Der Osten lebt – wie lebt der Osten?

Gespräche mit Sepp Müller MdB, CDU Sachsen-Anhalt

„Da hilft nur professionelles Arbeiten und sich genau zu überlegen, wie man Meinungsbildung betreibt. Wir fahren eine ruhige Koalition in Sachsen-Anhalt, auch wir haben Streitpunkte in der Deutschlandkoalition. Aber es ist eine Frage, wie man das innen moderiert und nicht über die Medien austrägt und die Leute völlig verrückt macht. Das schafft die Ampel doch bei vielen Themen, aktuell beim Ehegattensplitting. Soll wirklich so das ganze Sommerloch ausgefüllt werden? Wir haben Landtagswahlen in mehreren Ländern und brauchen ein professionelles Arbeiten. Was an Themen aus der Bundesregierung kommt, ist doch nicht verkehrt. Natürlich muss es eine Wärmewende geben, natürlich muss es eine Mobilitätswende geben. Aber ich muss doch handwerklich sicherstellen, dass eine Gesellschaft von 84 Millionen Menschen in der Lage bleibt, das alles zu verstehen. Es kann doch nicht sein, dass man einen Tanker derart hektisch steuert, dass die Leute über die Reling fallen.“ (Reiner Haseloff in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juli 2023 gegenüber seiner Gesprächspartnerin Iris Mayer)

Es lohnt sich, das gesamte Interview mit Reiner Haseloff zu lesen. Der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts differenziert die Sprachregister, die in politischen Debatten, Auseinandersetzungen, Wahlkämpfen gewählt werden. Er stimme Bodo Ramelow zu, der gesagt hatte, dass es nichts nütze, sich über die AfD zu „empören“, sondern dass man „ihr rational begegnen müsse“. Er plädiert dafür, nicht nur aktuelle „materielle Ängste“ anzusprechen, sondern auch die Erfolge der Transformationen der letzten drei Jahrzehnte. Diese sehe man beispielsweise in der Stadt Bitterfeld, aus der man „heute einen Luftkurort machen“ könne. Dies hat nicht nur mit Deindustrialisierung der 1990er Jahre zu tun, sondern auch mit der Ansiedlung weltweit agierender Firmen in Sachsen-Anhalt.

Der Gedanke eines rationalen Umgangs mit der AfD bedeutet natürlich nicht, dass man nicht gelegentlich deutlich werden dürfe. Boris Hermann und Iris Meyer beschreiben in ihrem Portrait Bodo Ramelows, das am 13. Juli 2023 in der Süddeutschen Zeitung erschien, einige Szenen, in denen er bei allem Verständnis für den ein oder anderen Unmut energisch einforderte, man möge ihm doch bitte auch zuhören. Ein Fazit dieses Portraits: „Ramelow vertritt die These, dass die Systemkritik auch deshalb im Osten so stark ausgeprägt ist, weil dort die eigenen Erfolge übersehen werden. Thüringen habe sich in den vergangen drei Jahrzehnten ökonomisch hervorragend entwickelt, sagt er, aber wir gestatten uns nicht, diese Stärke zu spüren‘. 60 Weltmarktführer gebe es in seinem Land, kleine und mittelständische Betriebe, die sich ihre Nische gesucht hätten – 60, diese Statistik erstaunt ihn immer wieder selbst. Und wahrscheinlich wird er nicht ruhen, bis er sie jedem Thüringer und jeder Thüringerin in jedem Feuerwehrgerätehaus und auf jeder Hans-Wurst-Kirmes persönlich runtergebetet hat. Auch darum geht es bei dieser Tour: ‚Allen mal zu zeigen, guck doch mal hin, was bei euch los ist.‘ Er meint das durchaus positiv.“

Schrödingers Osten

Zwei Ministerpräsidenten, der eine Mitglied der CDU, der andere Mitglied der Linken, beide im Ton gemäßigt, in der Sache vom Erfolg der Transformationen seit 1989 überzeugt. Beide gehören zu einer Generation, die Mitte der 1950er Jahre geboren wurde. Bei allen Debatten um Ost und West geht es nur oberflächlich um Himmelsrichtungen. Der Kern der Debatte sind Transformationsprozesse, deren Gelingen manche so sehr in Frage stellen, dass eine Partei sich als „Alternative“ positionieren kann und nach Wahlumfragen im Juli 2023 etwa ein Fünftel der Stimmen erhalten könnte, in einigen Bundesländern sogar bis zu einem Drittel, eine Partei, die in weiten Teilen inzwischen von den Verfassungsschutzbehörden zumindest als Verdachtsfall wenn nicht gar als gesichert rechtsextremistisch beobachtet wird.

Die Erfolge der letzten drei Jahrzehnte sind spürbar, gleichzeitig wirkt die Erinnerung an die sogenannte „Abwicklung“ von Betrieben der DDR in den 1990er Jahren, die zu Abwanderung in den Westen und zu Arbeitslosigkeit führten. Insofern wird verständlich, warum die vor allem mit der Klimakrise verbundenen Transformationen der nächsten Jahre viele Menschen verunsichern. Diese Stimmung versuchen CDU und Linke als Oppositionsparteien in Berlin aufzugreifen, doch ob dies gelingt, ist wiederum Gegenstand der Auseinandersetzungen. Und wer in den letzten drei Jahrzehnten vor allem eine Misslingensgeschichte sieht, wird kaum darauf vertrauen, dass die anstehenden Transformationen gelingen.

Für manche im Westen – und offenbar auch in der Bundespolitik – ist der Osten eine Black Box, die ein wenig an die Frage nach dem Zustand von Schrödingers Katze erinnert. Lebt der Osten oder ist er tot? Wir werden es erst erfahren, wenn wir die Black Box Ostdeutschland öffnen und wir sollten hoffen, dass Ostdeutschland lebt und nicht nur das: es sollten auch alle merken, dass Ostdeutschland lebt.

Einer der jungen Abgeordneten im Deutschen Bundestag, die uns helfen können, die Black Box „Osten“ zu öffnen, ist Sepp Müller. Er hat dank der Vorlieben seines Großvaters für Bayern und den FC Bayern München einen bayerischen Namen. Er trägt den Namen des legendären, aber auch nicht unumstrittenen Gründers der CSU, des Ochsensepps, kommt jedoch aus Sachsen-Anhalt. Allerdings hat sein Name – so der wikipedia-Eintrag – nichts mit dem Ochsensepp zu tun, wohl aber mit einem anderen vielleicht noch viel berühmteren Sepp, dem Torhüter des FC Bayern und der westdeutschen Nationalmannschaft Sepp Maier.

© Büro Sepp Müller MdB

Sepp Müller wurde am 22. Januar 1989 in Lutherstadt Wittenberg geboren. In seinem Wahlkreis Dessau-Wittenberg hat er in der Bundestagswahl 2021 ungeachtet der Verluste seiner Partei auf Bundesebene nicht nur sein persönliches Wahlergebnis aus dem Jahr 2017 gehalten, sondern auch noch das beste Erststimmenergebnis aller CDU-Abgeordneten in den östlichen Bundesländern erreicht. Die AfD verwies er – das ist in den ländlich und mittelstädtisch geprägten Wahlkreisen der östlichen Bundesländer ausgesprochen ungewöhnlich – auf den dritten Platz. Mehrfach wurde er in den Medien bereits als das Gesicht einer anderen CDU genannt, so zum Beispiel am 14. Juni 2023 von Boris Hermann und Robert Roßmann in der Süddeutschen Zeitung, die ihn mit dem durchaus provokativ gemeintem Satz zitieren: „Wir sollten uns weniger mit Dreiteiler und Einstecktuch in Talkshows setzen.“

Sepp Müller wirkt im Grunde wie ein Gegenbild zu seinem knapp vier Jahre jüngeren Kollegen Philipp Amthor. Sepp Müller ist aber auch nicht der Einzige in der CDU, der sich mit der Tonlage, in der seine Fraktion und seine Partei die Bundesregierung mitunter angreifen, nicht immer anfreunden möchte. Die Süddeutsche Zeitung zitiert neben ihm beispielsweise Serap Güler, Daniel Günther, Matthias Hauer und Mathias Middelberg, die sich gegen eine Tonlage wenden, die die ebenfalls konservative Journalistin Liane Bednarz, auch sie Mitglied der CDU, in der ZEIT „Krawallkonservatismus“ nannte. Diese Tonlage stärke die AfD und das dürfe nicht das Ziel einer Politik sein, die sich als Politik der Mitte verstehen möchte. Daniel Günther wird von Boris Hermann und Robert Roßmann mit dem Anliegen zitiert: „sprachlich sauber bleiben“.

Sepp Müller setzte sich in einer Kampfabstimmung als stellvertretender Fraktionsvorsitzender durch. Als Friedrich Merz Carsten Linnemann zum Generalsekretär der Partei ernannte, wurde Sepp Müller gefragt, wie er diese Berufung bewerte. Der Titel eines dieser Berichte zitiert Sepp Müllers mit folgendem programmatischen Satz: „Die CDU muss sozialer auftreten.“ Sepp Müller ist Mitglied der CDA, der Arbeitnehmerorganisation in der CDU, deren heutiger Vorsitzender der nordrhein-westfälische Sozialminister Karl Josef Laumann ist und zu dessen legendären Vorgängern Hans Katzer, Heiner Geißler und Norbert Blüm gehören. Er ist der einzige Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der sich als konfessionslos geoutet hat.

Wir haben zwei Mal ausführlich miteinander gesprochen, Ende April und Anfang Juli 2023. Zwischen diesen beiden Treffen hat sich die Stimmungslage jedoch verändert. Vor allem der Aufschwung der AfD in den Umfragen und ihre Wahlerfolge bei einer Landrats- und einer Bürgermeisterwahl in Thüringen beziehungsweise in Sachsen-Anhalt beschäftigten die Medien in hohem Maße. Ob diese hohe Aufmerksamkeit für zwei eher kleine Kommunen berechtigt ist, war eine der Fragen, die wir in unserem zweiten Gespräch erörterten. Am Tag des zweiten Gesprächs war darüber hinaus die Benennung von Carsten Linnemann als Generalsekretär der CDU eines der beherrschenden Themen. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, wie Wirtschafts- und Sozialpolitik einander bedingen. Beides – so Sepp Müller – sollte eine Einheit bilden. Vielleicht liegt darin auch ein Erfolgsversprechen für die anstehenden Transformationsprozesse.

Politik ist Mediation, Vermittlung, den anderen ernstnehmen

Norbert Reichel: Seit unserem letzten Gespräch hat sich die Situation zugespitzt.

Sepp Müller: Das ist korrekt.

Norbert Reichel: Kernpunkt sind die Umfragewerte der AfD, die inzwischen hinter der CDU an zweiter Stelle und damit vor der SPD und den Grünen liegt. Mitte Juli verzeichnen die Umfragen zur sogenannten Sonntagsfrage etwa jeweils 20 Prozent für diese Partei. Aus meiner Sicht schieben sich die demokratischen Parteien gegenseitig die Verantwortung zu. Aber es geht auch anders: Sie haben es in Ihrem Wahlkreis geschafft, dass Demokraten vorne liegen. Die AfD liegt nur auf Platz 3. Vielleicht beschreiben Sie die Strategie, mit der Sie das geschafft haben.

© Büro Sepp Müller MdB

Sepp Müller: Mein Team und ich haben in den vier Jahren der Wahlperiode zwischen 2017 und 2021 antizyklischen Wahlkampf betrieben. Wir waren regelmäßig vor Ort. Wir haben mit den Menschen Veranstaltungen durchgeführt, bewusst Themen aufgezogen, die außerhalb der uns zugeschriebenen Kompetenzen lagen. Wirtschaft und Sicherheit haben wir selbstverständlich auch benannt. Ich habe jedoch bewusst gemeinsam mit Fridays for Future eine Baumpflanzaktion entwickelt. Wir haben inzwischen etwa 65.000 Bäume gepflanzt, zwölf Hektar. Pro Hektar werden acht Tonnen CO2 eingespeichert, insgesamt 96 Tonnen pro Jahr. Ich habe dann Menschen von Fridays for Future mit Förstern zusammengebracht. Beide waren überrascht, welche Perspektive der ein oder andere hat. Das ist die Antwort auf Ihre Frage: immer unterwegs sein, den Menschen aufs Maul schauen, zuhören und immer versuchen, die andere Perspektive einzunehmen, warum jemand das so sieht, wie er es sieht.

Norbert Reichel: Haben Sie als Politiker dabei die Rolle eines Mediators?

Sepp Müller: Sehr häufig. Das Thema Mittler und Mediator war in der Legislaturperiode zwischen 2017 und 2021 allerdings ein anderes als heute. Damals stellte die CDU die Bundeskanzlerin. Es ging viel darum zu erklären, gerade während der Corona-Pandemie. Heute haben wir als Oppositionspartei eine andere Rolle. Jetzt muss ich nicht mehr die Politik der Regierung erklären, jetzt muss ich sie eher kritisieren. Das ist eine neue Aufgabe, die wir finden müssen. Wir müssen auch als größte Oppositionspartei sichtbarer werden. Welche Antworten haben wir? Wie gelingt es uns, diese besser zu den Menschen zu bringen?

Das geht nur, wenn wir zu den Menschen hingehen, außerhalb unserer Blase, uns dort treffen, wo sie sich selbst organisieren, bei Kaffeetreffen, von Rentnerinnen und Rentnern, in der islamischen, in der jüdischen Gemeinde, in der katholischen, in der evangelischen Kirche. All diese Gemeinden besuche ich regelmäßig in meinem Wahlkreis. Wir müssen auch einen guten Kontakt zu den Kommunalpolitikern haben, denn viele Themen, die mir begegnen, sind vor allem kommunalpolitisch zu klären. Und bei manchen Problemen wissen viele einfach nicht, wen sie wo ansprechen könnten, um ihr Problem zu lösen. Wenn wir miteinander sprechen, bekommen wir auch eine Lösung hin. Dann sind alle nicht nur zufrieden, sondern zeigen auch mehr Verständnis für die Dauer von Prozessen in der Demokratie, gerade in Berlin, bei all den unterschiedlichen Meinungen, die wir im Bundestag darstellen.

Norbert Reichel: Sie verwendeten eben den Begriff der Kritik. Kritik und Kritik sind nicht unbedingt immer dasselbe. Das Spektrum reicht von einer Fundamentalkritik an allem, was eine Regierung tut, bis hin zu einer konstruktiven Kritik, in der man Vorschläge macht, die in den parlamentarischen Beratungen eine Sache verbessern. Mein Eindruck: die AfD profitiert auch davon, dass berechtigte Kritik vom Ton her so vorgetragen wird, als ginge es um eine so grundsätzliche Frage, dass man eigentlich gar nicht mehr miteinander reden könnte.

Sepp Müller: Ich möchte jetzt die Sommerpause nutzen, damit wir in uns hineinhören und uns gemeinsam die Frage stellen, welche Art des Umgang wir finden können. Was Sie beschreiben, zeigt, dass auch wir in der Kommunikation Zuspitzungen verwenden, um politische Auseinandersetzungen anzustoßen. Ich glaube persönlich, dass das notwendig ist, um Probleme, die zum Beispiel mit der Migration zusammenhängen, in einem Wort zusammenfassen wie dem von den „kleinen Paschas“. Die Frage ist jedoch, wer das sagt, wann man es sagt und wie oft man es sagt. Ich persönlich denke nicht, dass die ein oder andere Wortwahl Rechtsaußen mehr beflügelt. Ich habe eher die Sorge, dass wir Sprachräume verstellen, sodass man bestimmte Dinge gar nicht mehr sagen kann. Das zum Thema Sprachpolizei. Gleichzeitig höre ich in der Bevölkerung, dass wir die großen Probleme im demokratischen Konsens klären müssen, sicherlich auch mit unterschiedlichen Herangehensweisen. Auf diese Streiterei haben die meisten Menschen eigentlich keine Lust.

Von der Schwierigkeit, über komplexe Themen zu sprechen

Norbert Reichel: Ist dann die Rede von den „kleinen Paschas“ nicht doch kontraproduktiv? Als ich den Begriff das erste Mal hörte, dachte ich, dass es davon auch eine ganze Menge in deutschen Familien gibt. Es klingt jedoch so, als gäbe es das nur in migrantischen Familien, vorwiegend mit einer türkischen oder arabischen Familiengeschichte. Ich lasse jetzt mal dahingestellt, ob ein solches Zitat „Rechtsaußen mehr beflügelt“, aber vielleicht ließe sich die Debatte um das mit dem Begriff angesprochene Problem, das es ja nun auch wirklich gibt, offener gestalten, damit wir aus diesen reflexhaften Reaktionen herauskommen. Vielleicht gibt es andere Worte, die nicht gleich jemanden vor den Kopf stoßen. Ich nenne noch ein anderes Beispiel. Es hilft wenig, jemanden, den ich für einen Faschisten halte oder der es vielleicht auch ist, als Faschisten zu bezeichnen. Damit erreiche ich nichts, sondern schaffe nur falsche Solidaritäten, weil sich dann eine ganze Reihe Menschen mitgemeint fühlen, die aber gar nicht gemeint sind. Das ist gerade auch von Bedeutung, um Menschen, die heute sagen, dass sie die AfD wählen wollen, die aber keine verfestigte rechtsextreme Einstellung haben, wieder davon zu überzeugen, dass es besser ist, eine demokratische Partei zu wählen.

Sepp Müller: Sie beschreiben die Herausforderung, über die ich mir persönlich viele Gedanken mache. Genau das besprechen wir auch in den Klausuren und Treffen in der Sommerpause. Ich persönlich glaube, dass wir mehr zuhören müssen. Menschen müssen sich nicht nur verstanden fühlen. Wir müssen uns mehr die Zeit nehmen, uns in deren Sicht zu versetzen. Wir müssen uns darüber Gedanken machen, warum in Ostdeutschland der Unmut intensiver ist als im Westen. Das hängt mit Vermögenswerten zusammen, die dort – im Unterschied zum Westen – nicht vorhanden sind, das hängt mit den geringeren Einkommen zusammen, mit dem Transformationsprozess der Vergangenheit, dass beispielsweise in den 1990er Jahren viele junge Frauen weggegangen sind.

Das hat mehrere Beweggründe. Es gibt nicht die eine Antwort. In unserer multimedialen Welt verfangen immer wieder der eine Zehn-Sekunden-Satz, das eine Wort, die in der Tagesschau gesendet und immer wieder perpetuiert werden können. Die Herausforderung besteht darin, dass wir die komplexe Welt erklären müssen, aber gleichzeitig überhaupt erst einmal an die Menschen herankommen müssen. Ein Satz, ein Wort soll dafür sorgen, überhaupt in die Debatte hineinzukommen. Auf der anderen Seite müssen wir die Menschen mitnehmen, abholen, Verständnis zeigen, diese multikomplexen Themen auch erklären. Aber Sie beschreiben es richtig: das ist schwierig, ich erreiche vielleicht zwei oder drei, stoße aber zehn vor den Kopf. Vielleicht wird am Ende die Antwort sein: ich weiß es nicht.

Etwa zwei Drittel bis zu drei Viertel der AfD-Wählerinnen und -wähler geben in der Nachwahlbefragung an, Sie hätten diese Partei aus Protest gewählt. Diese Aussage, diese Wahlentscheidung für eine Rechtsaußenpartei bedeutet, die Regierung macht es schlecht und die größte Oppositionspartei macht es auch nicht richtig.

Norbert Reichel: Hinzu kommt sicherlich, dass die CDU immer noch als Regierungspartei gesehen wird. So lange ist es nicht her, dass sie die Kanzlerin stellte, in fünf Ländern stellt sie die Ministerpräsidenten, in einem sechsten stellt ihn die CSU, der dritte Partner der Regierungskoalitionen zwischen 2013 und 2021.

© Büro Sepp Müller MdB

Sepp Müller: Der Protest richtet sich auch an uns. Und deshalb müssen wir die Sorgen und Nöte, die Angst ernst nehmen. Wir müssen die angemessene Sprache finden. Deshalb warne ich vor Sprachpolizei, aber ich warne auch vor einer Verschärfung der Debatte, die es uns kaum noch möglich macht, die Menschen wieder zurückzuholen. Wer heute in der Umfrage sagt, er würde die AfD wählen, macht in einem zweiten Schritt vielleicht dann wirklich das Kreuz bei dieser Partei. Wir müssen eine Antwort finden auf die ungleichen Einkommensverhältnisse, die ungleichen Vermögensverhältnisse, insbesondere in Ostdeutschland, wir müssen über die Tarifverträge sprechen. Ich bin deshalb auch in eine Gewerkschaft eingetreten.

Norbert Reichel: Darf ich fragen, in welche Gewerkschaft?

Sepp Müller: In die IG BCE. Auch wegen des Transformationsprozesses Braunkohle. Dieser und andere Transformationsprozesse zeigen uns, was zu tun ist. Wir müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie kann ich im Alter ein Auskommen haben? Die Grundrente war richtig, dafür habe ich mich eingesetzt. Aber wie schaffe ich es, mir einen Pflegeplatz zu leisten, weil richtigerweise die Lohnkosten für die Pflegekräfte deutlich gestiegen sind, aber auch die Beitragszahlungen für die Pflegeversicherung, vor allem im Osten? Das sind die Fragen, die hinter den Fragen zum Heizungsgesetz stehen. Deshalb sind die Leute auf dem Baum!

Die Leute fragen sich, wo sie das Geld für eine Wärmepumpe hernehmen sollen, um das Haus zu isolieren, eine Fotovoltaikanlage aufs Dach zu setzen. Das kostet mehrere 10.000 EUR. Dann heißt es: „Wir können uns nicht einmal den Pflegeplatz für die Oma leisten, wir müssen schon Grundsicherung beantragen.“ Das ist so multikomplex. Wir müssen das Heizungsgesetz ablehnen, auch hart ablehnen, auch in der Sprache, aber wir müssen gleichzeitig diese komplexen Themen bei jedem einzelnen Wähler, jeder einzelnen Wählerin ansprechen. Wir müssen Veranstaltungen machen, die Welt ist eben nicht schwarz und weiß, sondern ganz viel grau oder auch bunt.

Norbert Reichel: Bei jedem Einzelnen, das ist ein wichtiges Stichwort. Ich sehe das oft in den diversen Fernsehsendungen, der Tagesschau, in regionalen Magazinen. Dort werden zufällig Bürgerinnen, Bürger gefragt, die dann sagen, was ihnen nicht passt. Das wird dann verallgemeinert und man hat den Eindruck, alle sind nur Opfer einer schlimmen Politik. Aber es sind ja nicht alle Opfer. Es gibt doch auch viele andere Geschichten, die sich über und aus dem Osten erzählen ließen. Sie sagten mir in unserem ersten Gespräch, es müsste auch gesagt werden, was im Osten in den letzten 30 Jahren Gutes geschehen ist. Eben dies haben Reiner Haseloff und Bodo Ramelow, bei allen Unterschieden zwischen den Parteien, die sie vertreten, zuletzt mehrfach deutlich betont.

Sepp Müller: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in zehn oder zwanzig Jahren den Westen, Baden-Württemberg und Bayern als Nettozahler im Länderfinanzausgleich ablösen werden.

Norbert Reichel: Dann bin ich Ende 70 oder vielleicht schon Ende 80. Wir sprechen uns dann wieder. Wer weiß, welches Amt Sie dann haben.

Sepp Müller am 14.07.21 im Wahlkreis. / Foto: Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

Sepp Müller: Ich freue mich, wenn Sie mich dann daran erinnern. Das Amt ist mir nicht wichtig. Hauptsache, ich bekomme etwas in der Sache bewegt. Wir haben erneuerbare Energien, Intel kommt jetzt, sicherlich mit staatlicher Unterstützung, aber die nächste Investition zeichnet sich in der Magdeburger Börde ab, mit Software-Entwicklung, einem Forschungsinstitut aus den Niederlanden, das sich dort ansiedeln wird. Das macht Spaß zu sehen, was sich hier in der Region entwickelt. Natürlich haben wir Herausforderungen, natürlich haben wir spezielle Dinge, die man in Westdeutschland gar nicht so kennt, weil man auch die Biographie nicht hat. Aber wir haben einen Transformationsprozess erfolgreich vollzogen. Und es ist richtig und wichtig, dass wir auch den jetzt anstehenden Transformationsprozess gestalten. Wer kann das besser als jemand aus Ostdeutschland? Wenn wir mit diesem positiven Spirit da reingehen, dann bin ich davon überzeugt, dass die Mies- und Schlechtmacher nicht die Oberhand gewinnen. Wir müssen und können ostdeutsches Selbstbewusstsein stärken, da gibt es doch viele Erfolge, die uns Kraft geben!

Wo die Parteien der Mitte handeln müssen

Norbert Reichel: Aber wie bekommen wir diesen Spirit in die Leute hinein? Die Ergebnisse der Landratswahl in Sonneberg und der Bürgermeisterwahl in Raguhn-Jeßnitz scheinen ja eher darauf hinzudeuten, dass sich Mies- und Schlechtmachen lohnt. Wie dramatisch ist das Ergebnis in den beiden Kommunen?

Sepp Müller: Das ist eine ganz wichtige Frage, auf die es aber nicht nur eine Antwort gibt. Eine erste Antwort: man sollte eine Kommunalwahl auch nicht überhöhen. Das ist aber in beiden Fällen passiert. Alle Beteiligten, auch wir an der Bundesspitze, müssen uns die Frage stellen, ob es richtig war, diese Kommunalwahl vor Ort so zu gestalten, dass wir so etwas wie eine nationale Front gebildet haben. Diese führte dann zu Abwehrreaktionen.

Norbert Reichel: Ich stimme Ihnen zu. Ich habe mich ernsthaft gefragt, warum die demokratischen Parteien nicht Themen benennen, nach denen man die Kandidaten hätte befragen können. Da wäre manches vielleicht klarer geworden.

Sepp Müller: Ich würde mich auch freuen, wenn sich die Medien, die vierte Gewalt im Lande, die Frage stellten, welche Bedeutung sie einer solchen Wahl geben sollten, gerade auch in Leitmedien wie der Tagesschau. Geht es da wirklich noch um die Kommune, um das Feuerwehrgebäude, den Pflege- oder KiTa-Platz?

Wenn wir alle mal von den Höhen wieder herunterkommen, auf die wir uns begeben haben, sollten wir uns schließlich die Frage stellen, welches Personal wir bereitstellen. Raguhn-Jeßnitz gehört zu meinem Nachbarwahlkreis, im Landkreis Anhalt-Bitterfeld, für mich Betreuungswahlkreis.

Norbert Reichel: Diesen Wahlkreis hat der AfD-Kandidat knapp vor dem CDU-Kandidaten gewonnen, mit etwa 25 vor 24 Prozent der Stimmen.

Sepp Müller: Ich nenne ein weiteres Problem. Wir waren als Union die einzige Partei, die einen Kandidaten für das Bürgermeisteramt in Raguhn-Jeßnitz gestellt hat. Wenn es die demokratischen Parteien nicht einmal mehr schaffen, Kandidaten aufzustellen, auch wenn unserer im ersten Wahlgang nur sechs Prozent bekommen hat, dann dürfen wir uns als Parteien der Mitte nicht wundern, wenn am Ende solche Ergebnisse herauskommen. Ich glaube, wir sollten diese Ergebnisse nicht überhöhen, aber um Himmels willen auch nicht unter den Teppich kehren. Aber das Agieren der Parteien der Mitte, das Verhalten der Medien, gerade der Verzicht auf eigene Kandidaten – da haben wir uns schon selbst etwas zuzuschreiben.

Norbert Reichel: Hat das vielleicht auch etwas damit zu tun, dass die Infrastruktur fehlt? Ein Beispiel: viele Menschen brauchen Hilfe, wenn ein Brief von einer Behörde kommt, den sie nicht verstehen, sie brauchen Hilfe, wenn sie einen Pflegeplatz für die Oma suchen, Hilfe bei Mietproblemen oder auch eine gute und verlässliche Beratung, wenn es – nennen wir ruhig hier die Problemlage um das sogenannte Heizungsgesetz – um eine klimafreundliche Sanierung der Wohnung oder des eigenen Hauses geht. Wenn sie diese Hilfe nicht finden, entsteht Frust und Unmut. Wenn sie diese Hilfe finden, dann sind diejenigen, die diese Hilfe leisten, vielleicht auch diejenigen, die – wenn sie sich dann für ein politisches Amt bewerben – Vertrauen erhalten und auch gewählt werden. Ich kenne das aus dem Ruhrgebiet. Dort gab es früher ein enges Netz von SPD, Arbeiterwohlfahrt und anderen Organisationen. Der Kassierer kam zu Hause vorbei, man bezahlte, trank Kaffee und erhielt das Märkchen im Parteibuch. All das gibt es nicht mehr, das läuft nur noch digital und über anonyme Ämter, Ergebnis: die SPD hat im Ruhrgebiet ihre Basis verloren. In Baden-Württemberg erfuhr die CDU Ähnliches. Früher waren die örtlichen Vereine ihre Basis, aber die gibt es nicht mehr. Die Erfolge des dortigen Ministerpräsidenten haben auch viel damit zu tun, dass er im Schützenverein, in der katholischen Kirche aktiv ist. Die Partei, der er angehört, spielt dabei nur eine nachgeordnete Rolle, die CDU hat ihre Verankerung in der Bevölkerung verspielt.

Sepp Müller am 14.07.21 im Wahlkreis. / Foto: Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

Sepp Müller: Das ist die Antwort auf Ihre Frage. 75 Prozent der Dinge, die an mich herangetragen werden, sind kommunale Dinge. Das sage ich auch immer zu uns Hauptamtlichen, die alle mit ihrem Einkommen ein ordentliches Auskommen haben. Wir müssen vor Ort sein. Demokratie muss immer verteidigt werden. Demokratie ist anstrengend. Im positiven Sinne. Die Auseinandersetzung im Parlament ist das eine, das Engagement für die Menschen vor Ort ist das andere. Wer dies vier Jahre lang vernachlässigt, muss sich über schlechte Umfrage- und Wahlergebnisse nicht wundern. Dann werden die hauptamtlichen Strukturen einer Partei der Mitte verschwinden und eine andere Partei wird immer mehr in diese Lücke hineinstoßen. Den Bürgern ist es doch egal, wer sich um den Parkplatz für Behinderte kümmert. Hauptsache, der Parkplatz ist da. Es ist auch egal, mit welchem Parteibuch sich jemand um den Förderantrag für das Feuerwehrgerätehaus kümmert. Hauptsache, das Feuerwehrgerätehaus wird gebaut und eingerichtet. Wer sich darum erfolgreich kümmert, wird das auch im Wahlergebnis merken. Das hat bei mir in der Legislaturperiode zwischen 2017 und 2021 ganz gut geklappt. Wir müssen über die gesamte Zeit präsent sein und uns kümmern.

Norbert Reichel: Ihr Wahlergebnis bestätigt Ihre Strategie. Aber wie gehen Sie mit den Dingen um, die Sie persönlich nicht klären können. Sie können den Pflegeplatz, den KiTa-Platz, den Schulplatz nicht persönlich vermitteln, Sie können nicht die Aufgaben ganzer Behörden übernehmen. Manchmal habe ich aber den Eindruck, dass von den demokratischen Parteien verlangt wird, dass sie genau das tun. Von der AfD wird das nicht verlangt. Für diese Partei reicht es, wenn sie anprangert, wenn das Gewünschte nicht passiert.

Sepp Müller: Deshalb habe ich auch für mich entschieden, mich direkt mit der AfD auseinandersetzen. Nach den genannten beiden Wahlen war ich kurzfristig bei Klartext in ServusTV und habe die Dame von der Rechtsaußenpartei damit konfrontiert, wie sie sich bei der Entscheidung für den 300-EURO-Kinderbonus, für den sozialen Wohnungsbau, für den Corona-Schutzschirm, für den Digitalpakt verhalten hat. Ich habe das alles in etwas mehr als einer Minute aufgezählt. Es wurde von der AfD immer abgelehnt. Man muss die Partei in der Sache stellen. Wir müssen einfach zeigen, was es bedeuten würde, wenn diese Partei beispielsweise in Thüringen regieren würde. Würde ein Björn Höcke ukrainische Lehrerinnen und Lehrer weiterbeschäftigen? Oder würde er sie nach Hause schicken? Was bedeutet das Thema Familiennachzug für den syrischen Arzt im Essener Krankenhaus? Darf er seine Familie zu sich holen oder darf er das nicht? Laut AfD-Programm? Auf diese Fragen habe ich leider keine Antwort bekommen. Die Mitdiskutantin wusste schon, was die Öffentlichkeit sagen würde, wenn sie die Antwort geben würde, die in den AfD-Programmen steht.

Der Weg zurück zur Volkspartei

Norbert Reichel: Sie sind Mitglied der CDA. Ich habe oft den Eindruck, dass die CDA oft nur im Verborgenen wirkt. Heute war nun die Benennung von Carsten Linnemann zum CDU-Generalsekretär Thema in den Medien. Er gehört nun nicht zu den Sozialpolitikern, sondern zu den eindeutig als Wirtschaftspolitiker ausgewiesenen Aktiven der Partei. Rückt Sozialpolitik weiter in den Hintergrund?

Sepp Müller: Wir müssen etwas dafür tun, dass das nicht geschieht. Das wird auch Carsten Linnemann sehen, denn nur mit einer guten Wirtschaftspolitik kann es eine gute Sozialpolitik geben. Steigende Arbeitslosenzahlen würden auch zu steigenden Lasten für die Sozialversicherungen führen. Die Sozialversicherungen sind die Steuern des kleinen Mannes. Da kann ich uns in der CDU nur wirklich raten, gute Wirtschaftspolitik zu machen und mit einer guten Sozialpartnerschaft zu verbinden.

Es ist meine Aufgabe im geschäftsführenden Fraktionsvorstand, zumindest für die Bereiche Gesundheit und Pflege, die Hand zu heben und den Mund zu öffnen, wenn es um Sozialpolitik geht. Wie wird Rente zukünftig gestaltet werden? Wie kann sich jemand einen Pflegeplatz leisten? Wollen wir eine Teilkasko- oder eine Vollkaskoversicherung für die Pflege? Ich habe dazu einen Diskussionsprozess angestoßen, der inzwischen als Pflegepapier in der Fraktion abgestimmt wird.

Sie haben zu Recht angemerkt, dass der ein oder andere bei der Besetzung des Postens des Generalsekretärs gefragt hat, wo bleibt die CDA? Ich gehe davon aus, dass wir weitere solcher Anfragen bekommen werden. Nur gemeinsam kann es uns als Union gelingen, Volkspartei zu sein.

© Büro Sepp Müller MdB

Norbert Reichel: In unserem ersten Gespräch sagten Sie, dass für Sie in der CDU das „U“ wichtig sei. Das „U“ wäre dann vielleicht der Buchstabe, der den Gedanken der „Volkspartei“ ermöglicht. Aber „Volkspartei“ heißt heute ja etwas anderes als noch vor zwanzig Jahren. Früher konnten CDU oder SPD im Bund jeweils Ergebnisse von etwa 40 Prozent, mal etwas mehr, mal etwas weniger einfahren. Heute liegt die CDU in den Umfragen bei etwas unter 30, die SPD etwas unter 20 Prozent. Bei der letzten Bundestagswahl lagen beide deutlich unter 30. In den Ländern sieht es noch etwas anders aus. Die Partei der jeweiligen Ministerpräsidenten schneidet dort in der Regel über 30, auch mitunter über 40 Prozent ab. Andererseits haben CDU und SPD, wenn sie nicht regieren, oft Ergebnisse, die deutlich unter 20 Prozent liegen, die SPD manchmal sogar unter 10 Prozent. Es gibt auch mehr Parteien als früher. Die Grünen schneiden als Oppositionspartei in den Umfragen immer ausgesprochen gut ab, oft auch über 20 Prozent, als Regierungspartei liegen sie jetzt wieder deutlich darunter, die FDP liegt manchmal etwas über 10, zurzeit deutlich darunter, die aktuellen Umfragen für die AfD haben wir genannt. Wie kann eine Partei in dieser Gemengelage überhaupt wieder zu einer Volkspartei werden? Und dann haben wir noch die Debatte, welcher Flügel in welcher Partei das Sagen hat, im Falle der CDU ist das dann in der Regel die Frage des Verhältnisses zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die wir bereits ansprachen. Unterstellt wird immer ein Übergewicht der Wirtschaftspolitik.

Sepp Müller: Wir sind zurzeit mitten im Prozess der Aufstellung unseres Grundsatzprogramms, das wir im Jahr 2024 vor der Europawahl vorstellen wollen. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt, Botschaften zu senden, die die Union als Volkspartei ausmachen. Dazu gehört im Vorfeld auch die Frage nach dem Renteneintrittsalter. Muss es eine Rente mit 63 geben oder ist es sinnvoller, den Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben, den Renteneintritt zu ermöglichen? Das heißt dann für einen Maurer mit 61, für einen Journalisten heißt das vielleicht 75.

Norbert Reichel: Für einen Maurer sind 40 oder 45 Jahre Arbeit physisch etwas anderes als für einen Journalisten, es sei denn, dieser arbeitet vielleicht in Kriegs- und Krisengebieten.

Sepp Müller: Die Frage gehört dazu. Carsten Linnemann hat ja auch die Frage gestellt, was machen wir für diejenigen, die länger arbeiten wollen? Der Vorschlag ist charmant, dass jemand, der länger arbeiten möchte, dies dann steuerfrei tun kann. Ich denke darüber nach, wie wir die Pflege finanzieren. Wie nehmen wir die Betriebe mehr in die Verantwortung? Kann das in die Tarifverträge aufgenommen werden? Auch ein Unternehmen hat eine Verantwortung, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Alter gut versorgt sind.

Die CDU hat durchaus Möglichkeiten, wieder an die 40 Prozent heranzukommen und dass wir uns dann den Koalitionspartner aussuchen können. Das haben wir in Sachsen-Anhalt mit etwa 37 Prozent schon vorgemacht, das hat Daniel Günther in Schleswig-Holstein gezeigt, Hendrik Wüst nicht mit einem solchen, aber auch guten Ergebnis in Nordrhein-Westfalen. Um das zu erreichen, müssen wir aber die Grundsätze einen. Was bedeutet es, Christdemokrat zu sein? Ich bin froh, wenn der Prozess des Grundsatzprogramms abgeschlossen ist. Wir haben eine hohe Diskussionsbereitschaft, aber es führt auch zu unterschiedlichen Wahrnehmungen. Der eine ist für das, der andere für dieses. Das lässt sich journalistisch sicherlich schön aufbereiten, aber das hilft für die anstehenden Wahlen dann auch nicht weiter. Wir müssen mit einer Sprache sprechen. Wenn das gelingt, bin ich zuversichtlich.

Norbert Reichel: Diskussionsbereitschaft ist andererseits natürlich etwas Gutes, auch in einer Partei. Es ist eine andere Frage, wie das dann in den Medien und in der Bevölkerung rezipiert wird.

Sepp Müller: Das stimmt.

Norbert Reichel: Welche Rolle sehen Sie für sich selbst in diesen Prozessen? Welche Themen sind für Sie auf der Bundesebene vorrangig, damit Sie die von Ihnen beschriebene Aufgabe im Wahlkreis, in den Kommunen so gut wie möglich erfüllen können?

Sepp Müller: Wir brauchen bezahlbare Pflegeplätze und eine Altersabsicherung, mit der die Menschen leben können. Das ist eine große Herausforderung, vor allem im Osten. Und meine Strategie habe ich ja ausführlich beschrieben. Die Arbeit im Bundestag ist das eine, die Arbeit im Wahlkreis das andere. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2023, Internetzugriffe zuletzt am 18. Juli 2023.)