Demokratieförderung überflüssig?

Falsche Prioritäten im Bundeshaushalt

Im vergangenen Monat gab es drei Ereignisse, die immer dringlicher eine Antwort auf die Frage verlangen, wie wir die Zukunft des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats sichern wollen. Eine halbwegs positive Nachricht: die rechtsextremistische Vox-Partei verlor in Spanien deutlich und wird – zumindest vorerst – nicht Koalitionspartnerin des Partido Popular. Verwirrend war die Debatte um Äußerungen von Friedrich Merz zur Zusammenarbeit der CDU mit der AfD in den Kommunen. Befürwortet er sie, toleriert er sie oder lehnt er sie ab? Das bleibt ungewiss. Christian Bangel, der den Begriff der #Baseballschlägerjahre erfand, wies am 24. Juli 2023 in ZEIT Online darauf hin, dass die Proteste gegen die Äußerungen des CDU-Vorsitzenden zunächst hauptsächlich von West-Politiker:innen kamen. Aber wir wollen nicht spekulieren. CSU-Chef Markus Söder kopierte die Parole einer Bewegung, die er unter anderen Umständen wahrscheinlich nicht in den Mund genommen hätte: „Nein heißt Nein.“

Das dritte Ereignis betraf zwei Lehrkräfte aus einer Schule in Burg (Brandenburg), Max Teske und Laura Nickel, die rechtsextreme Umtriebe, An- und Übergriffe in ihrer Schule öffentlich anprangerten, aber wegen der fehlenden Unterstützung von Kollegium und Schulleitung die Schule verlassen mussten. Der Bundespräsident und der Ministerpräsident Brandenburgs solidarisierten sich mit ihnen, aber dabei blieb es dann auch. Eine sehr eindrucksvolle Solidaritätserklärung formulierte Lea Feynberg (Pseudonym) unter dem Titel „Einsamer Kampf“ in der Jüdischen Allgemeinen vom 20. Juli 2023. Die Autorin fragt mit Recht: „Wir sind dazu angehalten, unsere Schüler zu mündigen Bürgern zu erziehen. Doch sind wir alle, die die Schule mitgestalten, selbst mündig? Sind wir imstande und willens, unsere wertvolle und hart erkämpfte Demokratie zu verteidigen, auch wenn sich das Erreichen des Ziels steinig gestaltet?“ Ihr Fazit: „Nicht der Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus werden bekämpft, sondern die Menschen, die auf die Ausgrenzung anderer aufmerksam machen.“

Die Jüdische Allgemeine veröffentlichte in der Ausgabe vom 20. Juli 2023 auf der ersten Seite einen Artikel von Igor Matviyets, SPD-Politiker aus Halle, mit dem denkwürdigen Titel: „Die Koffer packen und gehen?“ Er zitiert den Publizisten Michel Friedman und den Chef des Thüringer Verfassungsschutzes Stephan Kramer, die gesagt hatten, bei einer Regierungsbeteiligung der AfD würden sie Deutschland verlassen. Keine neue Debatte: Michael Szentei-Heise hatte dies schon am 9. Januar 2020 in der Jüdischen Allgemeinen in einem Streitgespräch mit Nora Goldenbogen formuliert. Seine Positionierung war auch Anlass eines Interviews, das im Mai 2020 unter dem Titel „Nächstes Jahr in Jerusalem?“ im Demokratischen Salon veröffentlicht wurde. Marina Weisband berichtete (ebenfalls im Demokratischen Salon), dass sie immer einen gepackten Rucksack habe.

Igor Matviyets sagt, was zu tun wäre: „Unterdessen müssen wir Angekommene in Ostdeutschland wehrhafter werden. Im demokratischen Sinne müssen wir für Mehrheiten gegen die AfD kämpfen. Es braucht einen Konsens darüber, dass natürlich Parteien im Wettbewerb um die besten Konzepte für die Zukunft stehen, aber es keinen Überbietungswettkampf an rechtsextremen Ideen geben darf.“ Sehr deutlich wurde angesichts der Wirren um die Äußerungen von Friedrich Merz auch Gideon Botsch im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Er befürchtet eine „Selbstzerstörung der CDU“. Seine Diagnose: „Wir erleben seit Langem eine tiefgreifende, weltumspannende Krise der repräsentativen Demokratie, des demokratischen Verfassungsstaats, der zivilgesellschaftlichen Partizipation. Eingeleitet wurde dieser Prozess, davon bin ich überzeugt, mit der Zerstörung der Sozialen Demokratie vor ungefähr zwanzig bis dreißig Jahren.“ Bei den demokratischen Parteien fehle eine den Entwicklungen angemessene Analyse der Gefahr und jede Strategie.

Was das entschiedene Södersche „Nein“ tatsächlich bedeutet, lässt sich nicht allein an Kooperationen demokratischer Parteien mit AfD-Politiker:innen ablesen, sondern eher an der Übernahme von bestimmten Sprachmustern, insbesondere im Hinblick auf migrantisch gelesene Menschen. Gilda Sahebi hat am 24. Juli 2023 in der taz einige Beispiele genannt. Im Übrigen ist das nicht nur ein CDU-Problem. Die dänische Sozialdemokratie gilt mit ihrem extrem harten Kurs gegenüber Migrant:innen manchen deutschen Sozialdemokrat:innen durchaus als Vorbild.

All dies wäre eigentlich Anlass für Bundesregierung und Landesregierungen, Demokratiefördermittel, Mittel für Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung zu erhöhen, möglichst viele und attraktive Räume einzurichten, in denen darüber debattiert werden kann, wie wir unsere Demokratie erhalten und stärken könnten. Doch weit gefehlt. Das Demokratiefördergesetz, das der Deutsche Bundestag am 16. März 2023 in erster Lesung beraten hat, verdient seinen Namen nicht. Es enthält keine einzige verbindliche Aussage zum Haushalt. Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung sieht eine Kürzung der Mittel des Kinder- und Jugendplans um 44,6 Millionen EUR (das sind 18,6 Prozent) sowie der Mittel der Bundeszentrale für politische Bildung für die Träger politischer Bildung um 4,2 Millionen EUR (das sind rund 24 Prozent) vor. Weitere erhebliche Kürzungen betreffen Projekte wie HateAID (aus dem Haushalt des Justizministeriums), die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland. Darauf verwies Benny Fischer, Programmdirektor der Alfred-Landecker Foudation am 27. Juli 2023 in der Jüdischen Allgemeinen. Weitere die Demokratie untergrabende Kürzungen gibt es im Haushalt des Sozialministeriums für Programme der Wohlfahrtsverbände zur sprachlichen, beruflichen und sozialen Integration von Zugewanderten. Der Haushaltsentwurf sieht eine Reduzierung der Mittel um 24 Mio EUR, von 81,5 auf 57,5 Mio EUR vor, eine Kürzung um rund 30 Prozent. Die Mittel für Freiwilligendienste werden um 24 Prozent gekürzt, ein Digitalisierungsprojekt der Wohlfahrtspflege für soziale Angebote für benachteiligte Menschen wurde vollständig gestrichen. Günter Jek, Leiter des Berliner Büros der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, sprach am 10. August 2023 in der Jüdischen Allgemeinen von einem „Kahlschlag“ mit „Kettensäge“.

Eigentlich müsste die AfD anmerken, dass das Vorgehen der Bundesregierung aus ihrer Sicht ein Schritt in die richtige Richtung wäre. Wird sie vielleicht auch und zusätzliche Streichungsvorschläge ergänzen, wie sie das schon in manchen Landtagen getan hat und in ihren Wahlprogrammen fordert. Ich muss nicht darauf hinweisen, was eine AfD-Beteiligung an einer Regierung für Demokratieprojekte bedeuten würde, für Projekte der Erinnerungskultur, für den Geschichtsunterricht, für die historisch-politische Bildung, für Kunst und Kultur, für den Kampf gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, für die Integration von Zugewanderten. Das hat Maria Fiedler am 6. August 2023 im Tagesspiegel getan.

Das Kabinett beschloss den Haushaltsentwurf für das Jahr 2024 am 5. Juli 2023. Ob in den Haushaltsberatungen etwas geändert werden kann, werden wir sehen, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich. Das Innenministerium und das Sozialministerium werden von der SPD geführt, das Familienministerium von den Grünen, die FDP dürfte sich an den Kürzungen nicht stören, so ließen sich die Einlassungen von Linda Teuteberg vom 20. Februar 2023 in einem Streitgespräch mit Gerhart R. Baum in der ZEIT interpretieren. Ein „sogenanntes Demokratiefördergesetz“ gehöre nicht zu den „Kernaufgaben“.

Der Bundesausschuss politische Bildung (bap) reagierte noch am Tag des Kabinettbeschlusses. Der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB) veröffentlichte einen Tag später einen eigenen Aufruf. Er bemühte im ersten Satz die berüchtigte Floskel, die vor etwa drei Jahren für all die Berufsgruppen verwendet wurde, die man nicht einfach nach Hause schicken konnte: „Außerschulische politische Bildungsarbeit ist systemrelevant!“ Mit Ausrufezeichen. Er verwies auf den 16. Kinder- und Jugendbericht, der Vorschläge zur Stärkung der politischen Kinder- und Jugendbildung formulierte. (In den aktuellen Bildungsbericht von Bund und KMK hat es die politische Bildung leider nicht geschafft.)

Was im brandenburgischen Burg geschah, ist Alltag an vielen Orten, nicht nur in Ostdeutschland. Wer aufmerksam liest, wird immer wieder fündig. Wozu mangelnde Präsenz demokratischer Parteien führen kann, dokumentierte Josef Wirnshofer in der Süddeutschen Zeitung in einem sehr einfühlsamen Portrait der 37jährigen Julia Wortmann, die in einer alten Zechensiedlung in Essen-Karnap lebt. Sie war bis 2016 Mitglied der SPD, engagierte sich ehrenamtlich im Stadtteil, fand aber jetzt – wie sie sagt – ihr „neues Zuhause“ in der AfD. Über deren Ziele, deren rechtsextremistische Umtriebe weiß sie kaum etwas, darüber will sie auch nicht sprechen, aber sie weiß, wer in den letzten Jahren sich nicht um die Verhältnisse in Essen-Karnap gekümmert hat. Sie weiß auch nicht, dass die AfD in ihrem Programm – entgegen aller sozialpolitischen Rhetorik – wie die meisten rechtspopulistischen Parteien in Europa für ein neoliberales Gesellschaftsmodell steht. Gareth Joswig resümierte am 22. Juli 2023 in der taz: „Die AfD setzt auf Sozialneid, spielt dabei die verschiedenen Gruppen kleiner Leute‘ gegeneinander aus. Die programmatischen Forderungen der AfD bedeuten letztlich Umverteilung von unten nach oben.“

Was fehlt Menschen wie Julia Wortmann? Eine Art „Sicherheitsgefühl“, das ihren Stadtteil zur „Heimat“ machte? Es gibt durchaus Politiker:innen, die wissen, was Menschen brauchen. Einer davon ist ein junger Abgeordneter der CDU Sachsen-Anhalt im Deutschen Bundestag, Sepp Müller, der im August 2023 im Demokratischen Salon darüber spricht, wie es ihm in seinem Wahlkreis gelungen ist, die AfD zu besiegen. Eine ähnliche Analyse formulierte die sächsische Justiz- und Demokratieministerin Katja Meier (Bündnis 90 / Die Grünen) am 11. August 2023 im Gespräch mit Ferdinand Otto für ZEIT-Online: „Hier in Ostdeutschland sind ganz viele Begegnungsmöglichkeiten einfach weggefallen, gerade auf dem Land. Viele Menschen sind nach der Wende weggezogen. Viele Einrichtungen haben einfach zugemacht. Es gibt häufig keine physischen Orte mehr, wo Leute zusammenkommen können, um gemeinsam für ihre Gemeinde, für ihre Stadt, für ihren Landkreis Ideen zu entwickeln. Oder nur in Kontakt mit anderen zu kommen. Ich habe letzte Woche in Dresden ein Projekt besucht, das zeigt, dass es anders geht: Jugendliche mit unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen haben gemeinsam demokratische Regeln ausprobiert. Sie wurden gebeten, zu jeweils provokanten Fotos Stellung zu nehmen. Alle waren gezwungen, sich erst mal gegenseitig zuzuhören, andere Meinungen auszuhalten, aber dann auch Stellung dazu zu nehmen. Das macht im Kern politische Bildung für mich aus. Wir bringen Leute zusammen, die vielleicht sonst nichts mehr miteinander zu tun haben. Dafür braucht es mehr Geld, nicht weniger.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2023, Internetzugriffe zuletzt am 14. August 2023.)

letzt am 14. Juli 2023.)