Auf dem Weg zur Normalität?

Sylvia Löhrmann und Andrei Kovacs über das Festjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ – eine Bilanz

„Was ich mir als jüdische Frau, die in Deutschland lebt, wünsche, ist Normalität. Aber die ist illusorisch, und das weiß ich. Das bedeutet nicht, dass ich nicht ganz vieles wunderbar finde an meinem Leben in Berlin und ich treffe auch immer wieder ganz großartige Leute, die sich sehr wohl ihrer Geschichte gestellt haben. Ich habe viel Respekt davor. (….) “ (Sharon Ryba-Kahn, in: Andrea von Treuenfeld, Jüdisch jetzt! Junge Jüdinnen und Juden über ihr Leben in Deutschland, Gütersloher Verlagshaus 2023)

Sharon Ryba-Kahn spricht in ihrem Film „Displaced“ mit jüdischen und nicht-jüdischen Menschen in Deutschland über das Thema, das sie und andere Jüdinnen und Juden nicht loslässt. Als sie diesen Film drehte, war das Festjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ allenfalls ein Gedanke, nicht mehr und nicht weniger, aber alles, was im Jahr 2021 im Rahmen und außerhalb des Rahmens dieses Festjahres geschah, war vielleicht eine Vielfalt kleiner Schritte zu der „Normalität“, von der Sharon Ryba-Kahn träumt, die sie aber „für illusorisch“ hält. Aber was heißt das, Jüdischsein in Deutschland, in dem Land des größten Menschheitsverbrechens, das aber auch das Land ist, in dem viele Jüdinnen*Juden wieder eine Heimat gefunden haben, sodass sich deutsches und migrantisches Judentum ineinander verwoben. Und was war das eigentlich für ein Jahr, das so voller Hoffnung ein „Festjahr“ genannt wurde? Was war der Anlass, was das Ergebnis und welche Perspektiven dürfen wir aus diesem Jahr in die Zukunft mitnehmen, stets im Bewusstsein der Vergangenheit?

Im Jahr 321 erließ der damalige römische Kaiser Konstantin ein Edikt, das die Präsenz von Jüdinnen und Juden in der Stadt Köln dokumentierte. Das Edikt sah vor, dass von nun an auch Juden – von Jüdinnen war damals nicht die Rede – zur Finanzierung des städtischen Haushalts herangezogen werden können. Juden und Jüdinnen müssen somit schon längere Zeit im Rheinland gelebt haben. Die Existenz des Edikts führte dazu, dass mehrere Initiatoren, darunter der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers und der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland Abraham Lehrer anregten, im Jahr 2021 ein Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ auszugestalten. Die Idee fand Anklang, zur Umsetzung wurde ein Verein gegründet. Staatsministerin a.D. Sylvia Löhrmann übernahm die Rolle der Generalsekretärin, Andrei Kovacs die des Geschäftsführers. Am 21. Februar 2021 wurde das Festjahr in der Kölner Synagoge in der Roonstraße feierlich eröffnet. Die Finissage fand am 24. Juni 2022 im Jüdischen Museum Berlin statt. Den Löwenanteil der Finanzierung in Höhe von zu Beginn 25 Millionen EUR stellte die Bundesregierung zur Verfügung. Diese Mittel wurden vorwiegend in Projekte investiert. Die Nachfrage war enorm. Eine Fülle von Projekten und Veranstaltungen dokumentierten das hohe Interesse. Sie sind nach wie vor verfügbar. Folgeaktivitäten gibt es inzwischen auch auf europäischer Ebene.

Es wurde ein Entdeckungsjahr

Norbert Reichel: Bei unserer Bilanz des Festjahres beginnen wir vielleicht am besten mit einer Beschreibung eurer Aufgaben.

Sylvia Löhrmann, Generalsekretärin des Vereins 321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.“ Foto: Stephan Röhl

Sylvia Löhrmann: Professor Rüttgers hatte mich als einer der Initiatoren und Vorsitzender des Kuratoriums bereits für die Mitarbeit im Kuratorium gewonnen. Dr. Schreiber, ein weiterer Vereinsgründer und Vorsitzender des Vereins, fragte mich dann, ob ich die Funktion der Generalsekretärin übernehmen würde. Mit dem Thema hatte ich mich in meinen verschiedenen politischen Funktionen immer wieder beschäftigt und habe daher, allerdings nicht wissend, was genau auf mich zukäme, zugesagt. Ein solches Festjahr hatte es bisher in Deutschland nicht gegeben. Meine Aufgabe habe ich insbesondere darin gesehen, zu vernetzen, zu unterstützen und die Institutionen im öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich, die ich kenne, für das Thema zu gewinnen. Ich kam im Februar 2020 zum damaligen Mini-Team hinzu.

Andrei Kovacs: Damals gab es die Vereinsgremien, das Förderkonzept, es gab Förderzusagen der Stadt, des Landes und des Bundes, Stellen, die besetzt werden konnten und auch erste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und es fanden bereits zahlreiche Meetings mit den wichtigsten Stakeholdern statt, zum Beispiel dem Zentralrat der Juden in Deutschland, den Kirchen, der Volkshochschule. Die Arbeit konnte beginnen.

Sylvia Löhrmann: Es gab Haushaltstitel und es sollte Projektanträge geben, aber dafür musste ja auch geworben und über die Projektanträge entschieden werden. Dafür wurde eine unabhängige Jury eingerichtet, mit relevanten „stake-holdern“ aus Kultur und Gesellschaft, die die abschließenden Entscheidungen des Vorstands maßgeblich vorbereitet hat. Das gesamte Verfahren hat mir große Freude gemacht. Es wurden viele Projekte eingereicht, gefördert und umgesetzt, sodass man konkret sehen konnte, was aus der Idee geworden ist. Ich fand die Aufgabe so besonders, weil eine erweiterte Perspektive zum Thema Erinnerungsarbeit entstanden ist. Und mir war wichtig herauszustellen, dass das Judentum für Deutschland konstitutiv ist.

Andrei Kovacs, Foto: privat

Andrei Kovacs: Als der Vereinsvorstand, Prof. Rüttgers und Abraham Lehrer mir im Sommer 2019 anboten, als leitender Geschäftsführer die Verantwortung für den Verein und die Geschäftsstelle zu übernehmen, hatte ich meine Firma gerade verkauft und über neue Herausforderungen nachgedacht. Ich komme aus der Jüdischen Gemeinde Köln, bin selbst Jude. Als Unternehmer und Musiker hatte ich aber außerhalb meines privaten Umfelds mit dem Thema „Jüdisches Leben in Deutschland“ zunächst kaum Berührungspunkte. Meine erste Aufgabe war es im Jahr 2019, den Projektantrag auszuarbeiten und das Konzept zu erweitern. Gemeinsam mit dem damals noch sehr kleinen Team planten wir Veranstaltungen und bauten eine IT-Plattform, um sie bereits früh potentiellen Projektpartnern zur Verfügung zu stellen. Wir wussten bereits damals, dass wir zahlreiche Projekte darüber abwickeln würden und hatten nur wenig Zeit. Vergleichbare Festjahre haben einen wesentlich längeren Vorlauf. Dann machten uns der brutale Mordanschlag in Halle am 9. Oktober 2019 und später die Corona-Pandemie die Arbeit schwer. In diesem Umfeld mussten wir Partner finden und begeistern. Das war nicht einfach.

Norbert Reichel: Diese Situation zu Beginn des Festjahres zeigt vielleicht auch das gesamte Dilemma rund um das Thema Jüdischsein in Deutschland. Ich habe mit Anastassia Pletoukhina, der Vorsitzenden des Trägervereins des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks gesprochen, die während des Anschlags in der Synagoge war und anschließend mit Rebecca Blady das Festival of Resilience gründete, das seit Oktober 2020 jährlich stattfindet. Halle war in der Tat ein Einschnitt. Das große Problem: Wir diskutieren endlich offen und offensiv über Antisemitismus, in Bund und Ländern gibt es Antisemitismusbeauftragte. Der Haken an der Sache ist jedoch, dass immer, wenn wir über jüdisches Leben sprechen wollen, wir direkt beim Thema Antisemitismus sind und oft genug nur noch darüber sprechen, sprechen müssen. Wir reden entweder über die Shoah oder wir reden über Antisemitismus. Dem sollte das Festjahr – wenn ich es richtig verstanden habe – etwas entgegensetzen. Ist das gelungen?

Andrei Kovacs: Ich hoffe, dass wir mit dem Festjahr viel erreichen konnten. Wir haben viele Beiträge gestaltet und gefördert, die real-existierendes jüdisches Leben in Deutschland in den Vordergrund stellte. Die Förderrichtlinien und Qualitätskriterien für die Auswahl der Projekte wurden so ausgestaltet, dass die Sichtbarmachung der Vielfalt und die Perspektiven jüdischer Menschen im Vordergrund stand. Nicht ausschließlich die Shoah, Progrome und der Antisemitismus. Natürlich ist und bleibt die Shoah ein ganz wichtiger Bestandteil jüdischen Lebens heute, auch des deutsch-jüdischen Verhältnisses.

Wir haben versucht, Neugierde, Empathie und Respekt für jüdische Menschen zu fördern. Das sind meiner Meinung nach wichtige Bausteine, um Verschwörungsmythen aus Vergangenheit und Gegenwart entgegenzutreten und den Antisemitismus zu bekämpfen.

Sylvia Löhrmann: Eine Erweiterung: Du hast es eben richtig beschrieben, Norbert, es ging um den Anteil jüdischer Kultur an der Entwicklung der deutschen Gesellschaft, über die Zeit der Shoah und des Dritten Reiches hinaus. Damit sollte auch ein Betrag gegen den Antisemitismus geleistet werden, dem den Boden zu entziehen und die Vielfalt heutigen jüdischen Lebens zu zeigen, weil es heute doch so viele Perspektiven und Ausprägungen jüdischen Lebens gibt. Ich erinnere an diverse Berichte in Zeitschriften und Medien, in denen ein orthodoxes Judentum gezeigt wird, das es natürlich auch gibt, das aber eben – wie in anderen Religionen auch – nur ein Teil, ein kleiner Teil jüdischen Lebens ist. Vielfalt prägt das Judentum. Das zeigen beispielsweise die Jewversity-Videos von Jan Feldmann, in denen in jeweils 15 Sekunden Jüdinnen und Juden auf den Punkt bringen, was Jüdisch-sein für sie heißt. Die Projektreihe Mentsh, u.a. mit den online Koch-Shows, die Podcasts mit vielen, vielen verschiedenen Jüdinnen und Juden, die digitalen Bildungsimpulse – all dies ist heute noch im Netz verfügbar. Darüber wurde vielen Menschen, auch vielen Kulturschaffenden, klar, welche Vielfalt es gibt, etwas, das vielen vorher eben nicht klar war. Das kann man auch niemandem vorwerfen, weil es bisher so nicht gezeigt wurde.

Das Jahr wurde für viele ein Entdeckungsjahr. Es sollte bewusst kein Trauer- oder ein weiteres Gedenkjahr werden. Das ist der große qualitative Schritt, der gegangen wurde und der uns auch so vom Zentralrat der Juden, von seinem Vorsitzenden Josef Schuster, so bestätigt wurde. Das konnte man so nicht erwarten, das konnten wir auch nicht wissen, weil wir nicht wussten, wie springt die Zivilgesellschaft an, wie reagieren die Medien. Wir hatten sehr viele Bündnispartner. Schon genannt wurden die Antisemitismusbeauftragten, die in ihren Titeln oft auch als Beauftragte für jüdisches Leben bezeichnet werden, die bewusst diesen Akzent setzen wollen. Das ist – so glaube ich – der neue Sprung, der geschafft wurde, an den wir heute auch anknüpfen können. Zentral war für uns die jüdische Perspektive, die sich auch in vielen gemeinsamen Auftritten zeigte.

Ein Paradigmenwechsel

Jerusalem Duo. Diese und viele weitere Künstler*innen finden Sie auf der Seite https://mentshen.de.

Norbert Reichel: Mir gefällt der Begriff „Entdeckungsjahr“. Entdeckung jüdischen Lebens, Entdeckung jüdischer Perspektiven. Aber was ist jüdisches Leben, was ist jüdische Perspektive? Das klingt so einfach. Schauen wir einfach einmal auf populäre Netflix-Serien: dort haben wir „Unorthodox“, „Shtisel“ und „Rough Diamonds“. Diese Serien spielen in New York beziehungsweise Berlin, in Jerusalem, in Antwerpen, und wir sehen ausschließlich Juden in konservativ orthodoxer Kleidung, die Männer mit Pejes, die Frauen mit Sheitel – ich möchte den Begriff ultraorthodox vermeiden, da der schon wieder etwas Despektierliches antriggert, daher sage ich „konservativ orthodox“, denn nicht einmal alle orthodoxen Juden sehen so aus. Das ist ein Bild, dem vielleicht ein oder zwei Prozent aller Juden und Jüdinnen entsprechen und schon denken viele, alle Juden und Jüdinnen sähen so aus.

Andrei Kovacs: Ich möchte dem noch einen Aspekt hinzufügen: es war auch ein Begegnungsjahr. Es war ein Entdeckungsjahr nicht-jüdische Menschen sollten Jüdinnen und Juden begegnen. Mit dem Begriff Entdeckungsjahr verbinde ich vor allem Selbstreflexion. Wir befinden uns zurzeit in einem Paradigmen- und Generationswechsel. Die Shoah-Überlebenden versterben leider, diejenigen, die uns als Zeitzeugen noch berichten können, sind hochbetagt, oft über 90, einige sogar über 100 Jahre alt. Die Erinnerung wird zur Geschichte, der emotionale Bezug schwindet. Meine Kinder sind ihren Urgroßeltern, die deportiert wurden, nie persönlich begegnet. Gerade junge Jüdinnen und Juden befinden sich in einer Phase, in der sie ihr Jüdischsein neu definieren und verhandeln. Das spiegelt sich in den aktuellen Diskursen in der jüdischen Community wider. Mit unseren Podcasts haben wir versucht, verschiedene jüdische Identitäten und Wege des Jüdischseins zu zeigen und zu diskutieren. Die Beiträge sind online weiterhin zugänglich.

Weitere Projekte wie dieses finden Sie auf der Seite https://mentshen.de.

Außerdem haben wir versucht, die Hemmschwelle vor dem Thema zu nehmen und niedrigschwellige Zugänge zu schaffen. Beispielsweise produzierten wir elf Puppentheater, die jüdische Feiertage – vielleicht nicht immer hundertprozentig korrekt, aber auf eine ansprechende und unterhaltsame Weise – darstellen. Sowohl jüdische als auch nicht-jüdische Menschen scheinen oft Angst davor zu haben, sich dem Judentum entspannt zu nähern, weil die Verantwortung im Schatten der Shoah schwer wiegt und Jüdinnen und Juden oft Angst haben, mit Niedrigschwelligkeit ein weiteres Erstarken des Antisemitismus zu fördern. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass wir nur durch solch niedrigschwellige Angebote viele Menschen erreichen können. 

Sylvia Löhrmann: Ich finde es schön, dass Sie von einem „Begegnungsjahr“ sprechen. Es ist trotz Pandemie zu viel mehr Begegnung und Auseinandersetzungen gekommen. Viele Jüdinnen und Juden haben mir gesagt, es wäre auch unter ihnen zu viel mehr Begegnung als vorher gekommen. Auch das fand ich interessant. Natürlich wäre der große Erfolg und die mediale Resonanz nicht möglich gewesen, wenn nicht der Bundespräsident, die jüdischen Gemeinden, die Kirchen, die beiden Rabbinerkonferenzen, die Städte und Gemeinden, Katharina von Schnurbein in ihrem Amt als Koordinatorin der EU-Kommission zur Bekämpfung des Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens nicht so unterstützt hätten. Es wurde im Übrigen auch ein Konzept für die EU erarbeitet und verabschiedet. Dazu kommen die vielen zivilgesellschaftlichen Akteure. Wir hatten etwa 2.400 registrierte Veranstaltungen, viele davon, die auch ohne öffentliche Mittel entstanden sind. Es ist einfach beeindruckend, dass so viel entstanden ist, dass das so gezündet hat. Die Zeit war einfach reif, es war – wie es so heißt – eine Idee, deren Zeit gekommen war.

Andrei Kovacs: Vielleicht darf ich an dieser Stelle meine persönliche Meinung hierzu äußern: Das Festjahr war die vielleichtgrößte Werbekampagne der deutschen Nachkriegsgesellschaft für jüdisches Leben. Wir haben versucht, niedrigschwellig viele Menschen zu erreichen und Kooperationspartner einzubinden. Es haben sich zahlreiche Institutionen mit über 46 unabhängige Online-Themenseiten mit Audio- und Visuellen Inhalten beteiligt, Auch das Auswärtige Amt konnte mit Veranstaltungen in über 23 Länder ein internationales Publikum erreichen. Ich habe mich selbst an Aktivitäten in Rumänien beteiligt. Es war das erste Mal, dass die Shoah Eingang in rumänische Schulbücher gefunden hat. Vielleicht haben wir mit dem Festjahr ein Impuls dafür setzen können. Das sind schon Dinge, auf die wir stolz sein können.

Allerdings gab es auch Kritik, dass wir nicht alle jüdischen Perspektiven dargestellt hätten, sondern nur Menschen, die bereits in der Öffentlichkeit sichtbar waren. Außerdem wurde uns einige Male vorgeworfen, wir hätten mit dem Festjahr – das ist jetzt ein neuer Begriff –, „gojnormative“ Perspektiven gefördert.

Bei aller Kritik – eine neue Sichtbarkeit

Norbert Reichel: „Gojnormativität“ ist der Titel eines Buches von Judith Coffey und Vivien Laumann, das 2021 im Verbrecher Verlag erschien. Das Buch ist auch Gegenstand meines Essays „Strategiewechsel“.

Andrei Kovacs: Die Kritik ist legitim, aber ich denke, es ist uns doch gelungen, gemeinsam unterschiedliche Perspektiven darzustellen. Es ist nun mal nur möglich, den Antisemitismus gemeinsam zu bekämpfen. Nur etwa 0,2 Prozent der deutschen Bevölkerung sind jüdisch. Es gibt vielleicht noch einige mehr, die sich als jüdisch bezeichnen. Jüdisches Leben, jüdische Vielfalt sichtbar zu machen – das ist eine große Herausforderung, wenn kaum jüdische Menschen existieren, die sich dazu äußern können. Als Juden sind wir immer auf die Hilfe nicht-jüdischer Menschen angewiesen, denn es ist nun einmal so, dass diese die Mehrheitsgesellschaft sind. Ich habe erfahren dürfen, dass viele jüdischen Institutionen dankbar dafür sind, dass wir vielleicht das erste Mal in dieser Größe dieses Riesenthema Antisemitismus und Verschwörungsmythen haben sichtbar machen können, jüdische und nicht-jüdische Institutionen und Organisationen gemeinsam. Das war ein neuer Ansatz.

Norbert Reichel: Vielleicht passt hier der kurze Film „Masel Tov Cocktail“ von Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch, der zwar unabhängig vom Festjahr entstanden ist, aber zwei Dinge gut zeigt. Einerseits zeigt er, dass die große Mehrheit der Jüdinnen und Juden in Deutschland entweder selbst aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion eingewandert ist oder Kinder von Eingewanderten sind, die aber oft kaum oder gar nicht von der Shoah betroffen waren, wohl aber die Geschichte als Befreier im Großen Vaterländischen Krieg in ihrer Erinnerung pflegen. Dima, die Hauptperson, kann mit der Shoah nicht so viel anfangen. Das zweite ist die engagierte sehr wohlmeinende Lehrerin, die – ich sage es mal ganz vorsichtig – sich ihm gegenüber maternalistisch behütend verhält, übrigens auch gegenüber dem Jungen, der nachher als Strafe und Erziehungsmaßnahme ziemlich missmutig gestimmt die Stolpersteine putzen muss. Der Film zeigt eigentlich sehr treffend, wie alles schieflaufen kann. Ich kenne die Kritik gerade von jüngeren Jüdinnen und Juden an Begegnungspädagogik, die man meines Erachtens auch ernst nehmen muss.

Andrei Kovacs: Das Thema Verständnis und Einbeziehung jüdischer Menschen in der Darstellung jüdischen Lebens wurde selbst innerhalb unserer Vereinsgremien immer wieder emotional diskutiert. Wenn wir ein Symposium über Frauenrechte vorbereiten würden, käme niemand auf die Idee, ein solches Symposium zu veranstalten, ohne Frauen mit einzubeziehen. Es werden meiner Meinung nach zu viele Veranstaltungen organisiert, in denen über jüdisches Leben, über jüdische Identität, jüdische Religion oder jüdische Traditionen gesprochen wird, ohne dass jüdische Perspektiven eingebettet werden. Es werden einfach keine Jüdinnen oder Juden eingeladen. Das ist für mich ein Zeichen für fehlenden Respekt und Empathie. Heute kommen etwa 95 Prozent der Jüdinnen und Juden in Deutschland aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Das ist eine neue Realität, die wir berücksichtigen müssen.

Das deutsch-jüdische Verhältnis muss sich entkrampfen. Dabei dürfen die Vergangenheit natürlich nicht vergessen, niemand darf sich aus der Verantwortung stehlen. Das größte und brutalste Verbrechen der Menschheitsgeschichte, die Schoa, darf sich nie wiederholen, nicht in Deutschland, nicht in Europa, in keinem Land.

Sylvia Löhrmann: Ich glaube, ein Strang der Kritik war auch, dass manche, die in der Vorbereitung nicht dabei waren, die Sorge hatten, das Festjahr wäre eine Verlängerung der Gedenkkultur, ein weiteres Gedenkjahr. Dieses Gedenken muss es weiterhin geben, es darf keinen Schlussstrich geben, dafür habe ich immer gekämpft, aber es sollte eben kein weiteres Gedenkjahr geben. Um den Begriff „Festjahr“ gab es intensive Debatten. In Deutschland gibt es nichts zu feiern, also kein Jubeljahr, „Festjahr“ trifft es auch nicht unbedingt, es wurde zu einem Begegnungs- und Entdeckungsjahr. So ist das Ergebnis besser geworden, als der Begriff vermuten ließ, auch in der Vielfalt und in der großen Breite der Beteiligung. Es sollte kein institutionelles Jahr werden, keine Kopfgeburt. Das ist gelungen! Es gab so viele Vereine, die gemerkt haben, da sollten wir mitmachen, auch wenn es keinen unmittelbaren Bezug gab, und sie waren bereit, sich unter der Dachmarke zu versammeln. Es gab (Wieder-)Eröffnungen von jüdischen Einrichtungen und vieles mehr.

Shelly Kupferberg, Foto: Stephan Röhl

Den fortschrittlichen Kräften auf beiden Seiten ist bewusst, dass wir in der deutschen Geschichte noch nicht weit genug gekommen sind, denn dann gäbe es keinen Antisemitismus mehr. Deutschland wird oft wegen seiner Erinnerungskultur gelobt, aber trotzdem gibt es Halle, trotzdem gibt es Schmierereien, antisemitische An- und Übergriffe oder Schändungen von jüdischen Friedhöfen. Ein Festjahr kann nicht den Antisemitismus von 1700 Jahren beseitigen. Aber das Bewusstsein ist gestiegen, das ist vielleicht die neue Qualität. Shelly Kupferberg, eine unserer wichtigen Weggefährtinnen, hat das aus meiner Sicht schön auf den Punkt gebracht: Es geht nicht um Normalität, die kann es angesichts der Shoah auch nicht geben, es geht um eine neue Akzeptanz und eine neue Sichtbarkeit. Am Anfang waren einige, auch in der Jury, sehr kritisch. Hinterher sagten sie, es hat sich doch gelohnt, es war gut, da mitzumachen.

Andrei Kovacs: Ich möchte gerne noch etwas hinzufügen. Den Worten von Shelly, die ich sehr respektiere, muss ich widersprechen. Ich denke, wir sollten Normalität sehr wohl anstreben. Wenn wir nicht irgendwann Normalität erreichen, werden junge Jüdinnen und Juden sich immer wieder fragen müssen, ob sie hier in Deutschland zu Hause sind. Wir müssen verhindern, dass jüdische Menschen in Deutschland und Europa als „exotisch“ betrachtet werden. Viele meiner Altersgenossen fehlt dieses Gefühl und sie haben Deutschland bereits den Rücken gekehrt und sind ausgewandert.

In diesem Zusammenhang möchte ich ein Projekt hervorheben, dass im Rahmen unseres Festjahres entstanden ist: das Fernsehformat Freitagnacht Jews mit Daniel Donskoy, das unter anderem mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. Manche behaupten, die Sendung sei extrem. Es war ein wichtiger Versuch, nach amerikanischem Vorbild aus der Gewohnheit der vergangenen Jahre auszubrechen und zu zeigen, dass sich ein neue und selbstbewusste deutsch-europäische-jüdische Selbstverständlichkeit entwickelt. Dieser Entwicklung sollte man Raum geben und sie zulassen. Hier geht es nicht um Toleranz, wie es so oft heißt, hier es geht um Respekt für unsere gemeinsame, plurale Gesellschaft. Juden und Jüdinnen sind keine Mitbürger*innen, wir sind Bürger*innen und Teil der deutsch-europäischen Gesellschaft.

Ein neues Selbstbewusstsein

Norbert Reichel: Olga Rosow, die Leiterin der Sozialabteilung in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, sagte mir, dass das Festjahr bewirkt habe, dass viele ältere Jüdinnen und Juden, die im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf leben, erst skeptisch waren, dann aber sehr positiv reagierten, weil ihnen das Jahr ein neues Selbstbewusstsein gegeben habe. Sie haben sich – wenn ich das einmal so sagen darf – selbst neu entdeckt.

Sylvia Löhrmann: Toll, da knüpfe ich gerne an. Ich nenne ein beispielhaftes Projekt, eines von vielen, aber doch ein ganz besonderes, das dies gut zeigt: Arche Musica, das jüdisch-deutsche Liederbuch von 1912, maßgeblich gestaltet von Gila Flam und Thomas Spindler. Es war ein Zufall, dieses Liederbuch zu finden, es gab ja nur noch ganz wenige Exemplare; es dann aufzubereiten und damit zu versuchen, auch eine neue musikalische Erinnerungskultur zu begründen. Es war eine israelisch-deutsche Kooperation, die inzwischen mehrfach ausgezeichnet wurde, – ein Liederbuch, das jetzt im Musikunterricht eingesetzt werden kann. Wenn Kinder und Jugendliche etwas gemeinsam machen, schon im Kindergarten, dann entzieht das diesem Schüren von der-ist-anders-, der-muss-woanders-hin jede Grundlage. Musik kann Brücken bauen, sie schafft so viel Verbindendes.

Das Liederbuch ist vielleicht auch eines der besonders in die Zukunft weisenden Projekte. Was in 100 Jahren nicht verloren ging, das wird auch in 50 Jahren nicht verloren sein. Es berührt schon sehr, es ist sehr plastisch, sehr spürbar. Es ist der wunderbare Gedanke von Martin Buber, ‚alles wirkliche Leben ist Begegnung‘. Und es gibt weitere schulische Projekte, die dem Prinzip der Selbstwirksamkeit entsprechen. Sie entsteht, wenn Kinder etwas gemeinsam machen und feststellen, dass es auf sie und ihr Verhalten ankommt. Das sie den Unterschied machen. Ich nenne ein Projekt aus dem ländlichen Raum, aus Westfalen-Lippe. Dort hat eine Gruppe der Marga-Spiegel-Sekundarschule in Werne einen Fahrradparcours zu den Orten erarbeitet, an denen sich Marga Spiegel aufhielt. Sie haben darüber nachgedacht, was es für einen Menschen heißt, der sich immer verstecken muss. Sie haben darüber nachgedacht, was es für die Menschen in den Bauerhöfen bedeutet, jemanden zu verstecken, damit es keiner merkt. Das im Vergleich zur heutigen Zeit, in der alles öffentlich wird.

Norbert Reichel: Die Geschichte der Marga Spiegel wurde auch verfilmt. Vielleicht darf ich Heinrich Böll zitieren, der einmal sagte, ein Freund sei ein Mensch, der einen auch verstecken würde.

Sylvia Löhrmann: Das Comenius Berufskolleg in Witten hat im Rahmen dieses Medienprojekts des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeindein Bochum ein Buch gestaltet, von dem die Gemeinde so begeistert war, dass sie es für jetzt ihre Bildungsarbeit einsetzt. Dadurch erfahren junge Menschen, dass sie etwas Gutes tun, etwas, das wirkt, das die Gesellschaft verändert. Das sind nachhaltige Projekte, die junge Menschen prägen.

Andrei Kovacs: Vielleicht ist ein Projekt wie das jüdisch-deutsche Liederbuch nachhaltiger als manch anderes, weil es Empathie schafft. Ich habe auch an einem solchen Schul-Event teilgenommen und war sehr beeindruckt. Es waren nicht nur das Liederbuch, das Kochen und einiges mehr. Es war die gesamte Atmosphäre. Und es wurden Jüdinnen und Juden eingeladen, um darüber zu sprechen, wie es sich anfühlt, als Jude in Deutschland zu leben.

Das Liederbuch-Projekt macht deutlich, dass Kinder und Lehrer schon damals Sehnsucht danach hatten, ihre jüdische Identität zu leben und sich gleichzeitig als deutsche zu fühlen. Darauf deutet auch die Notation der Lieder hin: deutsche Lieder wurden von rechts nach links notiert. Das ist musikhistorisch sehr außergewöhnlich. Das Projekt hat gleichzeitig einen warnenden Charakter für uns heute: bei all der Sehnsucht nach Normalität schwebte das Damoklesschwert des Antisemitismus, des Rassismus, der Menschenfeindlichkeit über den Menschen. Wie schnell Ausgrenzung, Mord und Totschlag zur Staatsdoktrin werden können, das hat die Geschichte gezeigt.

Eine Emanzipationsgeschichte

Norbert Reichel: Umso wichtiger ist eine Kontextualisierung dieser Zusammenhänge. Das zeigen das Liederbuch und die genannten Schulbeispiele aus meiner Sicht exemplarisch: die Fragilität des jüdischen Lebens ist stets gegenwärtig. Vielleicht darf ich einen anderen Punkt ansprechen, der diese Fragilität bedingt. Der israelbezogene Antisemitismus ist heute eine der am meisten verbreiteten Formen des modernen Antisemitismus. War dies ein Thema?

Andrei Kovacs: Israel selbst hat in unserem Projekt keine zentrale Rolle gespielt. Das haben wir so auch vorab mit der israelischen Botschaft abgeklärt. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die deutsche Gesellschaft größtenteils noch nicht bereit ist, jüdisches Leben und Israel im Kontext offen und empathisch zu diskutieren.

Unbestreitbar ist natürlich, dass Israel eine wichtige Rolle für jüdisches Leben spielt. Jüdisches Leben in Deutschland kann ich mir nur in Kombination mit einem demokratischen israelischen Staat vorstellen. Die jüdische Religion baut auf die Sehnsucht nach einer Rückkehr ins heilige Land auf. In Synagogen richten wir uns im Gebet nach Jerusalem, der Pessach-Seder endet mit den Worten „Nächstes Jahr in Jerusalem“. Israel ist zentral für das Judentum. Somit ist eine emotionale Bindung zu Israel für die meisten jüdischen Menschen selbstverständlich.

Antisemitismus könnte man mit einem Virus vergleichen. Ein Virus sucht sich seine Wege und mutiert. Verschwörungsmythen mutieren. Der moderne Weg des Judenhass ist der „Israelbezogene Antisemitismus“. Es ist zwar legitim, die israelische Regierung zu kritisieren, gerade in der heutigen Zeit, doch wird damit Israel oft das Existenzrecht abgestritten, oder Kritik an der Politik als Plattform für Antisemitismus genutzt. Dazu kommen Vereinigungen wie die BDS. Das geht zu weit. Durch das Ausklammern des Themas Israel und „Israelbezogener Antisemitismus“ haben wir es uns natürlich etwas leicht gemacht.

Sylvia Löhrmann: Es ging um jüdisches Leben in Deutschland, vor dem Hintergrund des Edikts von 321, das belegt, wie lange jüdisches Leben in Deutschland dazugehört. Es ging im Festjahr nicht darum, darüber nachzudenken, was heute an der israelischen, deutschen, amerikanischen oder polnischen oder ungarischen Politik gut oder schlecht ist. Es gab auch keine Versuche, das Festjahr dafür zu instrumentalisieren. Ich hatte diesbezüglich an keiner Stelle ein Störgefühl. Die israelische Botschaft war involviert, beide Botschafter, sie haben das Festjahr mit beflügelt, es gab keinen Versuch von Aggressivität, in keinem einzigen Projekt. Wir haben uns natürlich immer gefragt, was kann möglicherweise passieren. Aber es ist nichts passiert. Das spricht vielleicht auch für unseren Ansatz.

Die Frage der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Formen des Antisemitismus spielt latent immer eine Rolle, es ist ein Kampf um die Demokratie. Das ist nicht die Aufgabe von Jüdinnen und Juden, das ist die Aufgabe der gesamten Gesellschaft, das dürfen wir nicht an Jüdinnen und Juden delegieren.

Es war daher auch wichtig, dass während des Festjahres die Kultusministerkonferenz gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden nach 2016 eine weitere Erklärung beschlossen hat, diesmal auch gemeinsam mit der Bund-Länder-Konferenz der Antisemitismusbeauftragten. Sie enthält viele Handlungsempfehlungen für die Schulen. Außerdem wurde eine Arbeitsgruppe institutionalisiert, die sich dauerhaft mit dem Thema befasst. Die Aufgabe ist gewaltig. Der Beitrag des Festjahres liegt darin, dass es jetzt für alle Handlungsempfehlungen gute Beispiele aus der Praxis und für die Praxis gibt, die zeigen, was geht und dass es geht. Niemand kann mehr sagen, es geht nicht.

Mit so schönen Beispielen, wie wir sie eben vorgestellt haben, schließt sich der Kreis. Damit haben wir eine Chance, Verschwörungserzählungen den Boden zu entziehen. Das ist eine Daueraufgabe, und wir müssen dafür werben, dass die Leute den langen Atem haben, da dranzubleiben.

Sukka XXL – den Wettbewerb gewann das Waldgymnasium Berlin

Andrei Kovacs: In den letzten Jahren wurde viel in die Bekämpfung des Antisemitismus investiert. Betrachtet man aktuelle Statistiken – und das ist das Erschreckende – muss man sich die Frage stellen, ob bei all den Bemühungen der letzten Jahren nicht zu wenig erreicht wurde. Was sollen wir also tun? Deshalb sollte mit dem Festjahr ein neuer Versuch gewagt werden, nämlich Antisemitismus mit positiven Botschaften zu bekämpfen. Ich möchte hier gerne ein Eigenprojekt des Vereins als Beispiel nennen: Sukkot XXL.

Wir wollten exemplarisch einen Feiertag darstellen und erlebbar machen. Es gab Ängste von jüdischer wie von nicht-jüdischer Seite. Von jüdischer Seite wurde vorgebracht, wir mögen darauf achten, dass wir keinen jüdischen Feiertag populistisch missbrauchen. Sicherheitsbedenken kamen hinzu. Trotzdem haben sich viele jüdische Gemeinden beteiligt. Es gibt den Wunsch, dieses Projekt weiterzuentwickeln und zu etablieren.

Auch Vertreter:innen des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission haben den Wunsch geäußert, das Projekt auf europäischer Ebene zu erweitern. Frau Löhrmann und ich waren in Brüssel und haben das diskutiert.

Im März 2023 haben wir einen neuen Verein gegründet, der versuchen wird, die Idee des Festjahres auf europäischer Ebene zu verankern und umzusetzen. Wir denken, dass dies doch ein Zeichen für den Erfolg des Festjahres ist, zumindest hoffen wir das.

Sylvia Löhrmann: Das ist unser Appell, dass es weitergehen muss. Wir haben mit Katharina von Schnurbein gesprochen. Als sie die Strategie für die EU ausarbeitete, wurden auch zusätzliche Kriterien für bestehende Projekte und Programme entwickelt. Wenn über zukünftige Kulturhauptstädte entschieden wird, ist ein Kriterium, dass jüdisches Leben, jüdische Kultur und jüdische Geschichte in der jeweiligen Stadt dargestellt werden. Dadurch wurde es in die Förderstruktur eingewebt.

Das könnte auch für Projekte und Programme in Deutschland entwickelt werden, beispielsweise mit Mitteln der Heimat- oder Kulturministerien, wenn zum Beispiel Städte und Gemeinden ihre Stadtgeschichte aufarbeiten und sie dafür öffentliche Mittel beantragen. So geht es nicht immer um besondere Projektmittel, sondern weben die Thematik ein in bestehende Anlässe, Programme und Projekte, die ohnehin schon stattfinden oder geplant sind. Das zeigt, wie eine Systematisierung auch unabhängig von einem speziellen Datum geschehen kann. Ohnehin ist das Datum 321 nur ein Anlass. Das besagte Edikt wäre nicht erlassen worden, wenn es nicht schon vorher jüdisches Leben in Köln gegeben hätte. Es war schlicht ein wunderbarer Anlass. Oder nehmen wir die SchUM-Städte, Speyer, Worms, Mainz. Diese wurden während des Festjahres Weltkulturerbe. Nicht durch das Festjahr, aber das war eine zeitgleiche Entwicklung, die doch viele Menschen anregen sollte, diese Städte zu besuchen und sich mit ihrer langen jüdischen Geschichte zu befassen.

Andrei Kovacs: Es klingt vielleicht etwas verkopft. Aber es ist unser Wunsch. Wir wollen empathisch und ehrlich miteinander umgehen. Ich glaube, wir haben schon viele Anstöße dafür geben können. Mir liegt am Herzen, dass das heutige jüdische Leben als normaler Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt wird und niemand mehr einer verklärten Vorstellung eines deutsch-jüdischen Erbes nachhängt, die der Realität nicht entspricht. Das heutige deutsche Judentum hat einen anderen, noch migrantischeren Hintergrund als früher. Die meisten Jüdinnen und Juden sind mehrsprachig aufgewachsen. In meinem Haus wurde auch nicht nur Deutsch, sondern eben auch Rumänisch und Ungarisch gesprochen. Jüdisches Leben ist nicht nur eine deutsche Angelegenheit, sondern eine europäische, eine multikulturelle. Jüdisches Leben in Deutschland hat nur eine Zukunft, wenn wir alle europäisch denken und handeln. Das ist auch die Idee des neu gegründeten Vereins.

Sylvia Löhrmann: Unsere deutsche Gesellschaft ist heute eine Gesellschaft der Vielfalt. Das Judentum ist mit seiner Vielfalt und seiner migrantischen Fundierung ein Beispiel für die Entwicklung der deutschen Gesellschaft insgesamt. Das ist auch eine Abgrenzung zu Parteien und Gruppierungen wie der AfD, die das Judentum instrumentalisiert, um sich vom Islam abzugrenzen.

Durch das Festjahr ist noch einmal klarer geworden, dass die Geschichte des deutschen Judentums keine reine Opfergeschichte ist, sondern auch eine Emanzipationsgeschichte. Aus dem Jüdischen Museum Frankfurt betonte jemand, dass wir uns einfach die Darstellungen des Moses in der Kunst anschauen sollten. Im Judentum ist das ein kräftiger junger schwarzbärtiger Mann mit vollem Haar, der die Gesetzestafeln zeigt, während es im Christentum immer ein alter weißhaariger und weißbärtiger Mann ist. Konkret ging es um ein Bild von Moritz Daniel Oppenheim. Die Opfergeschichte dürfen wir nicht verschweigen, aber darin erschöpft sich das Judentum bei weitem nicht. Das unterstreicht Josef Schuster, das sagen auch viele junge Jüdinnen und Juden: sie wollen als Lebende und nicht nur als Überlebende wahrgenommen werden. Das ist unsere Hoffnung und für alle, die es wahrnehmen wollen, hat sich dies mit dem Festjahr bestätigt.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2023, Internetlinks zuletzt am 1. August 2023, das Titelbild zeigt den Eingang der Synagoge in Görlitz, Foto: Hans Peter Schaefer.)