Auf die Kinder kommt es an

Die Serviceagentur Ganztägig lernen in Nordrhein-Westfalen

Seit 2005 gibt es in Nordrhein-Westfalen – wie auch in anderen Bundesländern – die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ (SAG). Patin war die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) aus Berlin, die mit Unterstützung des Bundes, der Europäischen Union ein bundesweites Netzwerk aufbaute, für das sie schrittweise alle Länder gewann.

In Nordrhein-Westfalen ist die SAG seit 2007 Teil des Instituts für soziale Arbeit (ISA) , eines Trägers der freien Jugendhilfe mit Sitz in Münster, der Wissenschaft und Praxis nachhaltig miteinander verbindet und in Nordrhein-Westfalen in etwa das leistet, was auf Bundesebene das Deutsche Jugendinstitut leistet.

Das Bundesprogramm wurde 2016 beendet. Die Länder haben ihre Serviceagenturen in eigener Verantwortung weiterentwickelt. Im November 2018 hat das Land Nordrhein-Westfalen den Vertrag mit dem ISA zur SAG bis zum Jahr 2023 verlängert.

Schwerpunkte der Arbeit der SAG ist die kind- und jugendorientierte Ganztagsschule im Sinne des 15. Kinder- und Jugendberichts vom 1.2.2017 (Bundestagsdrucksache 18/11050), auch durch die Stärkung der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule.

Birgit Schröder und Hiltrud Wöhrmann leiten die SAG gemeinsam, sodass schon in den beruflichen Profilen der Leitung das Anliegen der engen Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule aufscheint. Die Internetseite der SAG bietet Hinweise auf Veranstaltungen, Publikationen (zum Download) sowie erfolgreich erprobte Beispiele aus der Praxis.

Norbert Reichel: In dem aktuellen Faltblatt zur Vorstellung eurer Arbeit lese ich: „Kind- und jugendorientierte Ganztagsbildung steht für einen Wechsel von ein institutionenzentrierten hin zu einer biographieorientierten Perspektive, die das Subjekt und seine individuellen Umwelten ins Zentrum der Betrachtung stellt.“ Geht es um einen Paradigmenwechsel oder gibt es bereits konkrete Anzeichen für diese „biographieorientierte Perspektive“?

Serviceagentur: Ja, es geht um einen Paradigmenwechsel. Eine zentrale Aufgabe in der Kooperation von Jugendhilfe und Schule ist es, nicht die jeweiligen Systemlogiken und institutionellen Brüche und Grenzen in den Vordergrund zu stellen, sondern die Rechte, Bedürfnisse und Förderbedarfe der Kinder- und Jugendlichen sowie ihre je spezifischen Lebenswelten ins Zentrum ihrer Betrachtung und gemeinsamen Planung zu rücken. Theoretisch-konzeptionell wird hiermit ein Paradigmenwechsel vollzogen. Statt an Ganztagsschule als Institution anzusetzen, soll das Konzept der Ganztagsbildung an die individuellen (Bildungs-)Biographien der Kinder und Jugendlichen anknüpfen. Aufgabe von Jugendhilfe, Schule und weiterer Akteure ist es, Ganztagsbildung so auszugestalten, dass ›objektive‹ Entwicklungsbedarfe von Kindern und Jugendlichen mit ihren persönlichen und altersspezifischen Bedürfnissen (z.B. Partizipation, Autonomie, Entspannungsphasen etc.) einhergehen. Eine solche kind- und jugendorientierte Ganztagsbildung bedarf der multiprofessionellen Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure.

Daher gilt es die Ganztagsschule als Verständigungsprozess über alle Ebenen zu gestalten. Oder wie Norbert Reichel u.a. anlässlich des Jubiläumskongresses des Instituts für soziale Arbeit formulierte: „Ganztagsschule als Lehrstück für Demokratie“.

Norbert Reichel: In der Forschung hat sich seit einigen Jahren der Begriff der Ganztagsbildung etabliert, der weit über die bisherigen Bilder von Ganztagsschule hinausgeht. Was bedeutet der Begriff für euch und welche Rolle spielt er nach euren Erfahrungen in der täglichen Arbeit der Ganztagsschulen und in Aus- und Fortbildung?

Serviceagentur: Nach unserem Verständnis umschließt Ganztagsbildung formale, non-formale und informelle Bildungsangebote auf der Basis eines weiten Bildungsbegriffs. Dies verlangt die Rhythmisierung des Schultages, die Ausgestaltung zu einem Lebens- und Erfahrungsraum für Kinder und Jugendliche. Dabei bildet das in der Fachdiskussion verwendete erweiterte Bildungsverständnis einen zentralen Referenzrahmen für Ganztagsbildung, indem unterschiedliche Lernorte und Akteure der Bildungsförderung aber auch unterschiedliche Lernsettings bzw. Lernformen zu einer gemeinsamen Perspektive von Jugendhilfe und Schule zu denken sind (vgl. Stephan Maykus 2009). In dieser Lesart ist Ganztagsbildung als theoretisch-konzeptionelle Basis für die Organisation von Bildung zu betrachten, aus der sich Konsequenzen für die Gestaltung von Bildungsförderung in der Praxis ergeben.

In der Praxis ist die übergeordnete Konzeption von Ganztagsbildung allerdings oft nur in Ansätzen in der Praxis vorhanden. Die Entwicklung einer kind- und jugendorientierten Ganztagsbildung ist eine der zentralen Zukunftsaufgaben der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ NRW. Diese Perspektive fließt in all unsere Arbeitsfelder ein.

Norbert Reichel: Von Ganztagsschulen wird viel verlangt: bessere Schulleistungen, besseres soziales Miteinander, Prävention gegen jede Form von Ausgrenzung und Gewalt und nicht zuletzt Öffnungszeiten, auf die sich Eltern verlassen können. Gleichzeitig wird immer wieder möglichst viel zeitliche wie fachliche Flexibilität verlangt, um private und ganztagsschulische Aktivitäten miteinander zu verbinden. Wie kann man diese verschiedenen Ansprüche miteinander vereinen?

Serviceagentur: Mit der Ganztagsbildung verbinden sich weitreichende Erwartungen hinsichtlich Individualisierung und Kompetenzförderung, Ausbilden sozialer Kompetenzen und das Entwickeln von Schlüsselqualifikationen in Kombination mit dem Anspruch, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern. Dieses Zusammenspiel kann unserer Meinung nach nur gelingen, wenn die pädagogischen Lehr- und Fachkräfte entsprechend qualifiziert sind und Struktur- und Prozessqualität in Form einer kontinuierlichen Schulentwicklung befördern.

Eine Ergänzung des Ganztagserlasses zur Flexibilisierung vom 16. Februar 2018 stellt klar, dass Schülerinnen und Schüler während der Zeiten des offenen Ganztags am Nachmittag auch an regelmäßigen außerschulischen Bildungsangeboten (zum Beispiel in Sportvereinen oder Musikschulen) und am herkunftssprachlichen Unterricht teilnehmen können. Ebenso ist es möglich, ehrenamtliche Tätigkeiten (zum Beispiel in Kirchen und Jugendgruppen) oder Therapien wahrzunehmen. Auch rein familiäre Ereignisse sind künftig ein Grund, von der Teilnahme am offenen Ganztag zu entbinden“. Damit gilt es, ein verträgliches Maß zwischen den Wünschen der Eltern, mehr Raum für Aktivitäten für und mit ihren Kindern zu haben und der pädagogischen Arbeit, hinsichtlich Verlässlichkeit und Kontinuität zur Wahrung der Qualität der Angebote, zu finden. Das kann nur gelingen, wenn verbindliche Absprachen im Sinne des Kindes zwischen Schulleitung, Ganztagskoordination und Eltern getroffen werden.

Norbert Reichel: Immer wieder wird beklagt, dass Kinder kaum noch Raum und Zeit hätten, ihr Wohnumfeld zu erkunden, sich in einem Verein oder in einer Jugendgruppe zu engagieren. In der Jugendforschung gibt es den Begriff der „Transportkindheit“, weil der öffentliche Raum heute alles andere als kind- und jugendgerecht ist. Straßenkindheit gehört der Vergangenheit an. Führt Ganztagsschule nicht auch dazu, dass Kinder noch weniger Zeit und Raum für eigene Aktivitäten haben?

Serviceagentur: Altersgerechte und ausreichende Ansprache der Kinder ist die Voraussetzung dafür, dass Kinder überhaupt erfolgreich lernen und sich gesund entwickeln können. Wenn Kinder und Jugendliche sich ernst genommen fühlen, Wertschätzung erfahren, es verbindliche Regeln und definierte Freiräume gibt, wenn stabile Beziehungen zu Lehr- und Fachkräften gelebt werden, wirkt sich dieses positiv auf die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder und auf ihr Sozialverhalten aus. Die Ganztagsschulen sind programmatisch angetreten für mehr Zeit, für mehr Raum für Kinder. Insofern gilt die Leitidee, mit Kindern und Jugendlichen gemeinsam Zeiten und Räume zu schaffen, die eigene Aktivitäten und Lebenserfahrungen ermöglichen. Die Frage „Wie werden Kinder und Jugendliche in die Ausgestaltung kind- und jugendorientierten Ganztags miteinbezogen?“ ist somit eine Schlüsselfrage. Das geht natürlich nur unter systematischem Einbeziehen außerschulischer Bildungsorte, systematischer Kooperation mit außerschulischen Partner*innen und die nachhaltige Öffnung in den Sozialraum, in Stadtteil und Gemeinde.

Norbert Reichel: Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker, beide lange Jahre Fachberater beim Landesjugendamt Westfalen-Lippe, heute Hochschullehrer, haben eindrucksvoll beschrieben, dass Kinder sehr genau wissen, was sie wollen. Sie gestalten ihr schulisches Umfeld nach ihren Bedürfnissen, auch wenn Lehrer*innen und Erzieher*innen, aber auch Eltern, diese nicht zu kennen oder sogar zu ignorieren scheinen. Wie könnt ihr Lehrer*innen und Erzieher*innen ermutigen, sich bei allen an sie herangetragenen Forderungen in erster Linie an den Bedürfnissen der Kinder zu orientieren?

Serviceagentur: Es gilt diesen Leitgedanken auf unseren Veranstaltungen wie z.B. Fachtagen oder Regionalen Qualitätszirkeltreffen oder Regionalkonferenzen zu kommunizieren und Beispiele guter Praxis sichtbar zu machen. Gleichzeitig entwickeln wir das Selbstevaluationsinstrument „QUIGS 3.0“ neu, indem Indikatoren einen Orientierungsrahmen darstellen, der die Lehr- und Fachkräfte in der kind- und jugendorientierten Ausrichtung der Ganztagsbildung stärken soll und kann.

Norbert Reichel: Eltern, die in der Forschung als „bildungsnah“ bezeichnet werden, wissen schon, wie sie ihre Kinder von einem Angebot zu einem anderen fahren können, damit diese möglichst nichts Anregendes verpassen. Zumindest denken sie so. Eltern, die als „bildungsfern“ bezeichnet sind, können dies nach allgemeiner Auffassung nicht. Es gibt viele Kinder, die gerade einmal ihren Stadtteil kennen, oft auch nur einige wenige Straßen. Es gibt Kinder in Vierteln Kölns oder Hamburgs, die nicht wissen, dass es in der Stadt einen Zoo gibt. Von einer Musikschule haben sie noch nie etwas gehört. Wie können Ganztagsschulen dazu beitragen, dass diese Kinder ihren „Aktionsradius“, ihre „Umwelt“ und damit auch ihre Zukunftschancen deutlich erweitern können? Und was ist mit den „bildungsnahen“ Kindern. Brauchen die überhaupt eine Ganztagsschule?

Serviceagentur: Gerade die Ganztagsbildung bietet Kindern und Jugendlichen vielfältige Chancen, ihren „Aktionsradius“ zu erweitern. Als Mandatsträger im gesellschaftlichen Auftrag teilen Jugendhilfe und Schule das gemeinsame Ziel, in einer Verantwortungsgemeinschaft mit den Eltern einen qualifizierten Beitrag für die gelungene Entwicklung und Entfaltung von Kindern und Jugendlichen und deren gelingende Bildungsbiographie zu leisten.

Dazu gehören klare Vorstellungen darüber, wie eine Verschränkung von unterrichtsbezogenem und außerunterrichtlichem Lernen sinnvoll vorgenommen werden kann. Es gilt, Selbstwirksamkeitserfahrungen für Kinder und Jugendliche über den ganzen Tag zu ermöglichen, ihre Denk- und Handlungsfähigkeit zu stärken: Entwerfen, Gestalten, Erkunden, Musizieren, Bewegen, auch Zuhören, Präsentieren, Diskutieren und Philosophieren. Selbstverständlich sein sollten auch Gespräche mit den Eltern, für die es wichtig ist zu wissen, welche Möglichkeiten ihre Kinder im Ganztag erhalten und welche neuen Erfahrungen sie dabei gewinnen.

Zudem betonen die Ergebnisse der bundesweiten StEG-Studie, dass Kinder und Jugendliche durch ein qualitativ hochwertiges Ganztagsbildungsangebot ihre sozialen Kompetenzen erhöhen. Das heißt: Individuelle Erfahrungen wirken in einem sozialen Kontext. Kinder und Jugendliche brauchen Kinder und Jugendliche. Sie erwerben in diesen gemeinsamen Zeiten mit Gleichaltrigen Fähigkeiten, die für eine spätere eigenständige Lebensführung von Bedeutung sind: Initiative, Verantwortungsübernahme, Rücksichtnahme, Toleranz, Selbsteinschätzung, Rollenzuschreibungen, Regeln und Normen u.v.m., kurz: für das Leben in unserer freiheitlichen Demokratie.

Um vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten den Kindern zukommen zu lassen, ist die systematische Kooperation der Ganztagsschule mit weiteren Partnern aus Jugendhilfe, Sport, Kultur sowie weiteren für Kinder engagierte Institutionen, auch mit Handwerksbetrieben aus dem Schul- und Wohnumfeld unerlässlich. Kinder erleben ihre Schule, gehen in die Einrichtungen ihres Sozialraums, wie z.B. die nah gelegene Schreinerei, Gärtnerei, Bücherei. Sie erkunden den Wald, den Bach, den Kartoffelacker usw.

Vor dem Hintergrund der sozialen Kontakte und der Erweiterung der Erfahrungsmöglichkeiten stellt sich nach unserer Auffassung nicht mehr die Frage „Brauchen Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern die Ganztagsschule?“. Die Ganztagsschule mit einem erweiterten Bildungsverständnis bieten eine große Chance für alle Kinder und Jugendlichen für ein gutes Aufwachsen und eine individuelle Persönlichkeitsentwicklung.

Norbert Reichel: Der deutsche Bundestag streitet immer noch darüber, ob Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollten. Was könnt ihr dazu beitragen, dass Kinderrechte in der Ganztagsschule ernst genommen werden können?

Serviceagentur: Nach 25 Jahren der weltweiten Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) sollten eigentlich alle Erwachsenen und Kinder die Kinderrechte und ihre Bedeutung kennen und sie im Alltag gemeinsam leben.

Aus unserer Sicht sind verschiedene Aspekte von Bedeutung. Zum einen stellen wir nach wie vor fest, dass es einiger fachlicher Information der Lehr- und Fachkräfte bedarf, sodass wir das Thema „Kinderrechte“ im Rahmen von Vorträgen und Fachveranstaltungen immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Gleichzeitig regen wir durch Beispiele guter Praxis den Austausch und die Transfermöglichkeiten in die Ganztagsschule an.

Norbert Reichel: Habt ihr praktische Beispiele, wie das gelingen kann?

Serviceagentur: Wenn Lehr- und pädagogische Fachkräfte in unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Projekten die Kinderrechte aufgreifen, sorgen sie für aktive politische Bildung und tragen dazu bei, einen kritischen Geist und konkretes Engagement zu fördern. Somit sollte Schule von Anfang an allen Kindern und Jugendlichen als handlungsfähigen Subjekten ermöglichen, sich aktiv an der Gestaltung ihres Lebens auf der Grundlage der Menschen- und Kinderrechte zu beteiligen. Beispielgebend in Nordrhein-Westfalen sind hierfür Kinderrechte-Schulen, in denen die Kinderrechte im Schulprogramm verankert sind und im Alltag gelebt werden. Ein sehr gutes Beispiel bieten die im buddy-Kinderrechte-Programm aktiven Schulen. Dort sind auch Beispiele aus Ganztagsschulen dokumentiert.

Norbert Reichel: Lehrkräfte, Erzieher*innen und die vielen anderen in einer modernen Ganztagsschule vertretenen Berufsgruppen haben recht unterschiedliche Vorstellungen von ihrem jeweiligen Auftrag. Benedikt Sturzenhecker hat 2007 sehr unterhaltsam zu lesende „Flirtregeln als Hilfe zur Kommunikationsgestaltung zwischen den Partnern Jugendarbeit und Schule“ formuliert. Dennoch wird immer – von beiden Seiten unterschiedlich belegt – „Augenhöhe“ in der Zusammenarbeit angemahnt. Meines Erachtens haben Ganztagsschulen viel dazu beigetragen, dass dieses gelingen kann. Aber warum hält sich die Klage der „fehlenden Augenhöhe“ so hartnäckig?

Serviceagentur: Thomas Rauschenbach hat schon 2013 das Ziel formuliert: „Bildung einer Verantwortungsgemeinschaft der beteiligten Professionen, statt autonomer Gruppen, die unter sich und in ihren Komfortzonen bleiben“.

Der Begriff „Augenhöhe“ kann aber auch missverstanden werden. Er könnte den Eindruck erwecken, dass es um gleiche Sichtweisen geht. Wir vertreten die Interpretation von Karl-Heinz Imhäuser (Montag Stiftungen), der den „Mehrwert“ in der Vielfalt der unterschiedlichen Professionen herausstellt. Dazu ist es notwendig, die eigene Rolle mit ihren Aufgabenfeldern zu kennen, Stärken zu formulieren, um dann in den professionsübergreifenden Austausch treten zu können.

In der Praxis bilden sich natürlich immer wieder und immer noch Differenzen im pädagogischen und professionellen Selbstverständnis ab und die Erwartungen divergieren, eigentlich auch sehr menschlich. Wissen über die jeweiligen Arbeitsbereiche, Kompetenzen und Handlungsfelder der innerschulischen Kooperationspartner*innen sind oftmals nicht bekannt. Hinzu kommen fehlende Kooperationszeiten und -strukturen, weniger bei den Lehrkräften, aber bei den anderen Fachkräften. Somit ist das Handlungsfeld „Kooperationsverständnis“ eine Daueraufgabe für die Ausgestaltung der multiprofessionellen Zusammenarbeit.

Norbert Reichel: Lehrkräfte müssen die Leistungen der Kinder benoten. Damit verteilen sie Zukunftschancen. Erzieher*innen, sozialpädagogische Fachkräfte und die anderen Berufsgruppen im Ganztag tun gerade dies nicht. Wie lassen sich diese unterschiedlichen Aufträge miteinander verbinden?

Serviceagentur: An erster Stelle muss die Entwicklung einer pädagogischen Lern- und Leistungskultur für die Bewertung formaler Bildung gefordert werden. Rückmeldungen über Lernprozesse und Leistungen verfolgen dabei das Ziel, jedes Kind zu stärken und der Ermutigung zum weiteren Lernen. Lerntagebücher oder Lerngespräche mit Kindern und ihren Eltern dienen dafür als Beispiel. Zur Realisierung müssen Lehrkräfte und alle pädagogisch Tätigen sich über eine kindorientierte leistungsförderliche Lernkultur verständigen

Wenn wir Ganztagsschule als ganztägige Bildungseinrichtung verstehen, die Kinder und Jugendliche auf ihre Zukunft vorbereiten will, muss sie formale, informelle und non-formale Bildungsangebote miteinander verknüpfen. Kinder und Jugendliche dafür stark machen heißt, Können, Wissen, Erfahrungen ermöglichen und sie an der Gestaltung ihrer Lebenswelt beteiligen. Notenfreie Räume in der Schule können dabei sehr hilfreich werden.

Norbert Reichel: In eurem aktuellen Arbeitsprogramm enthalten ist die Weiterentwicklung von QUIGS. Was steckt dahinter?

Serviceagentur: Das Selbstevaluationsinstrument QUIGS.2.0 ist etwas in die Jahre gekommen. Für die Weiterentwicklung der Qualität der Ganztagsbildung bedarf es jedoch einer grundlegenden konzeptionellen Überarbeitung und einer neuen Ausrichtung des Instruments.

Während die Themen für die Weiterentwicklung der Qualität in Ganztagsschulen und der Qualitätskreislauf auch heute noch Bestand haben, bedarf es hinsichtlich des Wordings, der Handhabung der Checklisten einer Aktualisierung. Gleichzeitig spielt die Nutzung Digitaler Medien eine immer wichtigere Rolle.

Unser Team erarbeitet zurzeit einen Qualitätskreislauf, den ein Video-Grundlagenreferat „Was bedeutet kind- und jugendorientierte Ganztagsbildung im Kontext der Ganztagsschule“ einleitet und in dem pädagogische Themen aus dem SAG-Orientierungsrahmen berücksichtigt werden sollen. Nach einer Ist-Stand-Analyse mittels eines Online-Tools, das eine Stärken-Schwächen Grafik ermöglicht, können ein Handlungsbedarfs priorisiert und ein Aktionsplan erstellt werden. Nach der ersten Umsetzungsphase schließen sich eine Reflexion mit Nachsteuerung oder der erneute Einstieg in den Qualitätskreislauf zu weiteren Handlungsfeldern an.

Norbert Reichel: Eltern – so heißt es – wissen am besten, was für ihre Kinder gut ist. Das kann durchaus zu Konflikten führen. Wie bereitet ihr das Personal in den Ganztagsschulen darauf vor? Welche Formen der Elternbeteiligung sind besonders erfolgreich?

Serviceagentur: Eltern müssen und wollen als Partner*innen der Ganztagsbildung ernst genommen werden. Das bedeutet, Eltern in ihrer Rolle als Erziehungs- und Bildungspartner anzuerkennen und zu stärken. Auf der institutionellen Ebene sind verlässliche Unterstützungsstrukturen hilfreich, wie zum Beispiel die in den Kindertageseinrichtungen sehr erfolgreichen Familienzentren in NRW.

Mit Blick auf die Bildungsbiographie und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen ist es beim Eintritt in neue Bildungsinstitutionen besonders wichtig, dass sie Übergänge nicht als Brüche erleben. Dazu sind gemeinsame Verantwortungsübernahme und gemeinsames Engagement aller Beteiligten erforderlich, um soziale Herkunft und Bildungserfolg zu entkoppeln. Dies ist eine ständige Aufgabe. Eltern möchten mitbestimmen und mitwirken, über die institutionellen Möglichkeiten hinaus. Wenn Eltern die Angebote mitgestalten können, steigt automatisch auch die Akzeptanz des Ganztags und die Debatten um regelmäßige Teilnahme haben schnell ein Ende.

Norbert Reichel: Kinder werden mit zunehmendem Alter immer selbstständiger. Wenn man sie lässt. Welche unterschiedlichen Bedingungen sollten Ganztagsschulen im Primarbereich und Ganztagsschulen in der Sekundarstufe I bedenken? Wie sollten sich die Konzepte unterscheiden? Oder kommt es ausschließlich auf die Verfahren an, kurz: eine möglichst gute Beteiligung der jungen Menschen an Konzeption und Umsetzung?

Serviceagentur: Jugend ist eine eigenständige Lebensphase, die z.B. durch die Suche nach Eigenständigkeit, Selbstpositionierung, Autonomie und Ablösung vom Elternhaus gekennzeichnet ist. Sie wird aber gleichzeitig auch geprägt durch Qualifizierung und den Übergang von Schule und Beruf bzw. Ausbildung oder Studium (so nachzulesen im 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung).

Bei der Ausgestaltung der Ganztagsschulen in der Sek. I ist eine grundsätzliche Verankerung der Jugendhilfe – wie im Trägermodell in der Primarstufe – leider ausgeblieben. Die außerunterrichtlichen Bildungsangebote werden hier in vielen Schulen noch vorrangig von Lehrkräften durchgeführt und somit von schulischer Seite stark geprägt. Für das Personal der außerunterrichtlichen Angebote ist es schwer, eine nachhaltige Beziehung zu den jungen Menschen aufzubauen, da sie oft nur stundenweise Angebote durchführen. Oft fehlen Kooperationspartner der Jugendhilfe, die Vernetzung in den Sozialraum usw.

Des Weiteren belegen Forschungsbefunde, beispielsweise der Bildungsberichterstattung Ganztag in Nordrhein-Westfalen , dass über den Aspekt der Partizipation hinaus Ganztagsschulen ihre Chancen und Potenziale mit Blick auf kind- und jugendorientiertes Lehren und Lernen nur unzureichend nutzen, obgleich fachtheoretische Begründungslinien gegeben sind und fachlich ausdifferenzierte Konzepte und Ansätze vorliegen. Dies auszubauen ist schließlich auch eine Fortbildungsaufgabe.

Der 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung greift dies ebenfalls auf und formuliert eine jugendorientierte und kooperative Ganztagsschulentwicklung. Er betont insbesondere, dass die Ganztagsschulen im Jugendalter ihre Stellschrauben optimieren müssen, um auch für die älteren Kinder und Jugendlichen attraktiv und bildungsfördernd zu sein. kann. Zentral ist außerdem eine stärkere Beachtung der Interessen von Jugendlichen. Insgesamt gilt es, eine Balance zwischen den Bedarfen aller Beteiligten herzustellen: Jugendliche, Eltern und pädagogische Akteure der Ganztagsschule.

Der Schlüssel ist, eine stärkere Beteiligungskultur für Kinder und Jugendliche zu entwickeln und zu verankern und Potenziale der Partizipation zu erkennen und zu nutzen. Es bedarf in besonderer Weise einer an der Lebenswelt und den altersgemäßen Entwicklungsaufgaben orientierten Gestaltung der Lern- und Lebensorte, die jungen Menschen Eigenleben, Gruppenerlebnisse, Entlastung, Kompensation und Regeneration ermöglichen.

Norbert Reichel: Ganztagsbildung unter dem Dach der Schule, in gemeinsamer Verantwortung von Schule und Jugendhilfe – das ist ein attraktives Modell. Dennoch wird immer wieder die Forderung nach einer Trennung von gebundenen und offenen Ganztagssystemen erhoben. Gebundenen Ganztagsschulen wird mehr Wirkung zugeschrieben, obwohl offene eine in der Regel höhere Akzeptanz genießen. Wie sollte nach euren Erfahrungen das Verhältnis von pflichtigen und freiwilligen Anteilen im Ganztag ausgestaltet werden?

Serviceagentur: Das Verhältnis von pflichtigen und freiwilligen Anteilen im Ganztag sollte ausgewogen und an den Leitzielen der Ganztagsbildung orientiert sein. Hierzu zwei Beispiele: Sprachliche Kompetenzen sind grundlegend für das Leben in Gemeinschaft und für gelingende Bildungsbiographien. Die Stärkung und Förderung sprachlicher Kompetenzen und Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen können daher nicht freiwillig sein.

Zum Zweiten können Selbstbestimmtheit und Bedürfnisorientierung nur umgesetzt werden, wenn Freiräume vorhanden sind. Beteiligung und Partizipation sind hierzu die Schlüssel für die Angebotsgestaltung.

Manche benutzen die Begriffe des offenen und gebundenen Ganztags nicht mehr und sprechen von einem strukturierten Ganztag, der Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Flexibilität gleichermaßen verwirklicht, dies natürlich immer in Mitwirkung der Kinder und der Eltern bei Konzeption und Ausgestaltung der Konzepte und Angebote.

Norbert Reichel: Zum Abschluss eine Frage zum Stellenwert der Serviceagentur im Profil des Instituts für soziale Arbeit. Wie hat die SAG das Profil des ISA verändert und welche Perspektiven ergeben sich für die Zukunft?

Serviceagentur: Das Institut für soziale Arbeit (ISA) e.V. in Münster arbeitet seit 1979 zu aktuellen Fragen der Kinder- und Jugendhilfe. Die Kinder- und Jugendhilfe verfügt dabei über ein breites inhaltliches und methodisches Spektrum und über spezifische Arbeitsweisen, Selbstverständnisse, Erfahrungen und Kompetenzen, die sie einbringen kann. Mit der Öffnung und Veränderung der Kinder- und Jugendhilfe entwickeln sich die Kernkompetenzen fortwährend weiter.

Die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ NRW hat seit den 2000er Jahren beim Institut für soziale Arbeit zur Bildung des Arbeitsbereichs Jugendhilfe und Schule geführt. Das Thema Bildung ist seitdem systematisch verankert. Im Rahmen verschiedener Funktionen unterstützt das Institut für soziale Arbeit e.V. mit seinen Kompetenzen und Erfahrungen die Entwicklungen im Bereich der Kooperation von Jugendhilfe und Schule und der Gestaltung ganztägiger Bildungs- und Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen. Die Expertisen aus Pädagogik und sozialer Arbeit inspirieren sich gegenseitig und leisten einen Beitrag für Praxis und Wissenschaft mit dem Ziel, für gelingende Bildungsbiographien von Kindern und Jugendlichen. Verläuft die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule erfolgreich, ist sie v.a für Kinder- und Jugendliche gewinnbringend. Die erfolgreiche Gestaltung von Kooperationsprozessen ist somit Aufgabe und Programm.

links: Birgit Schröder, rechts: Hiltrud Wöhrmann

Birgit Schröder ist Pädagogin. Sie hat lange Jahre in einer offenen Ganztagsschule gearbeitet und ist seit 2008 im Institut für soziale Arbeit tätig, seit 2012 als Leitung der Serviceagentur, seit 2016 auch als stellvertretende Geschäftsführerin.

Hiltrud Wöhrmann  hat lange Jahre eine Grundschule in Recklinghausen geleitet. Sie hat die Serviceagentur zunächst als Fachberaterin unterstützt und ist seit 2017 in deren Leitung.

Zum Weiterlesen:

  • Nina Andernach / Herbert Boßhammer, Birgit Schröder (Hg.), Eltern aktiv – kreative Wege der Mitgestaltung in der Ganztagsschule, in: Der GanzTag in NRW – Beiträge zur Qualitätsentwicklung Heft 30, 2015.
  • Helle Becker, Partizipation von Schülerinnen und Schülern im Ganztag, in: Der GanzTag in NRW – Beiträge zur Qualitätsentwicklung Heft 27, 2014.
  • Janina Billis / Dörthe Heinrich (Hg.), Kinder beteiligen! Anregungen zur Umsetzung von Partizipation in offenen Ganztagsschulen des Primarbereichs, in: Der GanzTag in NRW – Beiträge zur Qualitätsentwicklung Heft 31, 2016.
  • Stephan Maykus, Neue Perspektiven für Kooperation: Jugendhilfe und Schule gestalten kommunale Systeme von Bildung, Betreuung und Erziehung, in: Peter Bleckmann / Anja Durdel (Hg.). Lokale Bildungslandschaften, 2009

Alle Broschüren der Reihe „Der GanzTag in NRW“ stehen auf der Internetseite der SAG zum Download zur Verfügung. Auf dieser Internetseite gibt es in der Rubrik ganz!recht auch ein umfangreiches Angebot über Rechtsfragen rund um den Ganztag.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2019, alle Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)