Das Lampedusa-Syndrom
Kontroversen und Lebenslügen in der Migrationsdebatte
„Die Enteigneten haben ein Interesse an einer klaren und deutlichen Demarkationslinie. Das einzige Kapital, was sie haben, ist ihr Territorium und die Grenze ist ihre Haupteinnahmequelle. Die Reichen gehen, wohin sie wollen, pfeilschnell. Der Starke ist flüssig, der Schwache hat nur den Schoß der Familie, eine uneinnehmbare Religion, ein unbesetzbares Labyrinth.“ (Régis Debray, Lob der Grenzen, zitiert nach: Wolfgang M. Schmitt, Toni Erdmann, in: Die Filmanalyse – Kino anders gedacht, Düsseldorf, Seidelman & Company, 2023)
Wolfgang M. Schmitt beschreibt in seiner Analyse des Films „Toni Erdmann“ die Welt der von Sandra Hüller gespielten Expat Ines Conradi als eine Welt der Menschen, die sich nirgendwo zu Hause fühlen, diese Lebensweise aber für ihr „Kapital“ halten, im Gegensatz zu den Menschen, die ihr „Kapital“ nur an einem bestimmten Ort finden, in den so gut wie niemand Unerwünschtes von außen eindringen darf. David Goodhart veröffentlichte 2017 das Buch „The Road to Somewhere“ und teilte die Welt und die Menschen in die beiden Kategorien der „Somewheres“ und „Anywheres“ auf. Das muss man nicht so binär verstehen wie es klingt, es gibt sicherlich Mischformen, aber die Frage bleibt, wie stark ein bestimmter Ort, den man „Heimat“, „Zuhause“ oder mit anderen emotional-affektiven Begriffen belegen mag, das eigene Verhalten dominiert. Ein solcher Ort des Rückzugs wäre im Sinne von Pierre Bourdieu gleichermaßen kulturelles und soziales Kapital, auch unabhängig vom Vorhandensein monetären Kapitals. Für manche ist eine so verstandene „Heimat“ Kampfbegriff geworden, inzwischen hat sich eine offen faschistische deutsche Partei sogar in „Die Heimat“ umbenannt.
Nora Bossong hat mit „Schutzzone“ (Berlin, Suhrkamp, 2019) den Roman der „Anywheres“ geschrieben, denen Ines Conradi angehört. „Man nennt uns Expats, und auch wir selbst nennen uns so, eine lapidare Kurzform, wie hingegossen an den Rand eines Pools, ein Status, wie auf einer Vielfliegerkarte und in exklusiven Clubs, und natürlich bedeutet er auch, dass wir nicht dazugehören, nicht dort, wo wir gerade sind, und auch nicht mehr da, woher wir einmal kamen, diese Gegend oder Gemeinschaft, die man gefühlsselig Heimat nennt und die eben doch etwas mehr ist als nur Kitsch, was man spätestens dann merkt, wenn man sich nur noch ungenau an sie erinnert.“ Wer nie lange am selben Ort verweilt, nirgendwo zu Hause ist, wird auf die Verhältnisse an diesem Ort, der „Zuhause“ genannt werden könnte, keinen Einfluss ausüben können. Das tun dann aber immer mehr diejenigen, die immer zu Hause bleiben, die nicht reisen, die auch kein Bedürfnis haben, Menschen aus anderen Regionen und Ländern kennenzulernen, es sei denn, diese zeigen sich in sicherer Distanz im ein oder anderen Kinofilm. Nora Bossong bezeichnet die Expats als „internationale Klasse“. Zu dieser Klasse gehört eben auch Ines Conradi. Wolfgang M. Schmitt kommentiert: „Es gibt kein Ende, es geht immer weiter. Der nächste Konzern und der nächste Kontinent warten schon.“
Lampedusa ist nicht nur eine Insel
In Migrationsdebatten geht es nicht um die „Expats“, es geht um die „Schwachen“. Ein Symbol für ein Territorium, dass Angehörige der Gruppe (oder sollte ich Klasse schreiben?) der „Somewheres“ verteidigen wollen, ist die Insel Lampedusa. Diese Insel ist so etwas wie ein Warteraum, in den Menschen sich hineinbegeben, um andere Räume zu erreichen, in denen aber wiederum Menschen leben, die dies gerade verhindern wollen. Dies gelingt ihnen jedoch nicht immer, sodass sich die Debatten, die in der Politik mit dem Begriff der „Migrationskrise“ belegt werden, verschärfen und Regierungen versuchen, es den radikalen Teilen der „Somewheres“ recht zu machen. Zusammenfassen ließen sich diese Debatten in einem Satz: Nach dem „Migrationskompromiss“ ist vor der nächsten „Migrationskrise“.
Die Situation auf Lampedusa dokumentierte ZEIT Online mehrfach, so beispielsweise am 20. September 2023: „Mehr als 7000 Menschen kamen am Dienstag vor einer Woche mit Booten auf Lampedusa an. Aus dem Sudan, aus Eritrea, aus Guinea und aus Tunesien. Mehr als 100 Boote an einem Tag, das war sogar für die stresserprobte südlichste Insel Italiens zu viel. Das Erstaufnahmezentrum ist auf 400 Menschen ausgelegt, die Ankommenden hatten nicht ansatzweise genug Toiletten, es gab nicht genug Essen, keine Schlafplätze, keine Kleidung.“ Die Ankömmlinge sind – so zynisch es klingt – die Erfolgreichen! Die Zahl und Schicksale derjenigen, die die Reise nicht überlebt haben, dokumentiert das im Hirnkost Verlag erschienene Buch „Todesursache Flucht: Eine unvollständige Liste“, herausgegeben von Kristina Milz und Anja Tuckermann. Die erste Auflage erschien im Jahr 2018, im Jahr 2023 erschien die dritte Auflage. Das Buch wurde in der Ausgabe von September 2023 des Demokratischen Salons in dem Essay „Sag mir, wer die Menschen sind“ vorgestellt.
Die Insel Lampedusa ist nicht zum ersten Mal Gegenstand einer Migrationsdebatte. Auch im Jahr 2011 war diese Insel Zentrum einer Zuwanderung von über das Mittelmeer aus Libyen, Tunesien und Ägypten angelandeten Menschen, die ihre Heimat verlassen hatten und sich auf die höchst gefährliche Reise durch die Wüsten des Niger und Libyens bis an die Küsten des Mittelmeeres gemacht hatten. Auch schon in den 1990er Jahren gab es Flüchtende, die in Lampedusa aufgenommen werden mussten. Grundinformationen, auch als Antwort auf häufig gestellte Fragen, bot die ZEIT in einem Gespräch mit dem Journalisten Christian Vooren am 22. September 2023. Mehr als 10.000 Menschen landeten damals in wenigen Tagen, doch es gab nur 350 Plätze.
Und so geht das immer weiter. Christina Morina zitiert in ihrem Buch „Tausend Aufbrüche – Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren“ (München, Siedler, 2023) Briefe an den Bundespräsidenten aus den 1980er Jahren zu den Themen Zuwanderung und Asylrecht. Manche loben die Arbeit und die Steuerzahlungen der Migranten (damals die sogenannten „Gastarbeiter“), andere befleißigen sich einer denkwürdigen Täter-Opfer-Umkehr. „Nachdem es im Sommer 1982 verstärkt und teils tödliche Übergriffe auf Asylsuchende gegeben hatte, in Umfragen 60 Prozent der Bundesbürger der Bundesbürger wünschten, dass ‚die Gastarbeiter verschwinden sollten‘ und die Regierung einer ‚stillen Integration‘ (Jan Plamper) systematisch entgegenarbeitete, schrieben etwa 50 in verschiedenen Städten lebende ‚Angehörige der seit vielen Jahren in Deutschland arbeitenden türkischen Volksgruppe‘ im Wortlaut fast identische, aber jeweils in eigener Handschrift verfasste Briefe, in denen sie die spürbare Zunahme an verbalen und physischen Anfeindungen bedauerten: ‚Ausländerfeindlichkeit bedroht unsere Existenz. (…) Auf der anderen Seite zahlen auch wir Steuern. Auch wir tragen zum deutschen Wohlstand bei. Ist ‚Frieden’ nicht auch unser Recht?‘“ Ein Déjà-Vu, das sich in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wiederholt. Nach dem Pogrom in Hoyerswerda erlebte ich am 3. Oktober 1991 in einer Veranstaltung zum Jahrestag der Deutschen Einheit in Hoyerswerda, wie der dortige Bürgermeister dem damaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf dankte, dass dieser keine Asylbewerber mehr nach Hoyerswerda schicken wollte.
Es ließe sich mutmaßen, dass wir uns in einer gefährlichen Spirale bewegen. Jedesmal, wenn wieder von einer oder der „Migrationskrise“ die Rede ist, wird die allgemeine gesellschaftliche Stimmung aggressiver und die Stimmen derjenigen, die die Chancen von Migration hervorheben, werden immer leiser. Es geht inzwischen im Grunde kaum noch um die Frage der „Integration“ von Geflüchteten, Zu- und Eingewanderten, sondern nur noch um die Frage, wie „Migration“ verhindert werden könnte, eine meines Erachtens gefährliche Verschiebung der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der Kern der Debatte dreht sich einerseits um die Frage nach einer möglichen Balance zwischen Aufnahmebereitschaft und Aufnahmekapazitäten, dies möglicherweise noch differenziert nach Personengruppen (zum Beispiel Fachkräfte versus Asylsuchende, Geflüchtete aus der Ukraine versus Geflüchtete aus außereuropäischen Ländern), andererseits aber auch um die Frage nach den mit der bloßen Präsenz von als Fremde gelesenen Menschen verbundenen Gefühlen, die die Debatte durchaus vergiften können, vor allem dann, wenn ausschließlich binär argumentiert wird.
Es lohnt sich, einige Zahlen anzuschauen. Die Bundestagsabgeordnete der Linken Clara Bünger fragte nach den Anerkennungsquoten von Geflüchteten, die um Asyl gebeten hatten. Über das Ergebnis berichtete die Süddeutsche Zeitung am 21. September 2023: „Der Anteil derer, deren Schutzgesuch das Amt anerkannte, ist weiterhin hoch. 71,3 Prozent der Menschen, über deren Anträge das Bundesamt im ersten Halbjahr entschied, bekamen einen Schutzstatus und dürfen legal bleiben. Bei Syrern liegt die Quote sogar bei 100 Prozent, bei Afghanen immer noch bei 99,1. In beide Länder wird wegen der dortigen Lage nicht abgeschoben.“ Es ließen sich noch weitere Zahlen aufrechnen, beispielsweise welches Land in der Europäischen Union absolut oder relativ zur Bevölkerungszahl die meisten Flüchtenden aufgenommen hätte.
Aber auch andere Zahlen sollten im Vergleich bedacht werden: Aus Bergkarabach flüchteten bis Anfang Oktober etwa 120.000 Armenier:innen nach Armenien. Armenien hat etwa 2,8 Millionen Einwohner:innen. Ähnlich sieht das Verhältnis zwischen Einwohner:innen und Flüchtenden in vielen anderen Staaten aus. Die meisten Flüchtenden finden das vorübergehende, mitunter auch endgültige Asyl in ihren Nachbarländern oder in einer benachbarten Region. Aber was helfen Zahlen? Lampedusa ist – diesen Eindruck vermitteln politische Debatten und Medien – überall.
Clandestino – illegal
Fabrizio Gatti hat die Reise (euphemistischer Begriff!) nach Lampedusa in seinem Buch „Bilal – Viaggiare, lavorare, morire da clandestini“ beschreiben. Das Buch erschien 2007 bei Rizzoli, es wurde in mehrere Sprachen übersetzt, die deutsche Ausgabe erschien 2010 in München bei Antje Kunstmann unter dem Titel „Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“. Fabrizio Gatti hat Menschen auf der gesamten Route von Westafrika über den Niger und Libyen zum Mittelmeer begleitet und diese Reisen dokumentiert. Als Kurde Bilal ließ er sich vor Lampedusa aus dem Meer fischen. Er trifft auf dem Weg nach Europa Menschenhändler, Sklavenhalter, Terroristen, er dokumentiert die Leben seiner Reisegefährten. Das Buch wurde inzwischen auch verfilmt.
Schon in der Übersetzung des Titels von Fabrizio Gattis Bericht gibt es eine Akzentverschiebung. Ein „clandestino“ ist ein Mensch, der im Vorborgenen lebt, ein „Illegaler“ ist jemand, dem keine Rechte zugestanden werden können, weil er eben nicht Bürger des Staates ist, in den er eingereist ist, und auch kein Visum für diese Einreise hat. Zwei Aspekte ein und desselben Zustands, Manu Chao hat sie in seinem Lied „Clandestino“ miteinander verknüpft: „clandestino illegal“. Die Zuwandernden, Flüchtenden, aus Peru, Nigeria, Algerien, aus Afrika, sie sind genauso illegal wie Marihuana. Und in Europa profitieren manche von den „clandestini“, beispielsweise auf italienischen Tomatenplantagen oder in der niederländischen Gastronomie wie auch eben Menschen, die sich für Genussmenschen halten, aber alles andere als illegal in ihrem Land leben und das illegale Marihuana beziehungsweise Cannabis genießen.
Wie Menschen am Rande der Legalität, kaum oder gar nicht integriert, in dem Land, in das sie eingereist sind, leben, hat Tahar Ben Jelloun in seinen Romanen beschrieben. Die deutsche Übersetzung seiner Dissertation „La plus haute des solitudes“ wurde unter dem Titel „Die tiefste der Einsamkeiten“ 1986 im Verlag Stroemfeld/Roter Stern veröffentlicht (gefördert mit Mitteln des damaligen Bundesbildungsministeriums im Rahmen eines Projekts des Deutschen Jugendinstituts). Sein Roman „Partir“ aus dem Jahr 2006 wurde von Christine Kayser unter dem Titel „Verlassen“ übersetzt und erschien im selben Jahr im Berlin Verlag. Hier ist der deutsche Titel vielleicht etwas aussagekräftiger als der französische Originaltitel, denn „Verlassen“ ist nicht nur etwas, das jemand tut, um einer unhaltbaren Situation zu entkommen, sondern auch der Zustand, in dem er oder sie sich anschließend am vermeintlichen Zielort der Reise befindet. Es ist die Einsamkeit der „clandestini“, die vielleicht durchaus sichtbar sind, aber ihren Status, ihre Herkunft versuchen, im Verborgenen zu halten. Sie sind sozusagen die Unterschicht, die Unterklasse der „Anywheres“, der „Expats“. Gegenüber der Oberklasse dieser Gruppe genießen sie allerdings auf ihrer Reise nicht die Freiheit, überall hinreisen zu können. Ihre Bewegungsmöglichkeiten werden immer wieder eingeschränkt, sie leben oft lange Zeit in Wartesälen, in abgesperrten Anlagen, in Lagern.
Im öffentlichen Diskurs werden inzwischen Menschen mit etwas dunklerer Hautfarbe durchweg erst einmal als „Flüchtlinge“ identifiziert. So hört man es in Bus und Straßenbahn, wenn auf einer Bank als People of Color gelesene Menschen sitzen, die allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit alle einen deutschen Pass haben und hier in Deutschland geboren wurden. Seis drum: mit der Bezeichnung „Flüchtling“ wird im Grunde signalisiert, ihr gehört hier nicht hin. Das änderte sich ein wenig mit den Flüchtenden aus der Ukraine, nicht nur weil diese aufgrund ihres Erscheinungsbildes als weiße gesehen werden, auch sicherlich weil die große Mehrheit in Deutschland – wie auch in anderen Ländern – Putins Krieg ablehnt. Das war übrigens auch 2015 so, als vorwiegend Flüchtende aus Syrien den Weg nach Europa fanden. Damals wurden Syrer:innen willkommen geheißen. Politiker:innen sprachen davon, dass jetzt viele hochqualifizierte Menschen kämen. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass dies nur auf einen Teil der Geflüchteten zutraf, die Politik sich somit mit ihrer Argumentation selbst eine Falle gestellt hatte. Der Integrationsoptimismus vom Herbst 2015 verschwand wieder.
Das Verständnis für Flüchtende änderte sich gegenüber Menschen aus Syrien schließlich vehement nach der sogenannten „Kölner Sylvesternacht“, obwohl nach wie vor niemand weiß, wer tatsächlich an den Übergriffen beteiligt war. Ähnliches geschah den Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland, wenn jungen Männern vorgeworfen wird, sie entzögen sich dem Krieg, in Polen, als bei den jüngsten Wahlen manche junge Frauen der rechtsextremen, antisemitischen und antiukrainischen Konfederacja zuneigten, weil sie befürchteten, die einreisenden Ukrainerinnen nähmen ihnen die polnischen Männer weg.
Die Geschichte der Fluchten aus afrikanischen Ländern ist die Geschichte der Ungleichheit und Ungleichzeitigkeiten zwischen Nord und Süd. In den Migrationsdebatten werden sie als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnet, eine Kategorie, der viele Deutsche, Pol:innen, Ir:innen angehörten, als sie im 19. Jahrhundert den Weg in die USA suchten und fanden. Der Norden ist – wie damals die USA als das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ (Max Goldberger 1902) im Grunde auch das Opfer des Bildes, das er von sich selbst über Medien vermittelt, die dank der modernen technologischen Möglichkeiten weltweit verfügbar sind.
Eine zentrale Rolle spielt dabei nicht zuletzt der Fußball. Samuel Eto’o wird der Satz zugeschrieben: „Ich werde rennen wie ein Schwarzer, um zu leben wie ein Weißer“, dies auch der Titel des Buches von Christian Ewers über – so der Untertitel – „Die Tragödie des afrikanischen Fußballs“ ist (Gütersloher Verlagshaus, 2010). Christian Ewers schreibt in seinem Vorwort: „In den Augen Europas ist Afrika oftmals der geschundene, dunkle Kontinent, das Herz der Finsternis. Oder aber es ist farbenfroh, etwas naiv und ungebildet, aber doch so fröhlich und so vital. Zwischen diesen beiden Polen scheint es nichts zu geben. / Umgekehrt ist Europa in den Augen Afrikas das Paradies.“ Es hat schon seine Gründe, dass viele junge afrikanische Männer Trikots europäischer Fußballmannschaften tragen, von Real Madrid über Inter Mailand und Paris Saint-Germain zum FC Bayern München. Europa als Vorbild jenseits jeglicher Kolonialismus-Debatte.
Wer redet noch von Integration?
Die Debatten um das Thema der Migration sind nicht einfach auf den Punkt zu bringen. Ich möchte dennoch versuchen, einige Ungereimtheiten und Lebenslügen anzusprechen. Manche haben allenfalls Placebo-Charakter und können die Debatte nur für eine begrenzte Zeit beruhigen. Claus Leggewie stellt in einem Beitrag der Februarausgabe 2024 der Blätter für deutsche und internationale Politik allerdings auch eine Grundsatzfrage. „Warum traktieren wir dann aber ununterbrochen das AfD-Megathema Migration, nebenbei das einzige, was die Parteiflügel zusammenhält? Und warum stoßen die bürgerliche Opposition und selbst Teile der Ampelregierung ins gleiche Horn? Der CDU-Vorsitzende ist sprachlich von der AfD-Rhetorik oft nicht weit entfernt, und Olaf Scholz darf sich nicht beklagen, wenn sein vermeintliches Machtwort ‚Wir müssen endlich im großen Stil abschieben‘ das ‚Spiegel‘-Cover zierte und seither in den sozialen Medien der AfD kursiert. Notabene: Wer ist ‚wir‘? Was meint ‚endlich‘? Wie viel ist ‚im großen Stil‘?“
Ausgedient hat in der öffentlichen Debatte offenbar der Begriff der „Integration“. Allerdings wurde immer wieder der Integrationswille der Ein- und Zugewanderten in Frage gestellt, wenn etwas nicht funktioniert, wie man sich dies im Aufnahmeland vorstellt, das sich auch gerne als „Gastland“ präsentiert und in Verkehrung der Regeln der Gastfreundschaft von den Gästen Wohlverhalten erwartet statt mit diesen die eigenen Ressourcen zu teilen. Integration wurde als Auftrag an Minderheiten kommuniziert, nicht als Auftrag der Mehrheitsgesellschaft, die sich eher in der Rolle als Belehrende oder Richtende gefiel, die darüber urteilten, ob die Integrationsleistung der Zu- und Eingewanderten ausreiche. Im Grunde ergab sich für Zu- und Eingewanderte eine Art Hase- und Igelspiel. Das vorgegebene Ziel war nie erreichbar. Im Ergebnis verblieben viele der Ein- und Zugewanderten dann in bestimmten Stadtteilen, die wiederum als „Parallelgesellschaft“ markiert wurden, obwohl die eigentlichen „Parallelgesellschaften“ eher diejenigen sein dürften, in denen Rechtsextremist:innen Anschläge auf Menschen planen, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen, oder ihre Deportation fordern.
- Die italienische Regierung hat im September 2023 den Notstand ausgerufen. Und sie tat recht daran. Dies ist die lange Geschichte des Dubliner Übereinkommens vom 15. Juni 1990, das inzwischen unter dem Namen „Dublin III“ firmiert, allerdings auch im Kontext mit anderen europäischen Rechtsvorschriften gesehen werden muss. Der Kern gilt nach wie vor. Er wurde nur ein einziges Mal mit der Entscheidung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel im September 2015 angesichts des Drucks auf der sogenannten „Balkanroute“ kurzfristig außer Kraft gesetzt. Der Asyl-Antrag muss in dem EU-Land gestellt werden, das die Geflüchteten als erstes betreten haben. Reisen sie weiter, werden sie wieder in das erste Ankunftsland zurückgeschickt. Mit dieser Regelung haben sich Deutschland, aber auch die skandinavischen Länder und alle anderen Länder, die nicht an das Mittelmeer angrenzen, aus der Verantwortung herausgestohlen und vor allem Griechenland und Italien, inzwischen auch Spanien, die gesamte Verantwortung für Geflüchtete zugewiesen. Griechenland profitiert zwar weitgehend von dem (Kuh-)Handel der EU mit der Türkei, aber Italien steht alleine da, wenn andere Staaten nicht bereit sind, dort angelandete Menschen aufzunehmen.
- Viele deutsche Kommunen sind überfordert. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Bundesregierung es nie geschafft und möglicherweise auch nicht gewollt hat, „Integration“ zu organisieren. Im Gegenteil: der Zugang zu Sprachkursen, die Unterbringung, die Ermöglichung der Aufnahme einer Arbeit – all dies wurde immer wieder erschwert, auch durch Streichung von Finanzmitteln wie zuletzt für den Bundeshaushalt 2024 wieder einmal vorgesehen. Jede Kommune war und ist auf sich gestellt. Der in Berlin lebende Autor Musa Okwonga hat dieses Dilemma in einem Gastbeitrag für die ZEIT auf den Punkt gebracht. Politik verschiebt die Verantwortung für ein Problem, das sie selbst verursacht hat, auf diejenigen, die unter diesem Problem leiden. „Wenn Politiker so etwas sagen, dann üblicherweise, weil sie sich lange vor der Ankunft von Migranten geweigert haben, in diese Infrastruktur zu investieren. Das aber zuzugeben, hieße, in den Spiegel zu schauen: Und warum sollte man das tun, wenn man die Schuld für das eigene Versagen dem ausländischen Teil der Bürger zuschieben kann, auf den ein Großteil der eigenen Wählerschaft ohnehin schon mit Verachtung herabsieht?“ Es ist in etwa so, als hätte man Schulen nur für 20 Prozent aller Kinder geschaffen und gebe dann den Eltern und den Kindern die Schuld, dass sie keinen Schulplatz fänden. Aber genau das geschieht in der sogenannten „Integrationspolitik“. Es gibt zu wenig Deutschkurse, aber diejenigen, die deshalb kein Deutsch lernen können, werden für den Mangel verantwortlich gemacht.
- Die Idee, die Verfahren auf Anerkennung einer Asylberechtigung, in die nordafrikanischen Länder – Tunesien statt Lampedusa – oder auch in andere afrikanische Länder – genannt wird immer wieder Ruanda – zu verlagern, ist an sich nicht falsch, wenn in diesen Ländern eine menschenwürdige Unterbringung möglich wäre. Diese jedoch wäre nur dann möglich, wenn die EU-Staaten mit eigenem Personal und einer entsprechenden Finanzierung der Infrastruktur agierten. Geldzuweisungen, die dann für andere Haushaltszwecke verwendet werden, erreichen den Zweck nicht. Und für Länder wie Syrien oder Afghanistan ist eine solche Verlagerung der Verfahren geradezu absurd. Allenfalls käme die Türkei in Frage, aber das ist wiederum ein anderes Thema. Christian Jakob und Simone Schlindwein haben in ihrem Buch „Diktatoren als Türsteher Europas – Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert“ (Berlin, Ch. Links, 2017) die Versuche beschrieben, Migrationswillige von der Reise abzuhalten. Es gab sogar so etwas wie einen „Merkel-Plan“, Änderungen der „Afrika-Politik Europas“, jeweils nach dem Prinzip „Geld für Flüchtlingsstopp“. Wenige Jahre zuvor gab es bereits den sogenannten „Khartoum-Prozess“, in dem die EU mit recht unappetitlichen Staatschefs verhandelte. Aber die Finanzierung von Grenzanlagen in Afrika und Geld für die dortige Wirtschaft verhindert nicht, dass es weniger Menschen gäbe, die den Weg nach Europa versuchten. Abgesehen davon scheint China schneller zu zahlen. Auch Russland. Aus anderen Gründen. Aber Europa droht seinen Einfluss in Afrika zu verspielen, Frankreich allen anderen Ländern voran. Claus Leggewie spricht in der Märzausgabe 2024 der Blätter für deutsche und internationale Politik von einem „Fiasko der französischen Afrikapolitik“.
- „Obergrenzen“ oder „Kontingente“ – oder wie man auch immer diese Höchstgrenzen für die Aufnahme von Geflüchteten nennen will – sind oft schon Makulatur in dem Augenblick, in dem sie beschlossen werden. Letztlich geht es um die Wahrnehmung von Aufnahmebereitschaft und wer der Forderung keine Taten – weil politisch nicht durchsetzbar – folgen lässt, muss eben damit rechnen, dass sich radikale Parteien und Organisationen lautstark zu Wort melden. Dieses Dilemma ist in einer liberalen und demokratischen Gesellschaft nicht lösbar, also müssten diejenigen, die einerseits den demokratischen und liberalen Anschein wahren möchten, aber andererseits die weniger aufnahmebereiten Teile der Bevölkerung beruhigen wollen, schon ihre Strategie ändern. Die Radikalen werden sie eh nicht ruhigstellen können, aber das müssten sie dann auch aushalten.
- Eine weitere immer wieder genannte Forderung ist die „konsequente Abschiebung“, im euphemistischen Bürokratensprech „Rückführung“ genannt, derjenigen, deren Anträge auf Asyl nicht anerkannt werden. Dies scheitert jedoch in der Regel daran, dass die Herkunftsländer nicht bereit sind, diese Menschen wieder aufzunehmen, oder weil ihnen dort Gefangennahme, Folter und Tod drohen. Und wohin soll man Staatenlose abschieben? Viele Palästinenser:innen haben keine Staatsangehörigkeit. Das Ergebnis sind Duldungsketten, immer am Rande der Illegalität. Auch die Forderung, einige Länder zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, hilft wenig. Sicherlich mag dies für Georgien und Moldawien funktionieren (solange sich Russland dort nicht einmischt). Diese beiden Länder gelten als EU-Beitrittskandidaten. Und was ist mit den nordafrikanischen Staaten, die – inzwischen durchweg, selbst Tunesien – als Diktaturen zu bezeichnen sind? Vielleicht ist Marokko noch als Ausnahme akzeptabel, aber letztlich ist der Asylanspruch ein individueller Anspruch.
- Die Fluchtursachen: Sicherlich ließen sich die Länder besser unterstützen, aus denen die Flüchtenden kommen. Aber solange die Menschen dort mehr von den Überweisungen ihrer Landsleute über Western Union und andere Finanzdienstleister profitieren als von einer sogenannten Entwicklungshilfe, ist dies ein frommer Wunsch. Es gibt auch kaum tragfähige Konzepte, die natürlichen Lebensgrundlagen in afrikanischen Staaten und anderswo zu erhalten. Das betrifft Maßnahmen des Klimaschutzes ebenso wie eine Regulierung von Fischerei und Landwirtschaft im afrikanischen Sinne. Die Frage der Demokratie in afrikanischen Staaten ist damit noch gar nicht angesprochen.
- Wir erfinden und erleben – so ein Buchtitel von Steffen Mau (München, Edition Mercator, C.H. Beck, 2021) „Sortiermaschienen – Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“. Wir investieren in Zäune statt in Infrastruktur, alles teure Fehlinvestitionen. Ob das etwas nützt, ist eine offene Frage. Steffen Mau zitiert „Janet Napolitano, in der Obama-Regierung Ministerin für Innere Sicherheit (…): ‚Show me a 50-foot wall, and I’ll show you a 51-foot ladder.‘“
Wer gehört zu Deutschland?
Die Gründe, warum jemand sein Heimatland verlässt, spielen in den aktuellen Debatten eher eine Nebenrolle. Dabei hätten sie das Potenzial des Auftrags an uns alle, dass wir uns so verhalten mögen, dass niemand in anderen Ländern zu Schaden kommt. Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein kategorischer Imperativ. Aber stattdessen wird weitestgehend nur im Modus der Abwehr von Migration gesprochen.
Wie strittig Migration ist, zeigt exemplarisch die Debatte um den Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“, der Christian Wulff zugeschrieben wird. Wer den Islam anspricht, meint in der Regel nicht die Religion, sondern einfach nur Migrant:innen aus Ländern, die mehrheitlich islamisch sind. Christian Wulff war nicht der erste, der den Satz aussprach, das war Wolfgang Schäuble, aber er sorgte mit seiner Rede vom 3. Oktober 2010 dafür, dass der Satz zu einem politischen Programm werden konnte, das er nach wie vor ist, auch wenn wir in der Partei, der Christian Wulff angehört, mit ihrem neuen Parteiprogramm mehr oder weniger deutliche Absetzbewegungen feststellen müssen.
Die migrationsfreundliche Linie eines Armin Laschet und einer Serap Güler scheint der Vergangenheit anzugehören. CDU und CSU haben allerdings kein Monopol auf eine migrationsskeptische Einstellung. Auch SPD, FDP und – man mag sich wundern – inzwischen auch die Grünen sprechen nur noch verschämt und mit offensichtlich schlechtem Gewissen über die Chancen von Zuwanderung, so beispielweise bei der Kommunikation zum 2024 beschlossenen Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Thomas Biebricher hat in seinem Buch „Mitte / Rechts – Die internationale Krise des Konservatismus“ (Berlin, Suhrkamp, 2023) den Niedergang konservativer und den Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Parteien in Frankreich, Italien und Großbritannien vor allem mit dem Dauerthema Migration begründet. Nach dem misslungenen Brexit ist Migration zum einzigen Thema geworden, mit dem die Konservativen noch zu punkten hoffen.
Die aktuelle Debatte hat sich nach dem 7. Oktober 2023 erst recht verschärft. Über Migration wird diskutiert, als handele es sich bei fast allen Zuwandernden um Illegale und um Anhänger:innen einer antisemitischen und martialisch-totalitären Lesart des Islam. Es ist in der Tat auf den ersten Blick schon schwer auseinanderzuhalten, ob es sich bei Zuwandernden beziehungsweise Zuwanderungswilligen um dringend gebrauchte Fachkräfte handelt oder einfach nur – wie es so heißt – um Menschen, die vom deutschen Sozialsystem profitieren wollen oder gar um solche, die Unruhe stiften wollen. Nun sind die zweite und dritte Variante schon so etwas wie eine bösartige Unterstellung. Wer sein Heimatland verlässt, um sein Glück in der Ferne zu suchen, will arbeiten und auf eigenen Füßen stehen, nur leider dürfen die meisten nicht. Die bürokratischen Hindernisse sind enorm hoch. Mal gibt es keinen Deutschkurs, mal werden die Abschlüsse selbst von hoch Qualifizierten nicht anerkannt. Es ist schon mehr als peinlich, dass Deutschland das Land mit der niedrigsten Beschäftigungsrate von geflüchteten Ukrainer:innen ist. Dieses Problembündel lässt sich auch nicht mit der populistischen Forderung einer Arbeitspflicht lösen, stattdessen müssten Beschäftigungs- und Arbeitsverbote komplett aufgehoben werden. Deutschland hat es immer noch nicht geschafft, ein Zuwanderungsmanagement – vielleicht nach dem oft genug angepriesenen kanadischen Vorbild – auf den Weg zu bringen. Michael Richter beschreibt in „Fluchtpunkt Europa – Unsere humanitäre Verantwortung (Hamburg, edition Körber Stiftung, 2015) Schicksale, in denen gut integrierte Menschen, gut arbeitende Fachkräfte darauf verwiesen wurden, sie könnten nur über einen Asylantrag nach Deutschland kommen, müssten dazu aber erst einmal in ihr Heimatland zurückkehren. Andere, die vor gewalttätigen Vätern geflüchtet sind, können nicht nachweisen, dass ihre Väter gewalttätig sind.
Und leider fühlen sich manche unter den Zugewanderten nicht wohl in Deutschland, fühlen sich sogar – Luisa Jacobs in einer Reportage für die ZEIT – „vergrault“ und wollen das Land wieder verlassen. Die Wohnungssuche gestaltet sich bei einem ausländisch klingenden Namen alles andere als einfach. Luisa Jacobs verweist auf den Migrant Acceptance Index, in dem Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern weit hinten liegt. Das Argument, unter Zuwandernde könnten sich auch Kriminelle mischen, hat inzwischen dem Argument, bei Zuwandernden handele es sich um „Wirtschaftsflüchtlinge“ den Rang abgelaufen. Dass beides möglich ist, ist nicht von der Hand zu weisen, es gibt solche Beispiele, ein solcher Verdacht darf jedoch nicht zu einem Pauschalverdacht gegen alle führen. Die überwältigende Mehrheit der Zuwandernden will arbeiten, ist friedlich und kommt nach Deutschland, weil sie unsere liberale Demokratie und den damit verbundenen wirtschaftlichen Erfolg schätzen.
In einem Gespräch mit Malte Lehming für den Tagesspiegel sagte Christian Wulff am 29. Januar 2024: „Die Diskussion leidet darunter, dass die Befürworter von Einwanderung die Vorteile betonen und die Herausforderungen ignorieren, während die Gegner von Migration ausschließlich die Probleme dramatisieren und nicht die Chancen sehen.“ Wer die Chancen nicht sieht, schadet sich letztlich selbst: „Ohne Zuwanderung sind wir aufgeschmissen. Denken Sie nur an die Lage in Hotels, Gaststätten, Apotheken, Krankenhäusern, Pflegestationen. Ohne Menschen mit Einwanderungsgeschichte liefe nichts mehr in Deutschland. Prekär könnte sich deshalb die Lage vor allem im Osten des Landes entwickeln. Wenn dort die Bereitschaft sinkt, Menschen anderer Herkunft bei sich aufzunehmen, wird es massiv an Arbeitskräften mangeln. Der Unterschied der Ost-/West-Wirtschaftsleistung würde sich zwangsläufig vergrößern.“
Die Getriebenen
Hier ist nun nicht der Ort, die Absurditäten europäischer und nationaler Flüchtlingspolitiken im Detail zu erörtern und vielleicht sogar aufzulösen. Manche Äußerungen scheinen ausschließlich der Beruhigung der eigenen Bevölkerung zu dienen, obwohl die meisten Menschen inzwischen wissen, dass das Migrationsthema immer wieder eskaliert. Ein Déjà-Vu nach dem anderen. Mit Rhetorik ist das Problem nicht lösbar und wird nur diejenigen stärken, die überhaupt keine Zuwanderung wollen oder sogar davon sprechen, selbst die Menschen, die schon lange hier leben, abzuschieben (die sogenannte „Remigration“, die allerdings erst dank der Correctiv-Recherche vom Januar 2024 als politisches Konzept bekannt wurde und zu enormem Widerstand führte).
Im Grunde reden und handeln viele Politiker:innen der demokratischen Parteien wie Getriebene und vermitteln somit eine widersprüchliche Botschaft. Auf der einen Seite wird davon gesprochen, wir bräuchten Zuwanderung, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Die Zahlen schwanken zwischen etwa 400.000 Menschen und einer Million. Auf der anderen Seite werden alle, die den Weg nach Europa, nach Deutschland suchen und mitunter auch schaffen, pauschal auf den Status der Reise reduziert, die in der Tat bei vielen „illegal“ war. „Illegal“ sind allerdings nicht die Menschen. Die politische Rhetorik legt jedoch genau diesen Gedanken nahe und spricht Migrant:innen damit im Grunde die Menschlichkeit ab. Man will natürlich niemanden vertreiben, aber man möchte auch niemanden aufnehmen. Die Geschichte der westlichen Demokratien ist auch eine Geschichte der Schreckfiguren, zu denen Migrant:innen gemacht werden. Das reicht vom polnischen Klempner, der deutschen, französischen und britischen Klempnern die Arbeitsplätze wegnähme bis hin zum aller möglichen Untaten verdächtigen Mann mit – wie es in Polizeiberichten oft heißt – „südländischem Aussehen“. Pauschalurteile dominieren (Naturwissenschaftler:innen würden sagen: „n = 1 = alle“).
Georg Diez beschrieb am 30. September 2023 in der ZEIT die Heuchelei, die in der Politik gepflegt wird, wenn davon die Rede ist, man müsse die „Menschen mitnehmen“, dürfe sie „nicht überfordern“. Wenn eine Mehrheit ein Problem sieht, dann ist da auch ein Problem, siehe die oben geschilderte Momentaufnahme aus dem Jahr 1982, die Christina Morina dokumentierte. Politik versteht – so Georg Diez – zu gerne demoskopische Momentaufnahmen als Handlungsanweisung. Dabei tut sie so, dass etwa 60 Prozent, die Migration als Problem sehen, auch die Partei wählen würden, die das Problem auf möglichst radikale Weise lösen würde, wenn die Regierung es nicht vorher tut. Das würde bedeuten, dass die AfD morgen nicht nur 20, sondern 60 Prozent der Stimmen erwarten dürfte. Von dieser Angst lassen sich demokratische Politiker:innen treiben.
Aber vielleicht ist das Problem ganz anders gelagert als gefragt wurde. Wer ist dieses kollektive Subjekt, das sich hinter dem Wort „Menschen“ verbirgt? Anders gefragt, wer muss hier nicht „mitgenommen“ werden? Das sind alle diejenigen, die zugewandert sind oder noch zuwandern wollen. Was ist mit ihren Sorgen, wenn sie angegriffen, angepöbelt werden? Und lässt sich die Gesellschaft tatsächlich so binär analysieren, wie das geschieht, wenn von einem bereits hier befindlichen „Wir“ die Rede ist, dem die noch nicht hier befindlichen „Anderen“ gegenübergestellt werden? Eine in diesem Kontext immer wieder bemühte Metapher ist der „Kontrollverlust“. Aber wer hat hier „Kontrolle verloren“? Wer hatte sie vorher? Wer sollte sie wiedererlangen? Georg Diez verweist auf die in dieser Metapher sich abzeichnende Eskalation: „Das Sprachbild des ‚Kontrollverlusts‘ psychologisiert nun staatliches Handeln, es verallgemeinert eine individuelle Erfahrung: Gibt es etwas Schlimmeres für einen Menschen als den Verlust der Kontrolle über das eigene Dasein, das in diesem Bild auch stets gegen andere verteidigt werden muss?“
Aber es ginge auch anders. Musa Okwonga schrieb in dem bereits zitierten Gastbeitrag für die ZEIT: „Ich meine: Ihr müsst die Menschen daran erinnern, dass Deutschland trotz all seiner Probleme immer noch ein besonderer Ort zum Leben ist – dass es sich nicht im Niedergang befindet oder von habgierigen fremden Horden überrannt wird. In Wirklichkeit werden diese Fremden Deutschland helfen, nicht nur als Fachkräfte, sondern auch sozial. Ihr kennt diese Version von Deutschland, weil sie eure Realität ist – im Gegensatz zu anderen Versionen des Landes, die von wütenden Zeitungskommentatoren ersonnen werden. Ihr müsst die unzähligen Communitys feiern, die Menschen hier aufgebaut haben, die Städte und Dörfer und erweiterten Familien, die beweisen, dass Deutschland in seinen besten Momenten funktioniert. Das ist der einzige Weg, auf dem dieses Land – und nicht der Hass, der in ihm entfesselt wird – voranschreiten kann.“
Wir müssen die gesamte Migrations- und Integrationsdebatte einfach vom Kopf auf die Füße stellen. Dann überwinden wir auch das Lampedusa-Syndrom.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im März 2024, Internetzugriffe zuletzt am 7. März 2023.)