Das Tagebuch von Mariupol – vierter Teil

Bericht der Augenzeugin Nataliia Sysova

Seit April 2023 veröffentlicht das Magazin des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe (J.E.W.) in jeder Ausgabe Auszüge aus dem Tagebuch von Nataliia Sysova, Augenzeugin der schrecklichen Ereignisse, die auf dem Gebiet des eingenommenen Mariupol geschehen sind. Das Tagebuch beginnt am 24. Februar 2022 und endet mit der Flucht der Autorin im Juli 2022. Die Reihe wird fortgesetzt.

Wir danken der Redaktion von J.E.W., namentlich Herrn Ramiel Tkachenko, dass wir das Tagebuch auch im Demokratischen Salon samt der diesen illustrierenden Fotografien veröffentlichen dürfen. Der erste Teil dokumentiert die Tage vom 24. Februar 2022 bis zum 9. März, der zweite Teil die Tage vom 10. bis zum 16. März, der dritte Teil die Tage vom 17. bis zum 21. März 2022, der vierte Teil die Tage vom 22. März 2022 bis zum 26. März 2022. Anschließend verweisen wir auf vier Dokumente der Zerstörung, darunter eine Reportage der WELT.

Die umfangreiche Materialaufbereitung verdankt J.E.W. Irina Barusukova. Die Kopien des handschriftlichen Tagebuchs werden sorgfältig in der J.E.W.-Redaktion aufbewahrt. Die J.E.W.-Redaktion verweist auf Google Maps mit Fotos und Videos der totalen Zerstörung und der Vernichtung der Stadt Mariupol.

22. März 2022

Panzer der russischen Armee fahren am 11. März am Stadtrand von Mariupol eine Straße entlang. Foto: AP Photo / Evgeniy Maloletka

Heute sprach ich 20 Minuten mit Maxim!!! (Mein Sohn, der zu Beginn des Krieges auf Dienstreise in Amerika war.) Durch welches Wunder ich ihn telefonisch erreichen konnte, weiß ich nicht. (Später hat sich herausgestellt, dass er mich nicht erreichen konnte und jedes Mal Geld auf mein Telefonguthaben eingezahlt hat, weil er dachte, das Problem bestehe darin. Dies sind Kategorien, in denen man in friedlichen Zeiten gedacht hat, deswegen hat sich eine ordentliche Summe fürs Roaming angesammelt und ich habe ihn erreicht, einen weiteren Versuch unternehmend, vertraute Stimmen zu hören.) Zu der Zeit wurden ukrainische Mobilnetz-Betreiber schon stummgeschaltet, doch an einigen „glücklichen Orten“ konnte man doch noch durchkommen. Später wird es auch diese Möglichkeit nicht mehr geben. Die ukrainische Mobilfunkverbindung wird gekappt, andere Quellen der Verbindung wird es auch lange nicht mehr geben.

Dann rief Olja an (die Frau des Sohnes) – so viel Freude an einem Tag hat es lange nicht mehr gegeben. (Vor dem Krieg waren das aber die gewöhnlichen Momente des Lebens.) Alle meine Kinder bestehen darauf, auszureisen, es fällt ihnen schwer zu verstehen, dass die Stadt abgeriegelt ist, es kein Benzin gibt (was übrig war, hat man für die Generatoren abgelassen) und die Mutter, die sich in friedlichen Zeiten jederzeit hinters Steuer setzte und jede Entfernung zurücklegte, jetzt hier fest sitzt, durch eine Menge von Umständen an Händen und Füßen gefesselt, und nicht einmal bis Melekino fahren kann, was nur 10 km von der Stadt entfernt ist und wo es alles gibt: Licht, Wasser, Wärme, Verbindung. Zu ihnen fahren kann ich noch nicht, weder zu Olja noch zu Nastja. Arthur besteht auch darauf, in die Pension Melekino herüberzufahren, die Schlüssel liegen für mich bereit. ICH KANN NICHT! Danke, Kinder, dass ihr euch kümmert! Das gibt zusätzliche Kraft und festigt den Willen, zu überleben. Ich liebe euch und hoffe sehr auf ein Treffen!

Die Omas und der Opa sind meine hauptsächlichen Anker! 80, 84 und 86 Jahre alt, eine Menge Wehwehchen, seniles Grummeln, auch wenn man sie verstehen kann, die Kinder des Zweiten Weltkrieges sind im Alter in ihre schreckliche Kindheit zurückgekehrt und sind wieder hilflos, erschrocken, sie frieren und ich kann nicht sagen, dass sie Hunger leiden, doch das Essen und die Freude am Leben sind sicher nicht im Überfluss. Solange ich nicht sicher sein kann, dass für sie gesorgt sein wird, kann ich nicht wegfahren. Die Möglichkeit zusammen auszureisen wollen sie nicht einmal in Betracht ziehen – „sterben werden wir hier“.

Ich möchte ein heißes Bad, ein sauberes Bett und Stille. Welch einfache Dinge am wichtigsten geworden sind und wie ich es früher nicht einmal bemerkte, es waren gewöhnliche Elemente des friedlichen Lebens.

Die Stadt … so schön war die Stadt am Meer und jetzt bist du fort, nur noch Ruinen sind übrig.

23. März 2022

Wohnhochhäuser in Trümmern. Foto: Telegram-Nachricht „MARIUPOLNOW“, Ukraine, 24. März 2022.

Heute ist wieder ein Fest – zwei Gespräche mit Arthur und Nastja!!! Ich habe Nastja und Manjusha (meine Enkelin Alicia war zu der Zeit 1 Jahr und 5 Monate alt) gehört, meine lieben Mädchen. Ich bin glücklich, dass meine Kinder selbstständig sind, ich mache mir keine Sorgen um sie, man braucht ihnen nicht beim Laufen zu helfen, sie machen alles richtig. Olja wartet in Deutschland, Nastja in Tschechien. Man sucht Freiwillige, Benzin für mich … Am Abend habe ich geweint, hatte große Sehnsucht und war wahrscheinlich auch müde von den Explosionen, der Kälte, dem Ruß und vielem mehr … Ich bin mir sicher, dass früher oder später Mariupol eine schöne ukrainische Stadt in der europäischen Familie sein wird! Ich will in einem demokratischen Staat leben, nicht in einem autoritären, und ganz bestimmt nicht auf einem Territorium, dass von der ganzen Welt nicht anerkannt wird; es ist nicht mal mehr wie in den 90ern, es ist ein Albtraum und man möchte schneller aufwachen.

Die Flugzeuge bombardieren, ich lief von Tscherjomushki nachhause, von der Stelle, wo es telefonischen Empfang gibt, in der Nähe gab es Explosionen.

24. März 2022

Seit dem Morgen herrscht ein solcher Schusswechsel ganz in der Nähe, heute gehe ich nicht zum Telefonieren, es ist sehr gefährlich, ich koche im Hof Mittagessen auf dem Grill. Heute gibt es Erbsensuppe, Erbsen in Wasser mit Zwiebeln und Karotten angereichert, von gegrillten Rippchen träumen wir nicht einmal, Zwieback gibt es auch nicht und Brot gibt es auch lange nicht mehr … ich habe den Omas und dem Opa zu essen gegeben. Es schmerzt, auf die Hände zu schauen, der Ruß hat sich festgefressen und die Haut an den Ecken der Fingernägel ist brüchig geworden, es sind tiefe kleine Wunden, die nicht über Nacht heilen, so sieht jetzt die Maniküre aus. Aber das macht nichts, das kann man ausbessern…

Heute werde ich im Haus aufräumen, ich will dem Krieg nicht an allem die Schuld geben und das Haus verkommen lassen, ich halte Ordnung, so gut ich es unter diesen Umständen kann. (Später habe ich erfahren, dass solche Handlungen in der Psychologie „Ablegen von Ängsten“ genannt werden: Angstzustände durch körperliche Arbeit überstehen. Auch wenn es genug körperliche Arbeit gab, sogar mehr als nötig, gab es so viel Angst, dass man sie schwer messen und auf physikalischer Ebene bewerten kann, es ist eine animalische Angst und der Kampf ums Überleben.) Vielleicht schaffe ich es in die Sauna der Nachbarn, heute ist Frauentag. Alle zwei Wochen haben die Nachbarn mit Holz in ihrem Keller die Sauna angeheizt, um die Mutter zu waschen, der Krebs war der Hauptgrund für die Schwäche meiner Nachbarin Galina, G-tt hab sie selig, sie hat den Krieg nicht überlebt, sie hätte in die Klinik nach Kiew für weitere Behandlungen fahren müssen. Es hat nicht geklappt … die Stadt ist abgeriegelt und es gab niemanden und keine Stelle, um in der Stadt Hilfe zu leisten.

Die Sauna wurde schnell kalt, man hat uns nicht gerufen, wir badeten bei uns in der Wanne bei 7°C, doch der so mühsam erhitzte Eimer mit heißem Wasser sollte nicht verschwendet werden. Auch wenn es kalt ist, ist es besser als nichts …

Am Abend kamen die Kraniche angeflogen … Krieg und Frieden …

25. März 2022

Wieder wurde die ganze Nacht bombardiert und es kamen neue, gewaltigere Explosionen aus Geschützen dazu. Nah, ganz in der Nähe. Heute lief ich wieder zum Telefonieren und hörte die vertrauten Stimmen. Ich habe mich sehr erschrocken, als irgendeine raupenförmige Technik mit den Jungs von den ukrainischen Streitkräften vorbeifuhr. Erst hörte man ganz nahe das laute Geräusch einer sich nähernden Rakete, dann tauchte auf dem Weg das da auf (ähnlich einer Selbstfahrlafette).

26. März 2022

Auf der Parussnaja (Nachbarstraße) wurde um 5 Uhr morgens ein Privathaus zerbombt. Das Haus ist abgebrannt, im Keller haben Leute überlebt: sechs Erwachsene und zwei Kinder. Es stellte sich heraus, dass es Verwandte der Koroljowy sind, deren Haus auch abgebrannt ist. Ein Haus, das mit eigenen Händen mit viel Liebe gebaut wurde, mit einer Geschichte der Geburt und des Aufwachsens von Kindern in diesem Haus, mit Familientraditionen und Schaschlik an Feiertagen im Hof.

Ein zerstörter ukrainischer Radschützenpanzer vor einem zerstörten Wohnkomplex in der belagerten Hafenstadt, Mariupol 24. März 2022. Foto: Maximilian Clarke / dpa

Ich kann mich nicht damit abfinden, dass uns im 21. Jahrhundert russische Flugzeuge und russische Panzer erschießen. Denn in diesem Haus war niemand außer zivilen Einwohnern. Gegen wen führen sie Krieg??? Wie lange werden solche Herausforderungen noch dauern? Antworten gibt es noch nicht.

Heute pumpten wir Wasser, ich bin wieder im Hof dran. Viele haben bereits Herzanfälle, Panikattacken, Müdigkeit …

Ich versuche Tolik (Schwiegervater) nach Aksaj zu schicken, er hat dort Verwandte. Igor Stupak (der Nachbar) verspricht, ihn die Tage mitzunehmen, sobald er die Frage nach dem Benzin gelöst hat. Er versucht die Frau, das Kind und die Großmutter im Auto eines Freundes durch Rostow herauszubringen, sie sind schon zu fünft, doch er verspricht … dann bleiben nur die Omas, der Hund und die Katze. Für mich ziehe ich eine Flucht durch Russland nicht in Betracht, überhaupt nicht. Doch ich verurteile die jungen Leute nicht, jeder entscheidet für sich selbst. Das Leben der Familie steht auf dem Spiel und hier kommen die Geschosse jeden Tag näher.

Ich denke darüber nach, nach Melekino zu fahren, doch im Moment wird stark geschossen. Die Strecke nach Saporischschja ist geschlossen, aus Berdjansk fahren schon viele heraus, ich möchte nicht auf dem Weg ohne Tankstellen steckenbleiben, und das wäre nicht einmal die schlimmste Variante. G-tt, gib mir Kraft und Geduld!!!

27. März 2022

Nachts wurde nicht geschossen, doch morgens schoss man auf Tscherjomushki und Kirowka (ein Stadtteil neben Tscherjomushki), ganz nah, von der Nachbarstraße aus.

Niedergebrannte mehrstöckige Häuser und Oberleitungsbusse nach einem russischen Artillerieangriff. Foto: Telegram-Nachricht „MARIUPLNOW“, Ukraine, 24. März 2022.

Igor hat Benzin mitgebracht!!! Zwischen Mariupol und Melekino hat man zwei Straßensperren errichtet – eine davon durch russische Militärs, dahinter Miliz der Volksrepublik Donezk. Es hat geklappt, dort zu passieren, 10 km von uns entfernt gibt es alles. Die Männer werden bis auf die Unterhosen ausgezogen, man schaut sich ihre Tätowierungen, Spuren am Körper vom Tragen von Waffen, Verletzungen an. Man muss den Pass und das Arbeitsbuch bei sich führen, das nachweist, dass man vor dem Krieg in Mariupol gearbeitet hat.

Morgen plant man herauszufahren, ich mache Tolik für die Reise fertig, viele dieser Vorbereitungen lasse ich zwischen den Tagebuchzeilen, es gibt einen enttäuschenden Nachgeschmack, der Krieg offenbart leider nicht nur die guten, sondern auch die schlechten Seiten der Menschen.

Nach dem morgendlichen Beschuss verschwand die gesamte Verbindung! Und unsere Mobilfunk-Betreiber waren für uns nun für immer nicht erreichbar. Das Telefon hat nur noch eine Funktion, als Taschenlampe. Es ist wieder kalt geworden und es ist sehr windig. Über die Schrecken des Krieges möchte ich schon gar nicht mehr schreiben. Wer das nicht selbst gefühlt hat (wie Grishkowez schrieb: „Man muss hier nicht verstehen, man muss es selbst fühlen.“), der wird diesen Zustand NIEMALS begreifen!!! Und G-tt sei Dank ist es so! Beschuss, Angst bis zu Schüttelfrost am ganzen Körper, die Kälte, der Dreck, der Ruß überall: Das Zepter-Geschirr ist nichts mehr wert und unterscheidet sich nicht mehr von einem gewöhnlichen Emaille-Topf, alle Teller und Tassen sind ganz gewöhnlich, das Wichtigste ist die Menge der Lebensmittel richtig einzuschätzen, um die Alten durchzubringen … wie man überhaupt überlebt und morgens aufwacht, wenn man es denn geschafft hat zu schlafen, Nörgeleien und hysterische Anfälle der Menschen um sich herum zu überstehen, die durch Müdigkeit und Angst entstehen. Ständig kommen Leute zu den Nachbarn, meine Bekannten, deren Häuser und Wohnungen zerbombt wurden. Sie haben keinen Ort zum Wohnen mehr. Immer mehr von uns sind auf der Straße. Man kann nicht alles aufzählen, ich weiß schon nicht mehr, was mehr Angst macht – wenn sie schießen oder wenn es ruhig ist. Alle bitten nur um eines: Sie sollen aufhören zu schießen!!! Keine Psyche übersteht eine solche Anspannung für so lange…

(Fortsetzung folgt)

*Die erklärenden Anmerkungen der Autorin sind kursiv geschrieben

Dokumente der Zerstörung (alle auf youtube)

(Anmerkungen: Veröffentlichung im Demokratischen Salon im September 2023, Einrichtung der Texte Norbert Reichel, letzter Zugriff auf Internetlinks im Text am 20. September 2023. Titelbild: Ein Mann fährt mit dem Fahrrad durch das zerbombte Mariupol, 9. März 2022. Foto: AP Photo / Evgeny Maloletka.)