Demokratisch – Schüler*innen gestalten Schule

Das SV-Bildungswerk – eine NGO mit Zukunft

Das SV-Bildungswerk wurde 2005 gegründet. Ein wesentliches Ziel war ein systematischer Wissenstransfer für Schüler*innen, die sich in ihrer Schule engagieren wollen. Da Schüler*innen in der Regel nur einige wenige Jahre in ihrer SV aktiv sein können, besteht die Gefahr, dass mit der Aufnahme eines Studiums oder einer Ausbildung viel Wissen verloren geht. Das SV-Bildungswerk soll dafür sorgen, dass – das Bild mag erlaubt sein – der Staffelstab ohne Verluste weitergegeben werden kann.

Am 14. Januar und am 18. März 2020 habe ich mit Christian Mohr gesprochen, zurzeit geschäftsführendes Vorstandsmitglied des SV-Bildungswerks. Er ist 21 Jahre alt. Er studiert Soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Im SV-Bildungswerk arbeitet er ehrenamtlich, in der Regel etwa 20 Stunden pro Woche, sodass er mit Studium auf eine 60-70-Stunden-Woche kommt. Die Geschäftsstelle hat ihren Sitz in Berlin.

Wer ist das SV-Bildungswerk?

Norbert Reichel: Wie verhält sich eure Arbeit zu Landes- und Bundesschülervertretungen?

Christian Mohr: Wir haben uns zu einer Zeit gegründet, in der sich die Bundesschüler*innenvertretung gerade aufgelöst hat. In den ersten Jahren unseres Bestehens haben wir eng mit der Bundesschüler*innenkonferenz (BSK) zusammengearbeitet, die es auch heute noch gibt. Drei Bundesländer sind zurzeit jedoch nicht Teil der BSK. Das SV-Bildungswerk verhält sich neutral zur Struktur in den Ländern. Wir verstehen uns als Unterstützungsangebot, aber nie als offizielle Interessenvertretung auf Bundes- oder Landesebene. Wir sind auch nicht von der Frage betroffen, ob die Schüler*innenvertretungen auf Landes- oder Bundesebene ein allgemeinpolitisches oder nur ein schulpolitisches Mandat wahrnehmen können, auch wenn ich persönlich ein großer Fürsprecher des allgemeinpolitischen Mandats bin – Schule lässt sich von gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen aus meiner Sicht nie trennen. Als SV-Bildungswerk können wir frei entscheiden, ob und wenn ja welche Themen wir in welcher Form anbieten. Das hat natürlich auch etwas mit der Nachfrage zu tun, weil die Nachfrage wiederum die Finanzierung sicherstellen kann.

Norbert Reichel: Wie entscheidet ihr über die Themen eurer Arbeit? Wer kann mitbestimmen?

Christian Mohr: Mitarbeiten im SV-Bildungswerk können alle Schüler*innen, in der Regel auch noch einige Jahre nach ihrer Schulzeit. Das Höchstalter liegt in der Regel bei 22, das Durchschnittsalter bei 16 bis 17 Jahren. Viele Aktive legen im Alter von 14 bis 15 Jahren bei uns los. Unsere Satzung legt für die aktive Mitgliedschaft ein Höchstalter von 27 Jahren fest. Der Vorstand umfasst neun Personen. Im Netzwerk gibt es etwa 200 Personen, Mitglieder des Vereins sind 120 Personen.

Mindestens einmal im Jahr gibt es eine Mitgliederversammlung, in der über den Vorstand, den Haushalt, die Kassenprüfung und die Inhalte entschieden wird. Der Vorstand entscheidet in der Zwischenzeit. Allerdings sind die Mitglieder digital über die Plattform Podio vernetzt. Es gibt eine Fülle von Arbeitsgruppen, in denen Mitglieder, Vorstand und Büro zusammenarbeiten. Jederzeit können Themen eingebracht werden, die dann – wenn möglich – auch umgesetzt werden. Unser Ziel ist es, alle Mitglieder regelmäßig zu beteiligen. Wir entscheiden im Vorstand natürlich auch je nach Nachfrage. Wenn bestimmte Themen besonders häufig angefragt werden, müssen wir kurzfristig handeln können

Die Finanzierung

Norbert Reichel: Wie finanziert sich das SV-Bildungswerk?

Christian Mohr: Zur Gründungszeit wurden wir über das BLK-Programm (d.i. Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, eine Institution, die die Große Koalition 2005 auflöste) „Demokratie leben und lernen“ gefördert, zunächst als loses Netzwerk von aktiven Schülervertreter*innen. 2007 ergab sich für das SV-Berater*innen-Netzwerk eine Finanzierungsmöglichkeit über das von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung durchgeführte und mit EU-, Bundes- und Ländermitteln geförderte Programm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“. Zurzeit finanzieren wir uns über verschiedene Projekte, beispielsweise mit Mitteln des Bundesumweltministeriums zum Klimawandel. Wir hatten auch versucht, eine Finanzierung über das Programm „Demokratie leben“ zu erhalten. Dies hat das Bundesfamilienministerium jedoch abgelehnt, da wir uns um Schulen kümmerten, und an das Bundesbildungsministerium verwiesen. Mit dessen Unterstützung konnten wir unter anderem 2017 unseren großen Kongress „Learning by Doing – Demokratiebildung in der Praxis“ umsetzen.

Aufgrund des Kooperationsverbots im Bildungsbereich werden wir mit Ausnahme von Modellprojekten aber an die Länder verwiesen. Zurzeit erhalten wir in vier Ländern, Berlin, Bremen, Hessen und Rheinland-Pfalz, Mittel für Regionalnetzwerke. Mit Nordrhein-Westfalen sind wir im Gespräch.

Norbert Reichel: Bei den meisten Förderungen braucht ihr Eigenanteile. Wie erbringt ihr die?

Christian Mohr: Eigenanteile erbringen wir über die ausgesprochen großzügige Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik, die Stiftung Bildung, über einzelne Aufträge, z.B. über den OPENION-Bundeskongress der DKJS im September 2019 , die KMK-BMZ-Fachtagung zum Orientierungsrahmen „Globale Entwicklung“ im November 2019  sowie über gelegentliche Spenden. Geldwerte Eigenanteile wie unsere ehrenamtliche Arbeit werden leider fast nie anerkannt. Wir brauchen die Mittel, um Dauerkosten der Geschäftsstelle zu bestreiten. Zurzeit versuchen wir auch Mittel über Ehemalige, über Alumni einzuwerben.

Norbert Reichel: Während unserer beiden Gespräche hat sich etwas drastisch verändert. Der Corona-Virus legt das öffentliche Leben weitgehend lahm. Viele Betriebe haben Unterstützung des Staates angemahnt, um Insolvenzen und Arbeitslosigkeit zu verhindern. Für kleine Nicht-Regierungsorganisationen wie die Ihre ist das auch nicht einfach. Aufträge brechen weg, Veranstaltungen fallen aus. Wie gehen Sie damit um? Welche Unterstützung bräuchten Sie?

Christian Mohr: Alle unsere Seminare und Workshops fallen zurzeit aus. Da es keine Ausfallgebühren gibt, haben wir bis auf unsere Förderung für „Schule·Klima·Wandel“ einen 100%igen Ausfall der Finanzierung. Unsere laufenden Kosten sind nicht hoch, aber sie sind nicht kompensierbar. Bis Ende April 2020 arbeiten wir ausschließlich digital. Das ist für das Alltagsgeschäft eine große Veränderung, für die wir erst einmal Strukturen schaffen mussten. Wir haben immer schon viel digital gearbeitet, auch um Reisekosten zu minimieren, aber Buchhaltung von zu Hause ist Neuland.

Wir rechnen damit, dass viele Schulen auch bis zum Schuljahresende nicht mehr an unseren Projekten teilnehmen können, weil sie dann ausgefallenen Unterricht in irgendeiner Form nachholen werden. Es werden auch schon Veranstaltungen für den gesamten Sommer abgesagt, weil die Vorbereitungen nicht mehr leistbar sind. All das führt zu Einnahmeverlusten.

Es geht uns im Grunde nicht anders als in der Gastronomie. Ohne Publikum haben wir keine Einnahmen, bei bleibenden laufenden Kosten.

Wir befürchten auch, dass das Interesse für unser Thema zurückgeht, weil dann andere Themen im Vordergrund sehen, beispielsweise Gesundheit. Das sollte eigentlich nicht miteinander konkurrieren, aber wer weiß. Wir hatten noch nie langfristig Planungssicherheit. Diese sinkt jetzt noch weiter.

Norbert Reichel: Ich würde mir wünschen, dass das Programm „Demokratie leben“ oder vergleichbare Programme vor allem für kleine Nicht-Regierungsorganisationen eine Übergangsfinanzierung ermöglichen, möglichst unbürokratisch.

Die Ziele: Empowerment und Selbstwirksamkeit

Norbert Reichel: Ein Schwerpunkt eurer Arbeit ist die Beteiligung von Schüler*innen an Entscheidungsprozessen in der Schule.

Christian Mohr: Das war unser erstes Projekt, das wir seit 2007 umsetzen. Wir bilden Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren zu SV-Berater*innen aus, die dann in anderen Schulen die dortigen SV’en mit Seminaren und Workshops unterstützen. Neben den ein- oder mehrtägigen Seminaren begleiten wir aber auch gelegentlich die ein oder andere Schule über ein ganzes Jahr. Wir können leider bei Weitem nicht alle Anfragen erfüllen. Der Bedarf ist erheblich höher als unsere Kapazitäten hergeben.

Norbert Reichel: Was wollt ihr über die SV-Berater*innen erreichen?

Christian Mohr: Schüler*innen sollen ihre Schule gestalten. Sie sollen Verantwortung übernehmen können. Das ist nicht immer einfach durchsetzbar. Dazu sind neben dem Wissen über rechtliche Grundlagen und Strukturen auch Softskills und Gesprächsstrategien erforderlich, beispielsweise zur Überzeugung von Schulleiter*innen oder auch Verhandlungstraining.

Norbert Reichel: Wie sieht eure Arbeit konkret aus? Was vermittelt ihr in euren Seminaren und eurer Beratung?

Christian Mohr: Jede Zusammenarbeit hat ihren eigenen Charakter. Es ist ein großer Unterschied, ob wir einzelne Seminare oder einzelne Schulbegleitungen durchführen oder Seminare für größere Gruppen anbieten. Die erste Variante ist relativ aufwändig, da wir dann eine intensivere Vorbereitung machen. Wir stellen ein kleines Team zusammen, dass dort, wo die Begleitung gewünscht wird, konkret gearbeitet werden kann. Das können Themen aus dem Klimabereich sein, zum Thema Flucht und Migration, aber auch konkrete schulische Themen wie die Beteiligung von Schüler*innen an Entscheidungen in der Schule.

Wichtig ist uns, zu zeigen, dass Jugendliche die Schule und die Gesellschaft selbst mitgestalten wollen und dass sie selbst aktiv werden können. Wir gehen nicht pater- oder maternalistisch an die Schulen. Wir geben die Themen nicht vor. Ich würde unseren Ansatz gerne als „Empowerment“ charakterisieren. Wir wollen bei den Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, die Fähigkeit wecken, die eigenen Stärken zu entdecken und sich in unserer Gesellschaft zu positionieren, im Grunde ein Anstoß zum Erfahren von Selbstwirksamkeit.

Norbert Reichel: Wie verläuft unter diesen Prämissen eine längerfristige Schulbegleitung?

Christian Mohr: Auch da kommt es natürlich sehr auf die einzelne Schule an. Wir machen meistens ein Erstgespräch mit Schüler*innen, Lehrkräften und der Schulleitung und starten dann mit einem ersten Auftakt-Workshop. Dort schauen wir gemeinsam mit den Jugendlichen, was ihre Bedarfe und Wünsche sind und wie sie sich die Zusammenarbeit mit uns vorstellen. Je nachdem, wo die Schüler*innen stehen, geht es häufig mit den Basics und grundlegenden Zusammenhängen los. Im Laufe der Zeit arbeiten wir uns dann in weitere Feinheiten vor. Dazu gehören dann beispielsweise auch Kommunikationsstrategien. Die Schüler*innen möchten vielleicht ein großes eigenes Projekt oder eine Kampagne machen. Dann unterstützen wir sie bei der Planung und geben Tipps, aber ohne etwas vorwegzunehmen.

Einerseits wollen wir die Schüler*innen konkret bei ihren Aktivitäten unterstützen, anderseits aber auch den Blick für größere Zusammenhänge eröffnen. Das geht vor allem bei Themen wie dem Klimaschutz gut.

Die Projekte – Politische Bildung ganz konkret

Norbert Reichel: Könnten Sie mir vielleicht konkrete Beispiele nennen?

Christian Mohr: Unsere Aktivitäten wirken unterschiedlich. An manchen Schulen müssen erst Grundlagen geschaffen werden, andere planen bereits ein größeres Projekt. Oft gibt es gute Ideen, aber noch keine Strategie, weil niemand so recht weiß, was wie auf den Weg gebracht werden könnte. Aus themenbezogenen Seminaren können dann langfristig angelegte Projekte entstehen, die die Schule insgesamt betreffen, oder auch andere Themen entdeckt werden. Wir haben beispielsweise in einer Projektgruppe Jugendliche begleitet. Daraus ist dann eine dauerhafte Aktivität entstanden. Entscheidend ist, dass in den Schulen Teams entstehen. Das ist im Grunde ein Beitrag für eine demokratische Schulentwicklung.

Norbert Reichel: Welche Schulformen erreicht ihr?

Christian Mohr: Hauptsächlich Gymnasien und Gesamtschulen, leider nur selten Brennpunktschulen, obwohl gerade die davon profitieren könnten. Wir hatten im vergangenen Schuljahr allerdings ein gutes Projekt in Bremen in einer Brennpunktschule sowie im Jahr 2019 in Thüringen. Unsere Grundannahme lautet, dass gerade die Schüler*innen, deren schulfachliche „Karrieren“ sich eher schwierig gestalten, durch Beteiligung an Schulentwicklungsprozessen viel Selbstbewusstsein gewinnen und Selbstwirksamkeit erfahren können.

Norbert Reichel: Was geschieht in dem Bremer Projekt?

Christian Mohr: Es ging um eine Schulbegleitung, im Grunde ein Coaching, über ein Jahr. Ein Schulsozialarbeiter der AWO, der von uns gehört hatte, hat uns angefragt. Die Schule hatte verschiedene Ideen, konnte sie aber noch nicht umsetzen. Wir haben uns die Schule angeschaut und dann mit den Beteiligten ein Konzept entwickelt. Zunächst gab es einen Auftaktworkshop mit einer relativ großen Zahl von Teilnehmer*innen. Dann weitere Veranstaltungen regelmäßig mit allen Beteiligten außer den Eltern.

Norbert Reichel: Warum ohne Eltern?

Christian Mohr: Es ging uns darum, dass die Jugendlichen erst einmal ihre eigenen Vorstellungen formulierten. Es waren dann in einem weiteren Schritt auch Lehrkräfte, Sozialarbeiter*innen und sogar die Schulleitung dabei. Es gab über das Jahr verteilt fünf Termine, dazu dann eigene Termine mit zwei SV-Berater*innen aus Bremen. Die SV-Berater*innen wurden aufgrund ihrer räumlichen Nähe zur Schule dauerhafte Ansprechpersonen. Wir konnten über ein Jahr eine dauerhafte Struktur schaffen, auf der aufgebaut werden kann.

Norbert Reichel: In Rheinland-Pfalz beteiligt ihr euch mit dem Regionalnetzwerk an dem Landesprogramm „Demokratische Schulentwicklung“.

Christian Mohr: In unserem rheinland-pfälzischen „Peer-Berater*innen-Netzwerk für demokratische Schulentwicklung“ geht es ebenfalls darum, dass Jugendliche darüber mitbestimmen sollen, was sie lernen wollen und wie sie lernen – verbunden mit den Vorteilen eines regionalen Netzwerks. Das ist eigentlich der Kern einer demokratischen Schulentwicklung, denn es kann nicht nur darum gehen, im außerunterrichtlichen Bereich mitzuentscheiden. Auch das Lernen selbst muss an demokratischen Prinzipien ausgerichtet sein. Sonst haben auch die schönsten Veranstaltungen der SV nur einen begrenzten Nutzen.

Partizipative Schulentwicklung

Norbert Reichel: Um welche Themenfelder und Fächer geht es? Wie verändert sich die Einstellung der Lehrkräfte durch eure Mitwirkung?

Christian Mohr: Alles, was wir tun, geht in die Richtung politische Bildung. Was heißt zum Beispiel Vielfalt, was können wir gegen Diskriminierung tun, wie kann man sie erkennen, wer könnte uns unterstützen? In einer demokratischen Schule geht es um das Prinzip. Mit einzelnen Fächern haben wir deshalb weniger Kontakt, allerdings gibt es natürlich auch Kontakte zu einzelnen Fachschaften der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer.

Die Haltung der Lehrkräfte verändert sich durchaus. Wir begleiten in Rheinland-Pfalz zum Beispiel auch das Netzwerk der Modellschulen für Partizipation und Demokratie. Dort treffen wir uns zweimal jährlich mit den Lehrkräften der Modellschulen. Es ist oft für Lehrkräfte schwierig zu erkennen, dass sie manches loslassen müssen, dass nicht alles gesteuert werden kann, dass die Schüler*innen mehr Frei- und Spielräume brauchen. Das Schulsystem an sich ist ja weniger darauf angelegt, demokratische Prozesse zu bewirken. Wir müssen nur an die Noten denken! Aber dennoch gibt es Spielräume. Wir wollen dabei helfen, diese zu entdecken und zu gestalten.

Norbert Reichel: Interessant fand ich auch euer Projekt in Thüringen, in dem es darum ging, dass Jugendliche sich darüber verständigen, was Schulerfolg ist.

Christian Mohr: Dieses Projekt wurde unter anderem mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds gefördert. Der Titel: „Erfolg macht Schule“. Wir haben an Schulen gearbeitet, die eine Quote von über 10 % der Schüler*innen hatten, die die Schule ohne Abschluss verließen. Unsere Annahme war, dass Jugendliche sehr genau wissen, was für sie Schulerfolg ist, dies aber auch formulieren können müssen. Dabei haben wir die Schüler*innen unterstützt. Wir haben auch darüber gesprochen, was dazu führt, dass die Schüler*innen ohne Abschluss die Schule verlassen. Das konnte dazu beitragen, auch Schulabbruch oder Schulunlust zu vermeiden und zu bekämpfen. Am Ende des Projekts gab es eine Fachtagung in Jena. Leider geht das Projekt nicht weiter. Wir sind aber sehr motiviert, Wege zu finden, dieses Projekt fortzusetzen.

Es geht um unsere Zukunft

Norbert Reichel: Sie haben bereits das vom Bundesumweltministerium geförderte Vorhaben erwähnt. Solche Projekte dürften angesichts von FridaysForFuture sehr attraktiv sein. Kürzlich konnte ich mit zwei Aktiven aus dem Kreis Barnim sprechen. Die verfolgen ganz ähnliche Ansätze.

Christian Mohr: Das stimmt. Im Projekt „Schule·Klima·Wandel“ haben wir mittlerweile etwa zehn Anfragen in der Woche, die wir leider nicht alle bedienen können. FridaysForFuture hat die Nachfrage auf jeden Fall erhöht. Viele unserer Aktiven sind bei FridaysForFuture dabei, da es doch viele Überschneidungen gibt.

Wir wollten in dem Projekt das anwenden, was wir in unserem SV-Berater*innen-Projekt schon über viele Jahre erprobt hatten. Wir haben schon 2015 beschlossen, dass Klimaschutz mehr in den Schulen verankert werden müsste.

Im Projekt haben wir Schüler*innen zu Klima-Botschafter*innen fortgebildet, die dann auch an andere Schulen oder außerschulische Lernorte gehen, um dort für Engagement zum Klimaschutz zu werben. Inhaltlich geht es sowohl um themenspezifische Fragen rund um Klima, Ernährung, Konsum und Flucht und um die Zusammenhänge dieser Themen, aber auch um die Frage, was die Jugendlichen in der Schule selbst tun können. Oftmals wird auch darüber diskutiert, ob es sinnvoll ist, weniger Fleisch zu essen oder nicht, ob ein konsumkritischer Ansatz hilft oder nicht. Uns geht es vor allem darum, die Jugendlichen zu einem Reflexionsprozess zu ermutigen. Aber natürlich ist es auch ein Anliegen des Projekts, dass CO2-Emissionen eingespart werden. In der Frage „Klimaschutz ja oder nein“ sind wir durchaus parteiisch.

In einem weiteren großen „Learning by Doing“-Kongress im Dezember 2018 haben wir uns mit 100 aktiven Jugendlichen aus allen Bundesländern darüber ausgetauscht, wie das Engagement fürs Klima gestärkt werden kann. Außerdem haben wir Methodenboxen entwickelt, die man herunterladen kann, und dann auch außerhalb unserer Workshops nutzen und weiterarbeiten kann.

Norbert Reichel: Habt ihr im Hinblick auf Bildung für nachhaltige Entwicklung auch Kontakte mit Engagement Global oder dem Bundesentwicklungsministerium?

Christian Mohr: Zurzeit soll der von KMK und BMZ beschlossene Orientierungsrahmen „Globale Entwicklung“ (zu finden auf der Internetseite der KMK unter www.kmk.org) weiterentwickelt werden. Wir wurden als Expert*innen eingeladen. Im November 2019 beteiligten wir uns an der jährlichen KMK-BMZ-Fachtagung, die dieses Jahr in Leipzig stattfand. Wir haben einen Vorbereitungstag für 20 Jugendliche organisiert und sie auf ihre anschließende Teilnahme am Kongress vorbereitet, sodass sie dort in den Workshop- und Diskussionsphasen auch eigene Angebote durchführen konnten.

Norbert Reichel: Wie bewertet ihr die aktuellen Bestrebungen zur Digitalisierung?

Christian Mohr: Digitalisierung hat natürlich wenig Wirkung, wenn die Netze nicht funktionieren. Da muss schleunigst etwas geschehen, nicht nur für die Schulen. Es gibt aber auch keinen Automatismus, dass Schule durch Digitalisierung besser würde.

Norbert Reichel: Welche Kriterien würdet ihr für eine erfolgreiche Digitalisierung formulieren?

Christian Mohr: Wichtig ist, dass die Schüler*innen von Anfang an einbezogen sind. Digitalisierung ist kein Konsumangebot. Es reicht auch nicht aus, mit den Schulbuchverlagen zu sprechen und gelegentlich eine Fortbildung für die Lehrkräfte anzubieten. Schüler*innen müssen gefragt werden, wie sie lernen möchten. Die Schüler*innen können oft schon gut mit den Medien umgehen. Es gibt eine Fülle von Erklärvideos, Online-Nachhilfe und vieles mehr. Das kennen die Jugendlichen. Daher sollte man diese Chancen nutzen, damit das Lernen individueller gestaltet wird. Es kann nicht auf Dauer so weiter gehen, dass alle in einem Raum an derselben Sache im selben Tempo lernen. Das ist auch eine Chance für mehr Demokratie. Andererseits können auch undemokratische Ergebnisse entstehen. Schüler*innen müssen lernen können, wie sie mit der Programmierung von Algorithmen umgehen, die ihnen vorschreiben möchten, was sie lernen sollen. Manche Unternehmen haben sich bereits auf den Weg begeben, Schulmaterialien digital leicht auffindbar zu platzieren. Demokratie heißt auch, die Probleme zu erkennen, die in solchen Materialien vielleicht nicht auf den ersten Blick erkennbar sind.

Norbert Reichel: Ein schwieriges Kapitel aktueller Schulpolitik ist der Kampf gegen Diskriminierung jeder Art, gegen menschenfeindliche Äußerungen, gegen Rassismus und Antisemitismus.

Christian Mohr: Das ist auch uns ein wichtiges Anliegen. Wir arbeiten punktuell mit Organisationen wie „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ oder DaMigra e.V. , dem Dachverband der Migrantinnen*-Organisationen zusammen und haben auch schon gemeinsame Veranstaltungen zu diesen Themen angeboten. An dieser Schnittstelle sind wir dann die Expert*innen für Schüler*innenbeteiligung. Unsere Partner*innen bieten ihr jeweiliges inhaltliches Know-How. Und selbstverständlich wird eine sensible und kritische Haltung gegenüber Diskriminierung auf unseren Aus- und Fortbildungen vermittelt.

Unsere Vision: die demokratische Schule

Norbert Reichel: Helmut Schmidt wird immer wieder der Satz in den Mund gelegt, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Das hat er so nie gesagt, aber es gibt auch den alten Anarchospruch, wer keinen Mut zum Träumen habe, habe keinen Mut zum Kämpfen. Welche Vision haben Sie für eine demokratische Schule?

Christian Mohr: Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Sicht auf Schule. Wenn wir Schule im Sinne einer demokratischen Entwicklung verändern wollen, müssen wir die Schüler*innen ernst nehmen. Viele sehen heute Jugendliche leider immer noch als wandelnde Risiken.

Norbert Reichel: Und wenn man jemanden immer nur als „Risiko“ bezeichnet, wird er irgendwann sich auch wie ein „Risiko“ verhalten.

Christian Mohr: Genau das ist es. Kinder und Jugendliche sind keine unbeschriebenen Blätter, sie sind nicht unwissende Wesen ohne jede eigene Meinung. Wenn wir als Erwachsene – ich beziehe mich da als ehemaliger Schüler mit ein – nicht anfangen, in den Schulen Kinder und Jugendliche mitentscheiden zu lassen, wenn wir ihnen nicht zutrauen, dass sie Schule verantwortlich mitgestalten können, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie uns letztlich nicht vertrauen. Wie wollen wir eine demokratische Gesellschaft stärken, wenn man das, was junge Menschen sagen, von vornherein ignoriert oder – wie es ein Politiker letztens über das Klimathema formulierte – vorschlägt, junge Menschen sollten diese Dinge lieber erwachsenen Experten überlassen.

Norbert Reichel: Das ist ein sehr anspruchsvoller Bildungsbegriff.

Christian Mohr: Man kann Bildung nicht durch den Erwerb von Kompetenzen ersetzen. Wir brauchen ein Gleichgewicht zwischen Faktenlernen und sozialen Kompetenzen. Wir brauchen die Fähigkeit, sich selbst Wissen anzueignen, auch in sich verändernden Zusammenhängen. Wir müssen Veränderung positiv begreifen und Selbstwirksamkeit fördern.

Norbert Reichel: Das SV-Bildungswerk gibt es seit etwa 15 Jahren. Das sind schon einige Schüler*innengenerationen. Was ist aus den Engagierten der vergangenen Jahre geworden, und was sind Ihre Pläne für Ihre Zeit nach dem SV-Bildungswerk?

Christian Mohr: Ich habe noch keine festen Pläne. Ich bin jetzt 21 Jahre alt und möchte in nicht allzu ferner Zukunft Platz für jüngere Gesichter machen. Die haben auch gute Ideen, vielleicht sogar bessere. Ich werde mein Studium der sozialen Arbeit abschließen und möchte mich vielleicht auch mehr politisch, vielleicht sogar in einer Partei engagieren. Ich bin in einem Stipendienprogramm des Landes Berlin und kann daher Praktika in der Senatsverwaltung für Bildung machen. Vielleicht ist das auch eine Perspektive.

Norbert Reichel: Ich unterstütze Sie gerne bei Ihrem weiten Weg, selbstverständlich auch das SV-Bildungswerk. Es wäre aus meiner Sicht sicherlich gut für unsere Demokratie, wenn es mit der Zeit auch so etwas wie eine langfristige Sicherheit gäbe, vielleicht sogar mit einer institutionellen Förderung. Die reine Projektfinanzierung bundesweiter Programme reicht meines Erachtens heute nicht mehr aus.

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im März 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)