Alles nur Proteste?
Ergebnisse der Bielefelder Mitte-Studie 2023
Die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung erscheinen alle zwei Jahre. Die neue Studie erhielt den Titel „Die distanzierte Mitte“ und wurde am 21. September 2023 in Berlin offiziell vorgestellt. Bereits am Tag der Vorstellung erhielt sie ein breites Echo in den Medien. Schon vor der Veröffentlichung der Studie erschienen mehrere Texte, die helfen können, die Ergebnisse der Studie einzuordnen. Der Tagesspiegel beispielsweise veröffentlichte am 20. August 2023 ein Interview von Heike Jahberg und Sandra Lumetsberger mit dem Psychologen Stephan Grünewald. Die AfD profitiere von einer „Erlösungshoffnung“ und davon, dass manche Menschen eine „Wagenburgmentalität“ entwickelt hätten. Dazu habe auch und gerade die Corona-Pandemie beigetragen, erlebt wurde Kontrollverlust, es entstand Angst „vor dem Verlust der Autonomie“. Die AfD verkünde, sie wolle die Regierenden „vom Hof jagen“ und schon „kehrt die alte Seligkeit zurück“. Letztlich könnte man von Religionsersatz sprechen, der aber gar nicht als Religion empfunden wird, vielleicht eine Art „Retrotrend“, bezogen auf eine Welt, die es eigentlich nie gab. Einen guten Überblick über die Studie bietet der Deutschlandfunk.
Auf dem Cover der Studie erscheinen drei Namen: Andreas Zick, Beate Küpper und Nico Mokros. Gemeinsam mit 16 weiteren Autor:innen referieren sie die Ergebnisse in 13 Kapiteln. Themen sind unter anderem Sozial- und Wirtschaftspolitik, Armut, Klima, der Krieg gegen die Ukraine, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und nicht zuletzt die „Ambivalenz der Willkommenskultur“.
Vielleicht war der Verweis auf den bei einer gewachsenen Gruppe manifesten Wunsch nach einer autoritären Regierung oder gar einem autoritär regierenden „Führer“ die Nachricht, die sich für Titelseiten besonders eignete. Das passt durchaus zur letzten Autoritarismus-Studie aus Leipzig, die ebenfalls alle zwei Jahre im Wechsel mit der Bielefelder Mitte-Studie erscheint. Hinter dem Wunsch dürfte letztlich weniger Sympathie für eine Wiederkehr der Zeiten zwischen 1933 bis 1945 stecken, wohl aber lässt sich die These formulieren, dass es in Deutschland – bei einer entsprechenden Regierung – denkbar wäre, dass sich eine Art „Illiberale Demokratie“ nach ungarischem Muster durchsetzen könnte. Die Ausgrenzung bestimmter Gruppen gehört dazu, sodass auch diverse Studien zu Antisemitismus oder Muslimfeindlichkeit – wie der jüngst erschienene Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit – helfen, die Ergebnisse der Mitte-Studie einzuordnen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, ein Begriff der in Bielefeld geprägt wurde, ist das Einstiegstor in illiberale Positionen, frauenfeindliche Äußerungen und Anti-Feminismus. Diese sind – so die genannte Autoritarismusstudie – die „Brückenideologie“, die diverse menschenfeindliche Positionen miteinander zu einem autoritär-illiberalen Weltbild verbindet.
Andreas Zick spricht in dem einführenden Kapitel von einer Zeit der „multiplen Krisen“. Diese „multiplen Krisen stoßen auf eine weitgehend unvorbereitete Gesellschaft, die normalerweise eher Ordnung, Sicherheit und einen ruhigen, möglichst risikoarmen Lauf bevorzugt. Auf dieses Versprechen der Nachkriegszeit hat sie sich verlassen und fordert es immer noch ein.“ Der Bezug auf die „Nachkriegszeit“ ist sicherlich ambivalent. In Ostdeutschland motivierte das angesichts des westdeutschen Vorbildes verbreitete Wohlstandsmodell nach 1989 viele Menschen, die jedoch erleben mussten, dass sich die von Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ nicht überall in dem Maße realisierten wie gewünscht. Wie stark aber das „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre immer noch wirkt, lässt sich vielleicht aus der Präsentation des neuen CDU-Designs ableiten, als Generalsekretär Carsten Linnemann die Farben „Cadenabbia“ und „Rhöndorf“ vorstellte.
Andreas Zick weist darauf hin, dass Sozial- und Wirtschaftsförderungsprogramme in Krisenzeiten eine geringere Rolle spielen als Bedrohungsgefühle. Eine Analyse der „Mitte“ signalisiere die „Sollbruchstellen der Demokratie“. Das zeige sich auch in Annäherungen und Allianzen zwischen rechtsextremen Milieus und nicht-extremistisch eingestellten Menschen in der „Mitte“. Wer sich bedroht fühlt, neigt offenbar eher zu (rechts-)extremistischen Positionen. Und wie sich in einer solchen Lage Bündnisse, Koalitionen bilden, beschreibt Beate Küpper in einem Exkurs zum Thema „Querfront“. Grundeinstellungen geraten ins Wanken, so wechselten Menschen, die bisher die Grünen gewählt hatten, während der COVID-19-Pandemie zur AfD. „Multiple Krisen“ werden zu multiplen Bedrohungen. Da spielt es keine Rolle mehr, ob die Bedrohung mit einem Impfstoff, Wärmepumpen oder Geflüchteten assoziiert wird.
In einem gemeinsam mit Nico Mokros geschriebenen Beitrag benennt Andreas Zick die Gefahr einer „Eskalationsspirale“. Dies bedeutet nicht, dass rechtsextreme Einstellungen mehrheitsfähig wären, wohl aber, dass zumindest nationalchauvinistische und fremdenfeindliche Aussagen größere Zustimmung erhalten als in den vorangegangenen Studien. Die Zahl junger Menschen, die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild pflegen, liege inzwischen bei etwa 12 Prozent. Fazit: „Die Demokratie steht mit Blick auf den Rechtsextremismus der Mitte größeren Herausforderungen gegenüber als vor zwei Jahren oder noch früher. Deutschland ist mit mehr Rechtsextremismus aus der Coronakrise gekommen – und damit in die nächsten Krisen hineingegangen. Das Land kann zwar auf eine absolute Mehrheit einer nicht rechtsextremen Mitte bauen, aber diese Mitte schrumpft.“
Zu beantworten wäre – dies deuten Andreas Zick und Elif Sandal-Önal in einem gemeinsamen Beitrag an – die Frage, ob die von einer Mehrheit wahrgenommenen Krisen über eine offene, auf Kooperation und Solidarität angelegte oder über eine aus- und abschließende, sich auf eine eigene fiktive, in der Regel als „Volk“ bezeichnete Community bearbeitet und aufgelöst werden sollen. Eine Warnung: „Die Vermittlung und Stärkung einer demokratieorientierten Krisenbewältigung ist nicht identisch mit einem Kontroll- oder Sicherheitsversprechen für Kriseneffekte oder einer Bekämpfung von Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Sie käme hinzu und ist in der Demokratiebildung zu Hause.“
Daraus leitet sich die Frage ab: Was bedeuten die Ergebnisse der Studie für die Politische Bildung? Sabine Achour plädiert zunächst für eine Klärung der Begrifflichkeiten. Erforderlich sei die „Korrektur von Fehlverständnissen: Extremismusprävention ist nicht das Gleiche wie politische Bildung“, die „Optimierung von (Regel-)Strukturen politischer Bildung“ als „Daueraufgabe statt Intervention in Krisen“, hilfreich seien „niedrigschwellige und aufsuchende Zugänge: für (bisher nicht ausreichend erreichte) Demokrat:innen, nicht für Demokratiefeinde“, die „Professionalisierung politischer Akteur:innen als politische Bildner:innen“ im Hinblick auf eine „demokratische Haltung statt rechtspopulistischer Anschlussfähigkeit“ und nicht zuletzt die Frage nach der Zukunft in den Kontexten „neoliberale Leistungsgesellschaft und Klimaschutz“.
Sabine Achour fordert „Kritische politische Bildung statt affirmativ-unpolitischer Bildung“. In der Tat wäre es gefährlich, politische Bildung in Form von Glaubensbekenntnissen zu noch so lobenswerten Zielen oder als Prävention gegen Extremismus zu verkürzen, weil auf diese Weise die angesprochenen Menschen als Problem geframt würden. Eben ein solches Framing mag ein Grund sein, warum politische Bildung in Ostdeutschland bei vielen Menschen unpopulär ist. Sie erinnert manche zu sehr an die Praxis in der DDR, auch wenn sich die Inhalte grundsätzlich unterscheiden, und werde dann auch als „Disziplinierung“ erlebt. Das Ergebnis sind „Abwehreffekte“, die angesichts der Debatten um die sogenannten „Cancel-Culture“ sichtbar werden.
Ausgesprochen ambivalent ist in diesem Zusammenhang der „Opfermythos“, den die AfD und andere – beispielhaft die Causa Aiwanger – zu vermarkten verstehen. Darüber sprach Joachim Huber am 21 August 2023 für den Tagesspiegel mit Johannes Hillje. Das Prinzip heiße „Provokation durch Publizität“. Die „Protestwählerthese“ reiche zur Erklärung nicht aus, es würden auch noch viel zu viele „naive Interviews“ mit AfD-Politiker:innen geführt. Es gebe „Lerneffekte“, aber auch „Lernverweigerung“, nicht zuletzt bei Interviews des MDR: „ein solches Interview läuft gehörig falsch, wenn die von Björn Höcke erwartungsgemäß vorgetragene NS-Rhetorik, Menschenfeindlichkeit und demagogische Selbst-Heroisierung nicht journalistisch mit der von der Wissenschaft nachgewiesenen rechtsextremen Ideologie kontextualisiert wird. Das Interview war ein lebhafter Plausch mit einem Rechtsextremen. Damit verfehlt der MDR seinen demokratischen Auftrag.“
Eine grundlegende Einordnung der Mittestudie, auch im Deutschlandfunk, bietet der Historiker Martin Sabrow im Gespräch mit Nadine Lindner. In dem Gespräch werden auch Auszüge aus der Präsentation vom 21. September im O-Ton von Andreas Zick und Beate Küpper zitiert. Martin Sabrow weist allerdings auch darauf hin, dass die Ergebnisse zum Teil schwer interpretierbar seien. Beispielsweise sprechen sich 68 Prozent für „Solidarität mit den Schwächsten“ aus. Über die Art und Weise, wie dies geschehen könnte, ist damit nichts gesagt. Die Ergebnisse zeigten, dass eine Normalisierung der AfD im Parteienspektrum erreicht sei und auch offen ausgesprochen wird. Rechtsextreme Einstellungen gab es natürlich auch schon vorher, sodass sich – so Martin Sabrow – auch die Frage stellt, ob sich zunächst (nur) „die Lust an der Sagbarkeit“ erhöht habe und die Lust an der „Provokation“. Ein Vergleich mit der Weimarer Zeit sei allerdings nicht angebracht, denn es gebe erhebliche Unterschiede, beispielsweise „eine starke bürgerliche Mitte“ und eine „verbreitete Ächtung von Gewalt“.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2023, Internetzugriffe zuletzt am 26. September 2023.)