Das böse Wort Verzicht
Ein Plädoyer für eine neue Bescheidenheit
Das Editorial der Augustausgabe des Demokratischen Salons endete mit einem der berühmten Zitate von John F. Kennedy: „Don’t ask what your country can do to you, ask about what you can do for your country. Leider stellen wir fest, dass die Möglichkeiten nicht allzu groß zu sein scheinen. Aufforderungen und Ideen gibt es ja genug, es ließe sich kürzer duschen, das Licht ausschalten, wenn man einen Raum verlässt, langsamer und vielleicht auch weniger mit dem Auto fahren, und nicht nur das, alles nichts Ungewöhnliches oder Neues, alles Elemente einer sparsamen Erziehung wie sie Eltern in den 1950er und 1960er Jahren noch versuchten, ihren Kindern zukommen zu lassen.
Aber hat diese Erziehung gewirkt? Vier Autor*innen der Süddeutschen Zeitung haben das Ergebnis ihrer Recherchen am 7. Oktober 2022 veröffentlicht, Titel „Wie die Reichen sparen würden“: „Würde kein Haushalt mehr verbrauchen als ein Haushalt mit mittlerem Einkommen, würden dadurch 26 Prozent des Energiebedarfs der deutschen Haushalte eingespart. Würden alle Deutschen ihren Energieverbrauch auf das Niveau der unteren 50 Prozent beschränken, brächte das gar eine Ersparnis von 41 Prozent.“
Während ein Teil der Betriebe um seine Existenz fürchten muss, kassieren andere unvorhergesehene Gewinne. „Übergewinne“ nennt man das heute – gibt es die überhaupt, so der politische Streit um dieses Thema. Man könnte auch sagen: „Kriegsgewinnler“. Traut sich nur niemand. Mich erinnert dies daran, dass fast alle west- und gesamtdeutschen Wahlprogramme der vergangenen 40 bis 50 Jahre immer eine Förderung des Mittelstandes, sprich kleiner und mittlerer Unternehmen, versprachen, die Regierungen nach der Wahl jedoch nichts anderes taten als dies wieder zu vergessen und Großunternehmen zu fördern, nicht nur der Ex-Bundeskanzler, der in der Presse als „Genosse der Bosse“ firmierte und dies auch wohl heute noch als Kompliment versteht.
Wer glaubt, irgendein Kompromiss mit Putin würde die Energie wieder billiger machen, irrt. Energie wäre auch aus anderen Gründen teurer geworden, nur traute sich kaum jemand, dies laut zu sagen. Aber es gäbe durchaus eine Strategie, das Problem zu lösen. Ulrike Hermann hat in ihrem bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch „Das Ende des Kapitalismus“ eine solche Strategie vorgestellt. Eine kurze, aber ebenso lesenswerte Zusammenfassung hat sie in der Oktoberausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ vorgelegt, der programmatische Titel lautet: „Raus aus der Wachstumsfalle – wie wir mit der britischen Kriegswirtschaft die Klimakrise bewältigen können“.
Ulrike Hermann spricht von „Krieg“? Den gibt es doch gar nicht, wir sind doch keine „Kriegspartei“! Im engeren Sinne sicher nicht, denn es kämpfen keine deutschen Soldat*innen in der Ukraine, im weiteren Sinne schon, denn es gibt viele Schlachtfelder, gehacktes Internet mit vielen falschen Nachrichten (wer mehr darüber wissen möchte, abonniere die Recherchen von Correctiv‘), Sabotage von Infrastrukturen, Handels- und Wirtschaftskriege mit Zöllen, künstlich erhöhten Preisen sowie der Verknappung von Lebensmitteln und Rohstoffen.
Ulrike Hermann zitiert in Buch und Essay Anton Hofreiter, der auf die Frage, ob Autofahrten oder Fleischkonsum rationiert werden sollten, antwortete: „Das ist absurd. Wir sind in einer freien Gesellschaft, da gibt es zum Glück keine solchen Instrumente.“ Schöner hätte es Christian Lindner auch nicht formulieren können. Ulrike Hermann: „Viele Menschen glauben wie Hofreiter, ‚freier Markt‘ und staatliche Lenkung seien Gegensätze, die sich absolut ausschließen. Doch das ist ein Irrtum. Auch im Kapitalismus wurde schon immer geplant – von den Unternehmen und von den Regierungen. Die Briten haben im Zweiten Weltkrieg vorgeführt, wie eine Regierung effektiv lenken kann, um die Wirtschaft radikal umzustellen.“ Überzeugte Kapitalist*innen und ebenso überzeugte Anti-Kapitalist*innen sollten sich von der Hoffnung verabschieden, dass es nur ein paar Schalter umzulegen, ein paar Forschungsaufträge oder technologische Lösungen mehr, etwas mehr oder etwas weniger Staat zu organisieren gelte, um Klimakrise und Krieg zu bewältigen. „Wachstum“ ist Geschichte, das ist vorbei – so Ulrike Hermann – auch „grünes Wachstum“ ist nur eine Illusion. Es wird nicht reichen.
Die britische Kriegswirtschaft hat es jedoch geschafft, dass es keinen Mangel gab, dass niemand hungerte, dass das Leben weitergehen konnte: „Die Briten standen 1939 vor einer monströsen Herausforderung: Sie hatten den Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen und mussten nun in kürzester Zeit ihre Wirtschaft auf das Militär ausrichten, ohne dass die Bevölkerung hungerte. Fast über Nacht entstand eine Planwirtschaft, die bemerkenswert gut funktionierte. Die Fabriken blieben in privater Hand, aber der Staat steuerte die Produktion – und organisierte die Verteilung der knappen Güter. Es wurde rationiert, aber es gab keinen Mangel. Die Briten erfanden also eine private und demokratische Planwirtschaft, die mit dem dysfunktionalen Sozialismus in der Sowjetunion nichts zu tun hatte.“
Wer wissen will, wie das funktionierte, lese den Essay oder – besser noch – das Buch.
Letztlich geht es um das böse „V-Wort“: „Verzicht“. Bernd Ulrich bezog dies in seinem Essay „Nicht auf der Höhe der Zeit“ vom 11. Oktober 2022 in ZEIT Online auf die FDP: „Wer weniger Staat will, muss weniger Auto fahren, fliegen, Fleisch essen, weniger Klamotten kaufen und nicht so viel Golf spielen, sonst rationiert der Staat bald in jedem zweiten Sommer das Wasser, jeder Notstand stärkt den Staat, so einfach ist das. Die Botschaft einer erneuerten FDP an ihre Wähler müsste lauten: Nehmt euer Geld und kauft euch eine teure Geige oder einen Gesangslehrer oder ein Gemälde oder einen Plattenspieler von Bang & Olufsen, irgendwo muss die Kohle ja hin. Aber hört auf, Nebenwirkungen zu erzeugen, die immer noch mehr Staat nötig machen, um darüber anschließend wieder rumzujammern. Ihr wohlhabenden FDP-Wähler seid es, die den Staat fett machen, so ist die Lage.“
All dies hat mit einem falschen Verständnis von „Liberalismus“ zu tun. Francis Fukuyama, dem immer unterstellt wird, er habe mit seinem Buch zum „Ende der Geschichte“ den Sieg des Kapitalismus ausgerufen, wurde im Oktober 2022 von Hans Monath für den Berliner Tagesspiegel interviewt. Er antwortete auf die Frage, ob die Ukraine gegen die russische Invasion das verteidige, was er in seinem im Mai 2022 erschienenen Buch „Liberalism and its Discontents“ (die deutsche Übersetzung mit dem an Sir Karl Popper gemahnendem Titel „Der Liberalismus und seine Feinde“ erschien bei Hoffmann und Campe) mit diesem Begriff bezeichnet habe. Seine Antwort: „Unbedingt. In Deutschland versteht man unter Liberalismus eine rechtsbürgerliche, marktwirtschaftliche Position im politischen Spektrum im Sinne der FDP. Mein Begriff von Liberalismus ist viel breiter: In der liberalen Gesellschaft beschützt die politische Ordnung die Individuen vor staatlicher Macht, indem sie ihnen bürgerliche und politische Rechte einräumt.“
Francis Fukuyama stellt die neoliberalen Thesen eines Friedrich August von Hayek, eines Milton Friedman und seiner „Chicago Boys“, eines Ronald Reagan, einer Margaret Thatcher und ihrer konservativen wie sozialdemokratischen Schüler*innen vom Kopf auf die Füße: „Liberalismus ist nicht nachhaltig, solange er nicht mit Demokratie verbunden ist und mit einem Sozialsystem, das für eine bestimmte Umverteilung sorgt und die Ungleichheit verringert. Wenn die Ungleichheit zu groß und offensichtlich wird, verliert das ganze System Legitimität. In gewisser Weise ist die soziale Demokratie entscheidend für den Erfolg der liberalen Demokratie.“
Das ist alles andere als ein Plädoyer für exzessive staatliche Zuschüsse für alles und jedes an alle und jede*n. Denn zum „V-Wort“ gehört auch das B-Wort: Bescheidenheit. Bernd Ulrich: „Im 21. Jahrhundert gilt: Nur ein bescheidener Reicher ist ein guter Liberaler, nur wer wenig verbraucht, darf viel verdienen.“ Wie gesagt: „what you can do“.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2022, Internetlinks wurden am 26. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)