Das Tagebuch von Mariupol – Dritter Teil

Bericht der Augenzeugin Nataliia Sysova

Seit April 2023 veröffentlicht das Magazin des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe (J.E.W.) in jeder seiner Ausgaben Auszüge aus dem Tagebuch von Nataliia Sysova, Augenzeugin der schrecklichen Ereignisse, die auf dem Gebiet des eingenommenen Mariupol geschehen sind. Das Tagebuch beginnt am 24. Februar 2022 und endet mit der Flucht der Autorin im Juli 2022. Die Reihe wird fortgesetzt.

Wir danken der Redaktion von J.E.W., namentlich Herrn Ramiel Tkachenko, dass wir das Tagebuch auch im Demokratischen Salon samt der diesen illustrierenden Fotografien veröffentlichen dürfen. Der erste Teil dokumentiert die Tage vom 24. Februar 2022 bis zum 9. März, der zweite Teil die Tage vom 10. bis zum 16. März, der dritte Teil die Tage vom 17. bis zum 22. März 2022.

Die umfangreiche Materialaufbereitung verdankt J.E.W. Irina Barusukova. Die Kopien des handschriftlichen Tagebuchs werden sorgfältig in der J.E.W.-Redaktion aufbewahrt. Die J.E.W.-Redaktion verweist auf Google Maps mit Fotos und Videos der totalen Zerstörung und der Vernichtung der Stadt Mariupol.

Das Titelbild zeigt Menschen, die sich vor russischem Beschuss im Keller eines Hauses verstecken, Mariupol 17. März 2022, Foto: Reuteres (Fotogalerie von Radio Svoboda).

17. März 2022

Eine Frau kocht Essen über einem offenen Feuer in einem durch russischen Beschuss beschädigten Wohngebiet. Menschen versuchen, Schnee zu schmelzen, um Trinkwasser zu gewinnen. Mariupol 19. März 2022. Foto: Nikolai Trishin, Fotogalerie von Radio Svoboda).

In der Nacht wurde bombardiert, man gewöhnt sich an alles, auch daran. Es ist nur beängstigend, wenn ein Flugzeug über das Haus hinweg fliegt… Es ist erstaunlich: Seit 20 Tagen beschießt man uns dauernd mit allen möglichen Waffen und bombardiert uns von Flugzeugen aus, und man gewöhnt sich an diese Erschütterungen durch die Kanonade der Explosionen. Andauernd ist da die Angst, die innere und äußere Kälte, der Wunsch sich zu waschen, sauberes Wasser zu trinken und normal zu essen – an etwas Höheres denkt man nicht mehr, keine Kunst, Literatur, Malerei; es sind nur noch die Überlebensinstinkte. Das Gebet und das Lesen von Psalmen helfen. Ja, es gibt auch viel körperliche Arbeit, man muss sich um Feuerholz, die Wasserversorgung, das Räumen der Splitter von zerborstenen Geschossen auf dem Hof, man wird immer müder. Die Tränen von Tante Valja, Mamas unnötige Ratschläge und Anweisungen, die Aggression des Schwiegervaters, der Mangel an Wasser, Licht und Wärme fangen an, mich zu ermüden… Ich warte auf den zweiten Atem, hoffe auf G“ttes Erbarmen.

Es geht das Gerücht um, dass man am Hafen Mitarbeitern Arbeitsbücher ausgibt. Der Hafen hat am 26. Februar seinen Betrieb eingestellt, doch die Hafenverwaltung hat Wohnraum auf einem Eisbrecher organisiert, für Mitarbeiter, deren Häuser zerstört wurden. Die Verwaltung hat die Menschen noch eine Weile mit Lebensmitteln unterstützt, auf dem Hafengelände waren zu der Zeit noch ukrainische Truppen. Wobei aktiv Gerüchte verbreitet wurden, dass im Hafen schon russische Schiffe stehen. Mein Bruder Jura und meine Nichte Zhenja konnten auf Fahrrädern hinfahren, um Arbeitsbücher zu holen, und haben das Gerücht über die russischen Schiffe in die Welt gesetzt. (Wenig später standen dort tatsächlich zum Angriff bereite Kriegsschiffe und beschossen die Stadt vom Meer aus.)

18. März 2022

Völlig ausgebrannte Häuser unweit von „Port City“, Mariupol. 19. März 2022. Foto: Pavel Klimov, Reuters (Fotogalerie von Radio Svoboda).

Heute habe ich erfahren, dass Nastja (Tochter) schon in Tschechien ist und Olja (Schwiegertochter) in Deutschland. Es ist gut, dass ihr all dieses Grauen nicht seht, bleibt für immer dort, hier gibt es nicht so bald irgendwas. Es wäre schön, wenn Artur (Schwiegersohn) es schaffen würde, zu Nastja durchzukommen, doch ich verstehe, dass es jetzt unrealistisch ist, denn er hat den Weg des Kriegers gewählt und verteidigt unsere Heimat.

(Zu der Zeit schien mir, als würde dieses Grauen niemals enden, die Stadt zerfiel vor unseren Augen, wie Häuser auf Sand, man beerdigte die Menschen in den Höfen von Hochhäusern und in Gemüsegärten, es lagen aber auch viele Leichen einfach auf der Straße, dort wo der letzte Moment des Lebens sie ereilte. Solche Herausforderungen wünscht keine Mutter der Welt ihren Kindern.)

Uns erwartet die Volksrepublik Donezk, wie wir weiterleben sollen, weiß ich nicht. Ich lebe von Tag zu Tag mit einem Wunsch: zu überleben und dass das Haus stehenbleibt und heil bleibt. Weiter weiß ich nicht. Allein der Gedanke, dass hier ein TERRITORIUM, kein Staat, sein wird, ist gruselig und traurig. Diese Isolation von der ganzen zivilisierten Welt ist ein dunkles Loch. Ich will nicht in der Volksrepublik Donezk leben, in einem Land, die meine Welt zerstört hat. Doch daran denke ich später – wie Scarlett O’Hara – jetzt aber muss ich im Kamin Suppe und Brei für die Omas kochen. Außerdem sind es, als wäre es Absicht, -10° bis -12°C, das Zittern ist zum normalen Zustand geworden. Es fühlt sich an, als wäre ich in irgendeinen Horrorfilm geraten, hoffentlich hat er ein Happy End.

Ich liebe euch, meine Kinder und Enkelkinder, ich bete für euch, trinkt für mich einen Kaffee in einem Café und nehmt ein heißes Bad… ich werde es aushalten… ich küsse und umarme euch!!!

19. März 2022

Mariupol, Primorskij Bezirk, Kavkazkaja Straße, nach dem einschlag vonzwei Hagelgeschossen und einer Fliegerbombe. 18. März 2022. Foto: Telegram-Nachricht „MARIUPOLNOW“.

Seit heute Morgen wird geschossen.

Die Stadtteile Bachchik, Komsomolez, Balka und die Richtung nach Melekino (das ist der Stadtteil Primorskij und Vorstadtsiedlungen, von meinem Haus ist das alles fünf bis zehn Kilometer entfernt). Gestern wollten viele Leute die Stadt mit Autos verlassen, die Schlange in Richtung Melekino begann am Geschäft „Grazia“, oder besser gesagt an seinen Überbleibseln, das sind etwa 15-20 km bis zur Stadtgrenze. Es findet eine Säuberung statt, einmal kam ein Flugzeug an, die Ukrainischen Streitkräfte werden in Richtung Rybatskij (Vorort von Mariupol in Richtung Berdjansk) verdrängt.

Heute holte man mit einer Pumpe Wasser aus der Quelle, jetzt wird es einmal in vier Tagen Wasser geben, das Benzin für den Generator geht zur Neige, wir haben es schon aus allen Autos und Motorrädern abgepumpt. Man lebt von Tag zu Tag… Jetzt ist es glasklar, was „hier und jetzt“ bedeutet. Man möchte, dass alles schneller vorbeigeht und dass sie aufhören zu schießen. Selbst im Albtraum konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich in so ein Leben gerate. Danke G“tt, dass wir am Leben sind!!! Ich schreibe jetzt am Kamin, während darin etwas zubereitet wird und man die Hände aufwärmen kann. Wir warten darauf, dass es wärmer wird, wir wollen die Sonne sehen…

20. März 2022

Dass geschossen und bombardiert wird, braucht man nicht mehr zu schreiben – das ist alltäglich geworden, findet nur an unterschiedlichen Orten in der Stadt statt, doch vor allem in unserem Stadtteil, Primorskij. Ich wache von der Schießerei aus einem Panzer in unserem Stadtteil um vier Uhr morgens auf, dann kommen die Grad-Raketen, und vorher flogen nachts die Flugzeuge. Eigentlich klingt der Ausdruck „ich wache auf“ seltsam, während aktive Kriegshandlungen stattfinden. Es ist die Zeit des Friedens, in der du dich in ein warmes, sauberes Bett legst, dich streckst, dich in die Decke einkuschelst, die kleine Lampe ausmachst und in süßen, tiefen Schlaf fällst. Jetzt ist es anders. Dein Bett ist weit davon entfernt, warm und sauber zu sein, du trägst keinen Pyjama, sondern einen warmen Sportanzug, darüber eine Pelzjacke mit einer Kapuze und eine Mütze; dann muss man zwei Decken um den ganzen Körper feststecken, um sich gegen Wind zu schützen; am Kopfende versucht die Katze unter die Kapuze zu kriechen, an den Füßen liegt der Hund, sie haben die meiste Angst vor den ständigen Explosionen – und das alles nennt man Schlaf…

Heute ist ein weiterer Nachbar, Slawik Stupak, abgereist. Die Lebensmittel gehen uns aus und die Menschen verlassen die Stadt auf alle möglichen Weisen. Es gibt Leute, die daran verdienen wollen, 250 $ pro Person bis Berdjansk. Es ist jedes Mal traurig, alle versuchen die Stadt zu verlassen, egal wie, zu Fuß und in Autos, es bleiben vor allem diejenigen, die die Kranken und Alten nicht zurücklassen können, die keine Mittel für die Abreise haben oder einfach nichts in ihrem Leben verändern wollen, auch wenn Krieg herrscht.

Ukrainische Nachrichten gibt es praktisch keine und das Radio Donezk kann man nur schwer länger als zwei Minuten hören. Ich liebe mein Land, die Ukraine, und bete dafür!

„Portsity“ nach der Ankunft der russischen Truppen. 19. März 2022. Foto: Telegramm-Nachricht „MARIUPOLNOW“.

PortSity vor dem Krieg, eines der schönsten Einkaufs- und Unterhaltungszentren in Mariupol.

 

21. März 2022

Schwarzer Rauch über der ganzen Balka, Cherjomushki brennt, Hochhäuser brennen, darin sind Menschen, kranke oder alte, diejenigen, die es nicht geschafft hatten, aus dem Haus herauszukommen; es brennen private Häuser, Geschäfte, Tankstellen, Krankenhäuser und Kindergärten, und überall hatten sich Menschen versteckt. Es wird pausenlos geschossen und bombardiert.

Es ist wärmer geworden, wir wärmen uns draußen auf, im Haus ist es kälter. Heute habe ich Artur telefonisch erreicht, die erste vertraute Stimme seit so vielen Tagen, jetzt weiß ich mehr darüber, wie es den Kindern geht, und es hat mich beruhigt. („Telefonisch erreicht“, noch ein Ausdruck aus der Friedenszeit. Ein gewöhnlicher Anruf auf dem Handy ist für uns die einfachste Möglichkeit, die Stimme eines Verwandten zu hören, Informationen zu bekommen. In jenen Tagen aber musste man es schaffen, das Telefon am Generator aufzuladen, während Wasser gepumpt wurde, was selten geschah, dann einen Moment erwischen, wenn das Feuer nachgelassen hat, und zu dem Punkt laufen, wo man Handyempfang bekommt, etwa 1,5 km von zuhause entfernt, sich dann hin und her drehen, bis man Empfang hat, und in der Position stehenbleiben, um miteinander zu sprechen. Und man hatte viel Glück, wenn man jemanden erreicht hatte. Ich habe probiert, alle bekannten Nummern aus dem Telefonbuch anzurufen, damit man den Kindern Bescheid gab, dass wir noch leben. Irgendwie hat es geklappt, jemanden zu erreichen, der die Stadt am ersten Tag des Krieges verlassen hatte und in dem Moment schon in Deutschland war; ich habe ihm erklärt, dass ich meine Schwiegertochter nicht erreichen kann und ihn bitte, sie nochmal anzurufen. Derjenige antwortete mir: „Dann versuchen Sie es doch über Viber.“ Ich verstand, dass wir nun auf dem gleichen Planeten, aber in verschiedenen Dimensionen lebten. Das Leben in Frieden ist ganz anders, mit anderen Gewohnheiten. Die Hölle, in der wir uns befanden, war natürlich unverständlich für die Menschen, die weiterhin in einer friedlichen Umgebung lebten. Deswegen möchte ich, dass die Leute wissen, wie schrecklich es ist – der Krieg – dass sie wissen, dass niemand davor sicher ist, dass sie den Frieden schätzen, ihn wirklich schätzen und alles tun, was jeder von uns Erdenbewohnern tun kann, damit sich so etwas nicht wiederholt.)

Es ist unheimlich und schmerzhaft, durch Cherjomushki zu gehen, Häuser sind zerstört, fünf- und neunstöckige Gebäude stehen wie riesige Invaliden, nicht ein Haus ist heil geblieben, das zerbrochene Glas liegt als dicke Schicht auf dem Asphalt, vor den Treppenhäusern haben die Leute Öfen gebaut, sie holzen die Bäume ab und kochen, was man aus den kargen Vorräten zubereiten kann. In die Wohnungen geht man nicht, man wohnt in den Kellern, die Gesichter… alle sind müde. In Blumenbeeten sind Grabstätten. Ganze Familien mit Kindern, Kreuze aus abgeholzten Bäumen und handgeschriebene Schilder, wer, und das ungefähre Datum. Alle Geschäfte, Apotheken und die Post sind geplündert worden, man trägt alles hinaus, was man im Feuer verbrennen kann. Die meisten, die eine Möglichkeit haben, sind weggefahren.

*Die erklärenden Anmerkungen der Autorin sind kursiv geschrieben

(Anmerkungen: Veröffentlichung im Demokratischen Salon am 26. Juni 2023, Einrichtung der Texte Norbert Reichel, letzter Zugriff auf Internetlinks im Text am 26. Juni 2023.)