Annalena oder Robert?
Wrong Question – It’s the Future, Stupid
Die Medien, so auch dieser Blog, haben ein neues Betätigungsfeld gefunden, die Spekulation über eine grüne Kanzlerin bzw. einen grünen Kanzler. Spekuliert wird natürlich im Vergleich zur Konkurrenz, v.a. zu AKK, weniger zur SPD, der offenbar kaum noch jemand ein Ergebnis zutraut, das sie auch nur in die Nähe einer Kanzler*innenpartei bringen könnte. Da aber keine Partei sich in näherer Zukunft einer absoluten Mehrheit erfreuen dürfte, ist es vielleicht hilfreich, über eine grüne Kanzler*innenschaft unter dem Gesichtspunkt möglicher Koalitionen nachzudenken.
Szenario I: Grün-Rot-Rot
Ob es zu einer solchen Regierung kommen könnte, ist ungewiss. Warum sollte die SPD nach den GroKo-Erfahrungen bereit sein, als geschwächter Juniorpartner in eine Koalition einzutreten? Nach der letzten hessischen Landtagswahl war die SPD nicht bereit, unter einem grünen Ministerpräsidenten zu regieren. Und das Ergebnis aus der Zeit als Juniorpartner der CDU im Bund bzw. der Grünen in Baden-Württemberg dürfte kaum motivieren.
Wenn es aber zu einer grün-rot-roten Regierung kommt, werden CDU, FDP und AfD als Opposition keine Gelegenheit auslassen, jede politische Entscheidung dieser Regierung fundamental zu kritisieren. Wie viel dann von dem aktuellen Bekenntnis von CDU und FDP zum Klimaschutz übrigbleibt, werden wir sehen, wenn regulierende Eingriffe, ohne die die Klimaziele nicht erreichbar sein werden, durchgesetzt werden müssen. Ein zweiter Punkt zukünftiger schwarz-gelb-blauer Oppositionsarbeit könnte der Themenkomplex Europa und Migration werden. Die Opposition könnte sich national oder sogar nationalistisch profilieren.
Als dritter kritischer Punkt dürften sich jedoch soziale und wirtschaftliche Aufgaben erweisen, die sich nicht in einer Legislaturperiode lösen lassen. Wohnen, Gesundheit, Grundsicherung und Grundrente, Pflege – das sind nur einige dieser Punkte. Es ist denkbar, dass eine grün-rot-rote Regierung binnen zwei Jahren einen deutlichen Einbruch an Zustimmung erleidet. SPD und Linke werden sich aus der Affäre ziehen und dem grünen Koalitionspartner zu viel Wirtschaftsnähe vorwerfen. Das nationalistische Argument wird diesen Streit verstärken. Den multikulturell denkenden Grünen wird die alleinige Verantwortung für eine Wirtschaftskrise angelastet.
Szenario II: Grün-Schwarz
Eine grüne Kanzlerin bzw. ein grüner Kanzler könnte sich in einer grün-schwarzen Koalition als Stabilitätsfaktor erweisen. Dazu wäre es noch nicht einmal erforderlich, Autoindustrie und konventionelle Landwirtschaft zu hofieren. Die baden-württembergische Erfahrung belegt, dass die Werte der Grünen stabil bleiben, weil der liberal-bürgerliche Habitus wirkt. Der Koalitionspartner dürfte aufgrund seiner internen Streitigkeiten zur Frage, wie „grün“ die CDU denn werden dürfte, kaum aufholen. Und dieser Streit wird verstärkt, weil die CDU sich gegenüber dem grünem notgedrungen in der „Bremser“-Rolle befände. Diese ist nie attraktiv, zumal die Bremsenden sich kaum einigen werden, wie stark gebremst werden müsste.
Die Oppositionsparteien SPD, Linke, FDP und AfD dürften schwach bleiben, da sie sich nicht über eine gemeinsame Position verständigen können. Entstehen könnte eine gemeinsame Anti-Haltung erst dann, wenn wirtschaftliche und soziale Problemlagen die Arbeitslosigkeit deutlich steigern. Dies könnte den Handlungsspielraum einer grün-schwarzen Regierung einengen und die Gewerkschaften als außerparlamentarische Opposition neu mobilisieren. Die Grünen würden unter Druck geraten, die eigenen Mitglieder bei der Stange zu halten, vor allem diejenigen, die eine grün-rot-rote Regierung bevorzugt hätten.
Möglicherweise ist das Thema Grundsicherung, vor allem für Kinder, das zentrale Thema, das möglichst früh auf den Weg gebracht werden müsste. Eine Grundsicherung könnte als Nebeneffekt erwartbare Kostensteigerungen durch mehr Klimaschutz und Schutz der Artenvielfalt, durch Verkehrs- und Energiewende abfedern. Hartz IV würde seine Bedeutung als Kampfbegriff verlieren. Auf jeden Fall dürfte eine grün-schwarze Regierung unpopuläre Entscheidungen leichter vermitteln können als jede andere Variante. Die Zerstrittenheit der Opposition erleichtert dies.
Gesellschaftliche Mehrheiten schaffen
Antonio Gramsci unterschied zwischen politischen und gesellschaftlichen Mehrheiten. Diese Annahme lässt sich an der Entwicklung der CDU belegen, denn diese war und ist irgendwie auch immer die Zielgruppe fortschrittlicher Politik. Wenn es gelang, in der CDU Mehrheiten zu organisieren, waren auch die gesellschaftlichen Mehrheiten erreicht. Beispiele der vergangenen zehn Jahre sind die Konsense über die Einführung eines Mindestlohns, die Abschaltung der Kernkraftwerke, die Aussetzung der Wehrpflicht, die Einführung von Ganztagsschulen oder auch die Ehe für alle, alles natürlich nur möglich aufgrund eines langen hartnäckig durchgehaltenen Vorlaufs. Beim Kohleausstieg zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab, zumal Markus Söder neuerdings einen Ausstieg für 2030 einfordert, eine Forderung der Grünen aus dem letzten Bundestagswahlkampf.
Die CDU geriet in ihrer Geschichte ständig unter Druck von links. Gab sie diesem Druck nach, konnte sie sich internen Debatten zum Trotz stabilisieren. Die heutige CDU ist eine völlig andere Partei als die CDU der 1960er oder 1970er Jahre. Aus der von Helmut Kohl 1982 angekündigten „geistig-moralischen Wende“ wurde nichts, weil sich die gesellschaftlichen Mehrheiten verändert hatten und weil sich die damalige CDU-Führung über den Grund ihrer Wahlerfolge täuschte. Gab sie jedoch Druck von rechts nach – wie zuletzt bei der Zuwanderung – folgte Destabilisierung. Der Erfolg der AfD hat viel mit dieser Fehleinschätzung zu tun. Das Ergebnis der Europawahl 2019 in Bayern ist wiederum ein guter Beleg dafür, dass es auch anders geht, wenn der eigene Irrtum erkannt wurde und Partei und Spitzenkandidat gemäßigt auftreten.
Mehr Beteiligung der Bürger*innen – von Anfang an
Eine Gelingensbedingung für die Stabilität jeder zukünftigen Regierung ist ihr Verhältnis zu außerparlamentarischen Kampagnen. Der Erfolg der Grünen bei der Europawahl 2019 wäre ohne Fridays for Future nicht denkbar. Der Erfolg dieser Kampagne erinnert ein wenig an den Erfolg der Friedensbewegung in den 1980er Jahren. Zunächst stürzte zwar die damalige sozialliberale Koalition, doch führte dies auch zur steigenden Attraktivität der Grünen im deutschen Parteiensystem.
Das, was vorher anderen Kampagnen nicht gelang, Attac, Occupy und Pulse of Europe, gelang Greta und ihren Mitstreiter*innen. Sie beeinflussten das politische Klima in Deutschland und in vielen anderen Ländern. Die Kampagne „Fridays for Future“ vermittelt eine für viele Menschen und Bevölkerungsgruppen zustimmungsfähige Zukunftsvision: eine Art „Mehr Ökologie wagen!“ Das hat eine andere Dimension als ein Anti-Hartz-IV-Protest, der die bürgerlichen Milieus nie erreichen konnte.
Eine Erfolgsbedingung einer grün geführten Regierung ist es, laufende und zukünftige Kampagnen, z.B. zu sozialen Themen wie Wohnen und Grundsicherung, einzubinden, ohne sie zu vereinnahmen. Dazu müssen partizipative Politikmodelle genutzt und weiterentwickelt werden. Plebiszitäre Elemente dürften hingegen seit dem Brexit kaum noch attraktiv sein. Ebenso wenig attraktiv sind die ewigen Expert*innenkommissionen und Ethikbeiräte. Es muss sie geben, aber sie schaffen keine Partizipationskultur.
Wirksam wären eher Modelle wie die von Peter C. Dienel entwickelte „Planungszelle“. Per Zufall werden 25 Bürger*innen ausgewählt, die Vorschläge für die Lösung eines Problems entwickeln. Diese Bürger*innen erhalten Zugang zu allen Fakten und Daten, die sie für die Erfüllung ihrer Aufgabe brauchen, beispielsweise über den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages und die Bundesregierung. Das Instrument der „Planungszelle“ könnte man durchaus erweitern, indem man zu einem bestimmten Thema bundesweit 25 Zellen mit jeweils 25 Personen beauftragt, die dann jeweils zwei Sprecher*innen bestimmen, die in einer zweiten Runde den abschließenden Vorschlag erarbeiten.
Bei einem solchen Verfahren arbeiten dann beispielsweise eine Aktivistin aus dem Hambacher Wald mit einem IGBCE-Betriebsrat oder jemand, der sich in einer Flüchtlingsinitiative engagiert, mit jemandem, der sich gegen jede Zuwanderung ausspricht, zusammen. Dass dieses Verfahren funktioniert, belegt aktuell das Beispiel Irland: Dort wurde z.B. die „Ehe für alle“ durch ein solches Verfahren durchgesetzt.
Es wäre sogar denkbar, ein solches Verfahren auch für Haushaltsplanungen oder für außenpolitische Entscheidungen zu nutzen, dann aber in Form einer Art ständiger Planungszelle mit regelmäßig wechselndem Personal. Internetangebote wie der in mehreren Kommunen erprobte Bürgerhaushalt reichen nicht aus. Erforderlich ist die persönliche Begegnung von Menschen, die unterschiedliche oder sich zum Teil sogar gegenseitig ausschließende Positionen vertreten.
Um solche Beteiligungsprozesse in der Bevölkerung wahrnehmbar zu machen, braucht es eine intensive durch die Bundesregierung begleitete Öffentlichkeitsarbeit. Eine solche Begleitung schützt vor den üblichen reflexartigen Reaktionen auf welchen Vorschlag auch immer. Ein Politikstil nach dem Motto „Vorschlag gemacht, sofortige Zurückweisung, Streit in der Talkshow, nächstes Thema“ muss der Vergangenheit angehören. Vor allem wird klarer, dass Aushandlungs- und Entwicklungsprozesse, wie sie eine Demokratie auszeichnen, Zeit brauchen.
Von der Aufbruchstimmung zum „Willy wählen“
Wenn es den Grünen gelingt, die aktuelle Situation auf der Straße (Fridays for Future, Ende Gelände, Mietpreise, Lebensmittelerzeugung) in Stimmen umzumünzen, sind sie unschlagbar. Denn keine andere Partei steht so auf der Seite dieser Forderungen.
Einer grün geführten Bundesregierung könnte es gelingen, Aufbruchstimmung, Zuversicht und Vertrauen zu vermitteln. Aufbruchstimmung gab es bei den Regierungswechseln 1982, 1998 und 2005 nicht. Sie gab es in Deutschland im Grunde nur zwei Mal, 1969 mit Willy Brandts Satz „Mehr Demokratie wagen“ und 1990 mit Helmut Kohls Versprechen „blühender Landschaften“. Willy Brandts Ziele erfüllten sich weitgehend, auch die von Helmut Kohl verkündeten Ziele, obwohl viele das Gegenteil behaupten.
Für die Zukunft ist es unabdingbar, den Bürger*innen die Chance zu geben, selbst erfolgreich zur Lösung anstehender Probleme beizutragen. Gelingt dies kann dies die Stabilität einer Regierung und die Akzeptanz auch für die sich aus der Natur der Sache ergebenden (Selbst-)Korrekturen deutlich erhöhen. Der Vertrauensvorschuss, den das aktuelle grüne Spitzenpersonal genießt, könnte dann zu einer Vertrauensbasis werden, die auch unpopuläre Entscheidungen erleichtert.
Ein weiterer Faktor für den Erfolg einer grün geführten Bundesregierung ist die Vermittlung eines gesamtgesellschaftlich wirkenden Konzepts. Klimaschutz eignet sich als langfristig wirkendes Thema erheblich besser als das Thema Atomkraft, das nach Fukushima „abgeräumt“ wurde. Wenn es gelingt, das Thema Klimaschutz mit Themen wie Grundsicherung, Mobilität und Wohnen, das Thema Artenschutz mit dem Thema gesunder Ernährung und ökologischer Landwirtschaft so zu verbinden, dass die Bürger*innen sich an der Konzeption und nicht nur an der Umsetzung beteiligen können und ihren eigenen Vorteil spüren, kann diese Vertrauensbasis entstehen. Der berüchtigte Satz „Wir schaffen das“ erhielte eine völlig andere Bedeutung. Aber vielleicht gibt es auch ein anderes eingängiges Motto. Und bei einer anstehenden Wiederwahl geht es um ein neues „Willy wählen“, mit anderem Vornamen.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2019, Internetlink wurde am 22. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)