Das Tagebuch von Mariupol – zweiter Teil

Bericht der Augenzeugin Nataliia Sysova

Zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine veröffentlichte das Magazin des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe (J.E.W.) Nr. 17 (April 2023), Seiten 66-73, Auszüge aus dem Tagebuch von Nataliia Sysova, Augenzeugin der schrecklichen Ereignisse, die auf dem Gebiet des eingenommenen Mariupol geschehen sind. Ein zweiter Teil erschien in J.E.W. Nr. 18 (April 2023), Seiten 38-45). Der erste Teil durfte im April 2023 im Demokratischen Salon erscheinen, wir danken der Redaktion von J.E.W., namentlich Herrn Ramiel Tkachenko, dass wir auch den zweiten Teil, der acht Tage im März 2022 dokumentiert, samt der diesen illustrierenden Fotografien veröffentlichen dürfen. Ein dritter Teil wird folgen.

Die umfangreiche Materialaufbereitung verdankt J.E.W. Irina Barusukova. Die Kopien des handschriftlichen Tagebuchs werden sorgfältig in der J.E.W.-Redaktion aufbewahrt. Die J.E.W.-Redaktion verweist auf Google Maps mit Fotos und Videos der totalen Zerstörung und der Vernichtung der Stadt Mariupol.

Das Titelbild zeigt zerstörte Häuser und verwüstete Straßen in Mariupol am 9. März 2022 um 12.30 Uhr, Foto: Igor Smagliy.

10. März 2022

Ukrainische Rettungskräfte und Freiwillige tragen eine verletzte schwangere Frau aus einer durch Beschuss beschädigten Entbindungsklinik, 9. März 2022. Die Frau und das Baby starben nur wenig später. AP Foto/Evgeniy Maloletka.

Es wurde von fünf Uhr früh bis in den Abend geschossen. Es ist wieder der Bezirk 23 und etwas nähere Gebiete. Den ganzen Tag fliegen Flugzeuge, ihr Dröhnen ist schrecklich, es ist unklar, zu welcher Seite sie gehören (jetzt kann ich sagen, dass es russische Flugzeuge waren, es gibt inzwischen mehr Informationen über jene Tage, die wir in Kellern verbrachten – doch damals waren es nur Geräusche von Flugzeugen und Angst, weil es unklar war, wo die Bomben fallen). Überhaupt ist alles unklar – wer schießt, wo wessen Geschütze stehen, es ist einfach nur Kanonendonner, den ganzen Tag. Wenn es weiter weg ist als einen Kilometer, kommen wir alle in den Hof hinaus, zu den Grills und Öfen, wir haben uns an die Explosionen der Geschosse gewöhnt, man muss es rechtzeitig schaffen, Wasser zu erhitzen und irgendwas zu kochen. (Die Lage mit den Lebensmitteln wurde immer schlechter, die Geschäfte sind zerschlagen und ausgeraubt, es gibt keine humanitäre Hilfe, alle sammelten ihre ganzen Vorräte und teilten sie nach Tagen ein, doch auch dies ging zur Neige, es kam die Angst auf, dass ich es nicht schaffe, meine alten Leute durchzubringen. Ihre Kindheit war während des Zweiten Weltkriegs, sie erinnern sich an den Hunger…).

Ich verstehe, wie schwierig es jetzt für uns alle ist, besonders für meine Großmütter, denn ihre Krankheiten sind nicht verschwunden, der Krieg fügte nur noch hinzu, wie es ist, sich in ein kaltes Bett zu legen, in voller Bekleidung und in Mützen unter zwei Decken zu schlafen, mehrmals in der Nacht seine Notdurft zu verrichten – ohne Licht, nur dem Tastsinn nach – und sich wieder ins kalte Bett zu legen, dabei die ganze Zeit Explosionen der Geschosse hörend… Das Wort „baden“ wird zu einem Traum. Und dennoch ist auch das erträglich, aber wie ist es mit kleinen Kindern oder mit bettlägerigen Kranken? Die Nachbarin hat eine onkologische Diagnose. Wie soll das gehen?

Wir alle sitzen im Keller, überall ist Ruß, das Waschen von Kleidung ist im Moment auch ein Problem, die gewohnte Methode funktioniert nicht, weil es kein Licht und kein Wasser gibt. Ich bemühe mich, das Haus sauber zu halten, es ist eher ein Beruhigungsmittel als ein Bedürfnis.

Eine Frau geht an einem brennenden Wohnuas vorbei, Sonntag 13. März 2022. AP Photo / Evgeniy Maloletka.

Sie schießen die ganze Zeit, woher haben sie so viele Geschosse? Ich hörte im Radio (habe auf dem Telefon FM empfangen, die Telefone haben wir nacheinander bei den Nachbarn am Generator aufgeladen, haben Benzin von Motorrädern und Autos abgelassen, um nicht ganz ohne Verbindung zu bleiben) die Ergebnisse der Verhandlungen von Lavrov und Kuleba in der Türkei (es gab noch Hoffnung, dass dieser ganze Albtraum bald zu Ende ist), den unseren (Radiosender, Anm. d. Red.) hat man uns natürlich nicht hören lassen (Übertragung auf Radio DNR), Lavrov aber hat nichts Neues gesagt, so überzeugt zu lügen hat er in so vielen Jahren der diplomatischen Tätigkeit wahrscheinlich gut gelernt.

Ich küsse euch, meine Lieben, und liebe euch!

11. März 2022

Der Beschuss hat um 5:30 Uhr am gleichen Ort angefangen. Heute ist es sehr kalt, es ist viel Schnee gefallen, ich habe mich, mein Sohn, erinnert, wie wir ohne Gas überlebt haben, als wir das Haus gebaut haben, und bin hingegangen, um das Frühstück am Kamin zuzubereiten. Es hat geklappt, es gibt jetzt Holzvorräte im Haus, für den Fall, dass man wegen des Beschusses nicht auf die Straße gehen kann, habe ich gelernt, Holz von Kleinholz bis zu Holzscheiten zu hacken, auch wenn es keine Freude macht, gibt es im Leben viele andere angenehme Momente. Die Omas und der Opa sind satt und ich habe sogar Kaffee mit Konfitüre getrunken. Ich habe den Hof gereinigt, Igor Stupak (Sohn meiner Nachbarn, ist mit seiner Familie vor dem Beschuss des Stadtteils Wostochnij geflohen, ihre Wohnung und das Haus sind zerstört) kam an und hackte Holz für den Grill. Ich habe Fladenbrote aus Erbsen anstatt Brot auf dem Feuer im Hof gebacken und für Dima (Nachbar, 7 Jahre alt) Süßes, mit Kakaopulver, einen Schokoladenkuchen.

Serhiy Kralya, 41, wurde während eines Beschuss durch die russischen Streitkärfte verletzt. Er blickt nach einer Operation im Krankenhaus in Mariupol in die Kamera, 11. März 2022. AP Photo / Evgeniy Maloletka.

An die Explosionen der Geschosse haben wir uns gewöhnt, Hauptsache man rennt schnell ins Haus, wenn es in der Nähe ist, und schafft es nach unten bis zum Vorraum zum Keller. Igor (Nachbar) pumpte Wasser aus der Quelle, wieder haben wir im Hof eine Schlange am Zaun. Es ist ähnlich wie in Leningrad während der Blockade, die Menschen kommen mit Eimern, Behältern, Schüsseln, Plastikflaschen (die meisten kannte ich nicht einmal, man sagte Freunden weiter, dass man hier Wasser holen kann, und sie kamen von überall hergelaufen) und natürlich gibt es die aktuellsten Nachrichten, wer was wo gehört und gesehen hat. Schade, dass es gar keine guten Nachrichten gibt – ich habe beschlossen, mir die schlechten nicht anzuhören, davon haben wir auch so genug… Das Einzige, was erfreulich war, dass Kiew standhaft ist; ich hoffe, mein Mädchen (Tochter), dass bei dir alles klappt und ihr irgendwie zusammen überlebt. Wie gerne ich euch alle umarmen würde, meine Kinder und Enkel, meine Lieben, meine Teuersten. Ich gehe nach oben (ins zweite Stockwerk meines Hauses), dort gibt es Radioempfang, ich sitze in deinem Anglerstuhl neben deiner Kleidung, mein Sohn, die Sachen riechen noch nach dir, ich streichle sie.

Nastena (Tochter), deine Creme-Kerze ist sehr hilfreich, die Hände trocknen von Feuer, Kälte und Ruß aus und die Haut wird rissig und es gibt viele Wunden an den Händen. Abends zünde ich deine Kerze an, creme die Hände mit dem geschmolzenen Wachs ein und spreche mit dir, sehe dich, wie du sie mir geschenkt hast… Ich liebe dich. Wir überstehen alles, wir hoffen nur, dass sie aufhören zu schießen. Heute ist der 14. Tag, an dem wir bombardiert werden, und der 16. Tag seit Beginn des Krieges – aber es scheint eine Ewigkeit zu sein!

Jetzt schlafen wir alle unten, die Omas auf dem Sofa im Sportraum, ich aber habe ein Klappbett aus Odessa mitgebracht und es im Flur vor dem Heizungskeller aufgestellt, und in den Vorraum zum Keller zwei Sessel für die Omas getragen.

Wenn stark bombardiert wird, sitzen wir dort, da gibt es keine Fenster, es fällt kein Glas hinein und es gibt eine tragende Wand. Alles wird gut! Mit G“ttes Hilfe!!!

12. März 2022

Menschenn lassen sich in einem Bunker in Mariupol nieder, Sonntag 6. März 2022. AP Photo / Evgeniy Maloletka.

Um vier Uhr bombardierten sie von Flugzeugen aus, fünf Flugzeuge mit je drei Bomben, im Bereich des Saporischschja Verkehrstraktes (den Geräuschen nach bestimmten wir die Richtung, von meinem Haus aus sind es nur ein paar Kilometer). Es ist furchtbar und unheimlich, wenn man das Dröhnen des Flugzeugs hört und nicht weiß, wohin es fliegt. Danach war es still und wieder beängstigend, jetzt ist es neun Uhr und es schlagen Grad-Raketen ein. Ich schaffe es nicht einmal, daran zu denken, was jetzt dort mit den Menschen passiert, wohin das alles fliegt… Wieder fliegen die Flugzeuge. Mein Herr, hilf uns, rette uns und erweise uns Sündern Gnade!!!

13. März 2022

Seit dem Morgen bombardierten sie von Flugzeugen aus, und das für lange Zeit. Von der Stadt ist nur noch wenig übriggeblieben. Igor, Vetal und Jura Gubskij sind mit Fahrrädern zu einer Erkundungsfahrt aufgebrochen und brachten traurige Bilder auf ihren Telefonen mit: Viele zerstörte Häuser im Stadtzentrum, das Hauptziel der Fahrt war es, etwas zu essen zu finden, Geschäfte sind geschlossen, „Zerkalny“ (das Geschäft) öffnet manchmal noch, die Leute stehen ab fünf Uhr früh in der Schlange, um 2kg gefrorene Kartoffeln für 350 Hrywnjas (ca. 8,69 €, Anm. d. Red.) zu bekommen, sonst gibt es nichts. Alle warten auf humanitäre Hilfe, doch niemand versteht, wo und wann es sie gibt. Vetal hat es geschafft Olja (Schwiegertochter) und Nastja (Tochter) SMS zu schicken, doch sie kamen nicht an… wo seid ihr? Wie geht es euch? Wenn weniger bombardiert wird, versuche ich es, bis zum „Kaskad“ (Geschäft in Tscherjomuschki, dort gab es manchmal mobilen Empfang) zu laufen, dort hat man Empfang. Ich habe allen zu essen gegeben, es sind noch Vorräte für etwa sieben Tage übrig, weiter weiß ich nicht…

14. März 2022

Am 16. März 2022 warf ein russisches Flugzeug eine Bombe auf das Theater von Mariupol und tötete Hunderte von Zivilisten. Die Keller des Theaters dienten als Bunker für die Zivilbevölkerung. Foto: Reuters.

In der Nacht und am Morgen bombardierten sie von Flugzeugen aus. Die ganze Stadt, von diesem Dröhnen zieht sich innen alles zusammen. Tagsüber habe ich im Hof Essen zubereitet und direkt über dem Haus flog eine Rakete, über dem Kopf, sehr tief, in Richtung der Fabriken, mit dem Geräusch eines Schnellflugzeugs, nur schrecklicher. So eine schöne Stadt haben sie zerstört, und wofür??? Heute ist es warm geworden, alle sind draußen, im Haus ist es kälter. Von den Stepanischewyje bis zu den Schapowalowyje leben wir alle wie eine Familie (es sind 6 Häuser), die Zäune sind wie ausradiert (zu dem Zeitpunkt habe ich noch nicht gewusst, dass sie zwei Wochen später nach einigen Volltreffern auch im wörtlichen Sinn verschwunden sein werden), und das ist sehr unterstützend. Wenn ich noch wüsste, wie es den Kindern geht, wäre es leichter. Ich liebe euch, meine Liebsten!!!

15. März 2022

Ich mag schon nicht mehr über die Bombardements schreiben, ich weiß nicht, was von der Stadt übrig ist – die ganze Nacht bombardieren sie von Flugzeugen aus. Sie können die Stadt nicht auf dem Landweg einnehmen, also geben sie uns vom Himmel aus den Rest. Ich habe erfahren, dass Nastja in der Slowakei ist, wahrscheinlich ist das gut, Details gibt es nicht. Ich denke, dass Artur (Schwiegersohn) sie nicht alleine mit Manjunja (Alicia, Enkelin, 1 Jahr und 4 Monate alt) geschickt hat. Es gibt viele Fragen, doch die Hauptsache ist, dass sie am Leben und möglichst weit weg von diesem Schrecken sind. Wenn ich nur wüsste, wie es Artur selbst geht? (Wie sich später herausgestellt hat, war er in der Heimatverteidigung in Kiew.) Wo ist Olja mit den Kindern? Sie sind doch nicht etwa… Nein! Wir werden uns wiedersehen!!! Mögen die Mutter Gottes und der Herr euch beschützen, meine Kinder!!! Ich liebe euch!!!

16. März 2022

Zwei Seiten aus dem Originaltagebuch. Jüdische Gemeinde Recklinghausen.

Ich habe heute Nacht bis zu 59 Bomben von Flugzeugen aus gezählt, danach bin ich durcheinandergekommen, sie bombardieren die ganze Nacht. Heute bin ich in Mamas Wohnung gegangen, um die Reste ihrer Vorräte zu holen, das sind 200g Buchweizen und eine Packung Nudeln (ein neunstöckiges Haus in Tscherjomuschki, von hier aus zu Fuß sind es 10 Min.). Bin in einen Beschuss geraten, als ich in der 5. Etage war, das neunstöckige Nachbarhaus und das Krankenhaus der Eisenbahner wurden getroffen, das Haus begann wie ein Kartenhaus zu schwanken, ich dachte, ich komme dort nicht mehr raus, die Leute rannten nach unten, Schreie und Staub, es flogen Balken durchs Treppenhaus, ich aber wurde aus irgendeinem Grund langsamer, verließ die Wohnung (den Buchweizen habe ich übrigens nicht mitgenommen), schloss die Tür ab und begann nach unten zu gehen, über die Balken steigend. Der Hof war leer, es brannten nur Autos und irgendwas fiel herunter, aus dem Hauseingang nebenan rief irgendeine Frau hysterisch nach Kolja, ich aber ging langsam über den Hof und sah das alles aus irgendeinem Grund wie von der Seite, von oben: mich selbst, den Hof, die brennenden Autos, und das Haus, es war ein Gefühl, als wäre die Seele aus mir herausgeflogen.

Leute haben mich in den Keller des Nachbarhauses geschleppt, ich war die Letzte, die in Mamas Wohnung war – ein Geschoss hat das Haus getroffen, dann mehr als eins und alles ist niedergebrannt, danach aber kam noch mehr geflogen und vom Haus blieb nur die Rückwand übrig. 9 Stockwerke, 8 Hauseingänge, nichts ist übriggeblieben. Leute, bettlägerige Invaliden, alle, die es nicht geschafft haben, herauszukommen, sind bei lebendigem Leibe verbrannt, viele sind im Hof umgekommen, sie hatten es nicht mehr bis zum Unterschlupf geschafft… in einem Haus ist das Schicksal der ganzen Stadt. Ich bin später zu Bewusstsein gekommen, auf dem Weg nachhause, Explosionen und Schreie hörend, hörte ich nicht auf, das „Jungfrau Maria, freue dich“ zu beten. Danke, mein G“tt, dass du mich am Leben gelassen hast… So schrecklich ist es noch nie vorher gewesen.

*Die erklärenden Anmerkungen der Autorin sind kursiv geschrieben

(Anmerkungen: die Veröffentlichung des ersten Teils im Demokratischen Salon erfolgte im April 2023, die Veröffentlichung dieses zweiten Teils im Juni 2023, Einrichtung der Texte Norbert Reichel, letzter Zugriff auf Internetlinks im Text am 16. Mai 2023.)