: Darf ich mit Erich Kästner fragen: wo bleibt das Positive?

Juliane Karakayalı: Ich habe natürlich einen ganz bestimmten Fokus. Ich forsche zu Rassismus und dann sehe ich natürlich auch Rassismus. Aber ich sehe oft auch, dass Schulen weiter sind als die Politik. In Berlin gab es Schulen, die als „Brennpunktschulen“ verschrien waren. Dann kam eine neue Leitung, die wirklich Lust hatte auf die Schule, die Kinder, die da sind, die stellten ein engagiertes Kollegium ein, und damit wurde eine Schule geschaffen, an der viele Menschen Spaß haben und sich viele Möglichkeiten für die Kinder eröffnen, die diese Schule besuchen. Trotzdem bekommen auch die von der Politik nicht das, was sie bräuchten. Es gibt auch Schulen, die keine Willkommensklassen einrichten wollten, aber die bekamen keine Informationen darüber, wie sich eine Integration in die Regelklassen gestalten ließe.  Die Willkommensklasse war auch der einzige Modus, über den abgerechnet werden konnte.

Auch beim Thema Umgang mit Rassismus haben einige Schulen gute Ideen. Wir sind noch in den Anfängen unserer neuen Studie zu Beschwerden über Rassismus in der Schule. Aber schon jetzt zeigt sich, dass es Schulen gibt, die sich bemühen, einen Umgang damit zu finden, dass Schüler:innen Rassismuserfahrungen machen. Zum Teil werden Anlaufstellen geschaffen, bei denen Eltern und Kinder sich beschweren können, wenn sie rassistische Diskriminierung erfahren. Aber es fehlen formale Strukturen. Wenn ein Kollege als Anti-Diskriminierungsbeauftragter einen anderen Kollegen zum Beispiel bittet, sich vor den Schüler:innen nicht abwertend über deren Familiensprache zu äußern, dann hat das keinerlei Wirkung, denn in der Schule sind keine Antidiskriminierungsbeauftragten vorgesehen. Insofern kritisiert hier einfach ein Kollege einen anderen, der auf diese Kritik nicht eingehen muss, wenn er keine Lust dazu hat. Im System ändert sich nichts. Eigentlich müsste die Bildungsverwaltung Ideen haben, wie Schulen agieren könnten, aber wie gesagt, bisher muss das jede Schule für sich herausfinden. Man braucht Expertise, aber alle wurschteln so vor sich hin, manchmal geht es gut, manchmal nicht, und das wird so hingenommen.

Norbert Reichel: Immerhin gibt es zum Antisemitismus in einigen Ländern die Meldestellen von RIAS. Berlin war hier Vorreiter. In anderen Bereichen gibt es das nicht. Gelegentlich höre ich, gerade aus dem Bereich von Muslimen, dass Mädchen von Lehrkräften angesprochen werden, ob sie schon verlobt wären, sie würden doch sicher bald heiraten, Jungen werden angesprochen, ob sie irgendwelche Waffenlager hätten. Gerade jetzt nach dem 7. Oktober 2023 hat das massiv zugenommen. Wie kommt es, dass Lehrkräfte so handeln?

Juliane Karakayalı: Nicht zuletzt zeigt sich hier der allgemeine gesellschaftliche rassistische Diskurs. Und es fehlt an einer empathischen Anknüpfung an die Welt der Schüler:innen. Dazu bräuchte man eigentlich gar nicht so viel Ausbildung. Dazu kommt, dass sich die Schule angegriffen fühlt, wenn der Vorwurf des Rassismus erhoben wird. Der Vorwurf wird als schwerwiegender empfunden als das, was da möglicherweise passiert ist.

Norbert Reichel: Der Vorwurf wird als Rufschädigung wahrgenommen. Schulleitungen haben dann Angst vor sinkenden Anmeldezahlen.

Juliane Karakayalı: Aber auch hier stellt sich die Frage des politischen Umgangs. Man könnte Schulen auch dazu verpflichten, über rassistische Vorfälle zu berichten. Wenn eine Schule meldet, es hätte keine Vorfälle gegeben, dann wäre das ein Signal dafür, dass man da vielleicht nicht genau genug hingesehen hat. Es wäre eine Möglichkeit, Schulen für die Dokumentation von Rassismus, von Diskriminierung zu loben, weil sie sich damit auseinandersetzen. Aber dazu braucht es auch politische Vorgaben. Ein Problem der deutschen Schulen liegt auch darin, dass in der Schule nur Lehrkräfte und Schüler:innen aufeinandertreffen. Die wenigen Stunden Sozialarbeit fallen kaum ins Gewicht. Das ist in anderen Ländern anders. Da gibt es die Lehrkräfte, die die Unterrichtsinhalte vermitteln und die gesamte psychosoziale Seite wird von anderen Professionellen abgedeckt, wie zum Beispiel Folgen von Diskriminierung oder Umgang mit Leistungsdruck. Wir brauchen multiprofessionelle Teams in den Schulen.

Norbert Reichel: Andererseits kommen in einem multiprofessionellen Team manche Lehrkräfte auf den Gedanken, alle Probleme, die sie in einer Klasse erleben, auf andere Berufsgruppen zu delegieren und sich selbst gar nicht mehr darum zu kümmern. So nach dem Motto: der Schüler X macht Probleme, nimm den mal für ein paar Stunden und bring ihn mir dann wieder lernwillig und lernfähig zurück.

Juliane Karakayalı: Da sind wir dann wieder einmal bei der grundlegenden Einstellung von Lehrkräften. Wir bräuchten schon einen Kulturwandel, damit Lehrkräfte nicht immer als unfehlbar gelten beziehungsweise glauben, sie dürften keine Fehler machen.

Norbert Reichel: Den Gedanken der Fehlerkultur nennen Sie gerade zum zweiten Mal. Das ist meines Erachtens in der Tat ein Kardinalpunkt. Das liegt auch an den gesellschaftlichen Erwartungen: Ach, da gibt es Probleme? Soll die Schule lösen. Oder von Seiten der Eltern: Das Kind wird in die Schule geschickt und die Lehrkräfte haben die Aufgabe, es mit besten Noten und ungemobbt wieder nach Hause zu entlassen: Klappt es nicht, ist die Schule schuld. Gesellschaftlich gesehen heißt es dann: die schlimmen Kinder. Irgendwie doch ein Teufelskreis. Die Aufgabe ist doch unerfüllbar!

Juliane Karakayalı: Das würde ich auch sagen.

Gesellschaftliche Kräfteverhältnisse – in der Schule – in der Politik

Norbert Reichel: Wir sprachen das Thema Mehrsprachigkeit schon kurz an. Ich schätze sehr das Buch von Olga Grjasnowa „Die Macht der Mehrsprachigkeit – Über Herkunft und Vielfalt“. Aus meiner Sicht eine ausgezeichnete Bestandaufnahme. Es gibt neben der deutschen Sprache die englische als eine Art Lingua Franca, dann vielleicht noch Französisch oder Spanisch, aber alle anderen Sprachen werden nicht anerkannt, obwohl viele Kinder in ihrer Familie, in ihrem Umfeld und in der Schule zwei, oft sogar drei Sprachen sprechen.

Juliane Karakayalı: Ich bin ein Fan der Bücher von Olga Grjasnowa.

Norbert Reichel: Da haben wir etwas gemeinsam. Über das Thema Sprache sagt sie auch einiges in dem ZEIT-Podcast „Alles gesagt“, dauert etwa sechs Stunden. Sie erzählt, dass sie in der Familie Russisch, Arabisch, Englisch und Deutsch sprechen. Es gibt genug Studien, die belegen, dass eine solche Mehrsprachigkeit sich in jeder Hinsicht positiv auswirkt.

Juliane Karakayalı: Ich bin keine Linguistin, ich sehe dieses Thema vor allem aus der rassismuskritischen Perspektive. Die Forschung zum Linguizismus belegt, dass Sprachen unterschiedliche auf- und abgewertet werden. Wenn jemand mit Englisch oder Französisch aufwächst, wird das begrüßt. Ich habe auch nie gehört, dass Kindern verboten werden soll, eine dieser Sprachen miteinander zu sprechen. Aber wenn es um Türkisch oder Arabisch geht, gibt es diese Debatten um Deutschpflicht auf dem Schulhof. Es ist eine Grundrechtsverletzung, Kindern ihre Erstsprache zu verbieten. Gerechtfertigt wird das mit der Annahme, es wäre doch viel besser für die Kinder, wenn sie überall nur Deutsch sprechen. Das verunsichert auch Eltern. Wenn die selbst vor allem eine andere Sprache sprechen, ist es absurd, von ihnen etwas zu verlangen, das sie nicht erfüllen können. Kommunikation ist emotional. Das Mantra, sprechen Sie Deutsch mit ihrem Kind, geht darüber hinweg. Eigentlich stellt sich eher die Frage, wie man in die Schule Sprachbildung hereinholen könnte, die die verschiedenen Sprachen einbezieht.

Norbert Reichel: Das problematische Prinzip deutscher Schulbildung lautet, alle Kinder lernen zur selben Zeit im gleichen Tempo dasselbe. Das kann ja gar nicht funktionieren. Schulen, die individuelle Lernzeiten nach dem Modell der Dalton-Pädagogik anwenden, gibt es nur wenige und diese haben reichlich Schwierigkeiten mit den Schulaufsichtsbehörden, weil dann wieder irgendwo die geforderten Stundenzahlen nicht stimmen.

Aber irgendwie scheint mir das Thema Rassismus der Kern jeder Segregation zu sein. Jetzt wird nicht jede Rassifizierung, jede rassistische Bemerkung Terrorismus bewirken, aber ich denke, wir sollten die Bezüge schon benennen und nicht die Augen verschließen.

Juliane Karakayalı: Wir haben die Berichterstattung über die Morde des NSU gesehen, aber nicht vermutet, dass es sich um eine Terrorserie handelt. Schlimm genug. Wenn man sich aber den rassistischen Terror genauer anschaut, sieht man, dass die permanente Problematisierung des Themas Migration damit einhergeht, dass Menschen sich berechtigt fühlen, Migrant:innen zu ermorden.

Norbert Reichel: Ich war wenige Wochen – am 3. Oktober 1991 – nach dem Pogrom vom September in Hoyerswerda und erlebte, wie sich der dortige Bürgermeister, der der CDU angehörte – beim anwesenden Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf dafür bedankte, dass dieser keine „Asylbewerber“ mehr nach Hoyerswerda schicke. Diejenigen, die das Pogrom verantworteten, müssen sich darüber doch gefreut haben. Da müsste man als Wissenschaftler:in doch verzweifeln, oder?

Juliane Karakayalı: In der Politik wird ja nicht vorrangig nach wissenschaftlichen Evidenzen gehandelt. Das sehen wir an der Klimapolitik und auch an der Migrationspolitik. Wir Wissenschaftler:innen sind da Kummer gewöhnt. Unsere Arbeit ist auch nicht umsonst. Je nachdem, wie die politische Stimmung sich entwickelt, sickert dann doch wieder etwas durch. Gesellschaftlicher Wandel ist eine langfristige und umkämpfte Angelegenheit. Das sind auch Fragen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. In den letzten Jahren haben wir einen spürbaren Wandel erlebt.  Antidiskriminierungsgesetze wurden erlassen, das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat erstmals Geld für die Rassismusforschung gegeben. Es schien so, dass doch schon manches erkämpft wurde. Andererseits war ich vor wenigen Jahren optimistischer. Diese Abschottung gegenüber Migration bei gleichzeitigem Fachkräftemangel beispielsweise zeigt, wie wenig rational der Diskurs ist.

Norbert Reichel: Aus meiner Sicht eine klassische Double-Bind-Situation. Auf der einen Seite wird davon gesprochen, dass man ausländischen Fachkräften die Einwanderung und die Aufnahme einer Berufstätigkeit erleichtert werden soll, auf der andern wird dies mit teilweise unsinnigen Vorgaben erschwert. Auch hier wieder das Deutsch-Problem. Der Deutschkurs muss vor Aufnahme der Arbeit absolviert werden. Ich weiß von einer ukrainischen Konditormeisterin, die keine Konditorei eröffnen durfte, weil irgendwelche Zertifikate nicht anerkannt wurden. Eine Apothekerin durfte in der Apotheke nicht einmal russisch- und ukrainischsprachige Kund:innen beraten, solange sie nicht ihr Deutsch-Zertifikat vorlegen konnte. Davon, dass man Deutsch doch sehr gut auch on the job lernen kann und wird, haben manche Ministerien und viele Parlamentarier:innen offenbar noch nichts gehört. Und dann werden alle in einen Topf geworfen, wenn der Bundeskanzler im AfD-Sound verkündet, man müsse „in großem Stil abschieben“.

Juliane Karakayalı: Man könnte aus einer kapitalistischen Perspektive Migration verteidigen. Ich hätte natürlich eine linke Perspektive lieber.

Norbert Reichel: Zurzeit erleben wir immer mehr Anschläge, allein im Jahr 2022 121 Anschläge auf Asylbewerberheime. Clara Bünger, Abgeordnete für die Linke im Deutschen Bundestag, fragt regelmäßig nach. Ich nenne ein Beispiel, die Antwort der Bundesregierung auf ihre Anfrage zum zweiten Quartal 2023.

Juliane Karakayalı: Wir müssen viel mehr darüber reden, was wir tun können, um solche Anschläge zu verhindern. Aber das ist keine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage. Die Politik ist leider zurzeit auch wieder recht beratungsresistent. Dass ihr Agieren der AfD in die Hände spielt, wurde in der Wissenschaft schon so oft verlautbart, dass man sich schon wundert. Wo bleiben nach der Correctiv-Recherche die flammenden Reden des Bundespräsidenten, der seine Bürger:innen verteidigt?

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2024, Internetzugriffe zuletzt am 20. April 2024.)