Den Osten erzählen
Sumpfblüten und Rasenwüsten in blühender Landschaft
„Ostdeutsche haben in den letzten 33 Jahren beeindruckend viel geschafft. Es ist unglaublich, wie die Mehrheit sich auf völlig neue Lebensverhältnisse eingestellt hat.“ (Joachim Gauck am 4. Oktober 2023 auf der Tagesspiegel-Konferenz „Der Osten, Chancen und Talente für Deutschland, zitiert nach: Daniel Friedrich Sturm in: Tagesspiegel 4. Oktober 2023)
Wer sich in den Bundesländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR umschaut, sieht, dass der ehemalige Bundespräsident recht hat, gerade wenn wir uns erinnern, wie viele Städte und Gemeinden im Jahr 1990 aussahen. Vielerorts ist sichtbar, dass und wie die von Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ an vielen Orten Wirklichkeit wurden.
Das ist die eine Erzählung, die 1990 der von Helmut Kohl geführten Bundesregierung ein Ergebnis bescherte, das ohne die deutsche Einheit nicht möglich gewesen wäre. Aber es gibt eben nicht nur die „blühenden Landschaften“, sondern auch diverse Sumpfblüten und einige Rasenwüsten. Anlässe zu solchen eher verstörenden Bildern finden wir in zahlreichen Berichten, für die ich stellvertretend aus einer am 4. Oktober 2023 von Correctiv veröffentlichten Zusammenfassung zum aktuellen Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit zitiere. „Ein durchschnittlicher Privathaushalt hat im Osten des Landes elf Prozent weniger Einkommen zur Verfügung (die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten sind darin schon eingerechnet). In den vergangenen 20 Jahren zogen rund vier Millionen Deutsche von Ost nach West, aber nur 2,8 Millionen in die umgekehrte Richtung. Weniger als acht Prozent der Führungspositionen wichtiger Bundesbehörden sind mit gebürtigen Ostdeutschen besetzt, gut 84 Prozent mit gebürtigen Westdeutschen (die restlichen Führungskräfte kommen aus anderen Staaten). Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Unter dem Strich zeigt sie: Die Menschen im Osten des Landes sind an vielen Stellen noch immer abgehängt, und entsprechend unzufrieden sind einige von ihnen.“
Demokratie in Ost und West
Zwei Sichtweisen, zwei Seiten einer Medaille? Ist es die Erzählung von der Flasche, die die einen als halb voll, die anderen als halb leer betrachten? Ein weiteres Bild, das zeigt, wie schwer es fällt, die aktuellen und absehbaren gesellschaftlichen Entwicklungen treffend und angemessen zu beschreiben, im Osten wie im Westen. Auf jeden Fall zwei Erzählungen, die sich gegenseitig ergänzen könnten und sollten, dies aber nicht unbedingt tun. Oder in Fortführung des Bildes von Joachim Gauck: wenn eine „Mehrheit sich auf völlig neue Lebensverhältnisse eingestellt hat“, gibt es eben auch eine Minderheit, die das nicht getan hat, aus welchen Gründen auch immer, und von der niemand weiß, wie mehrheitsfähig sie gegebenenfalls schon ist oder werden könnte. Die Frage, ob sich jemand der genannten Mehrheit oder der Minderheit zurechnet, ist letztlich eine Frage eines Gefühls, das aber wiederum durch die jeweiligen Diskurse verstärkt oder geschwächt werden kann. Gefährlich wird es, wenn sich eine Gruppe, die sich für die Vertretung einer Mehrheit hält, auf „das Volk“ beruft und damit jede Unzufriedenheit für eigene Zwecke instrumentalisiert.
Der sprichwörtliche Teufel kommt nie zwei Mal durch dieselbe Tür. In den meisten Erzählungen dominiert die negative Sicht, auch dort, wo sie von der Sache her nicht gerechtfertigt wäre. Es dominiert ein Gefühl des Unbehagens, allerdings mit unterschiedlichen Vorzeichen. Ostdeutsche Ministerpräsident:innen, Minister:innen und Abgeordnete der jeweiligen Regierungsfraktionen betonen immer wieder die Erfolge, die Ansiedlungen neuer Betriebe, die wirtschaftlichen Daten, auch wenn sie selbstverständlich nicht müde werden, mit mahnendem Unterton die noch ungelösten Probleme und Gefühlslagen anzusprechen.
Allerdings gibt es in Ost und West einen wesentlichen Unterschied. Während in Ostdeutschland ungeachtet mancher Verschwörungserzählung reale Benachteiligungen der Ostdeutschen – der zitierte Bericht nennt sie – eine zentrale Rolle spielen, dominiert in westdeutscher Perspektive eine andere Erzählung: dort berichten die Medien von Demokratiedefiziten, die es angeblich nur im Osten geben sollte und die dazu führten, dass eine in großen Teilen rechtsextremistische Partei so viel Zuspruch erhalte, dass sie bei den 2024 anstehenden Landtagswahlen zumindest eine Sperrminorität, möglicherweise sogar die Mehrheit erhalten könnte.
Könnte sich diese Erzählung nach den Wahlen in Hessen und Bayern vom 8. Oktober 2023 vielleicht erübrigen? Hat sich der Westen dem Osten angepasst? Hubert Aiwanger hat mit seiner Rede, in der er forderte, man müsse sich die „Demokratie zurückholen“, manche in Ostdeutschland grassierende Verschwörungserzählung angetriggert. Er meinte Themen wie Gebäudeenergiegesetz, Verbot von fossilen Kraftstoffen für Automobile, Verbot der Anbindehaltung in der Tierhaltung, Verbot von Bratwürsten auf Volksfesten, geschlechtsgerechte Sprache, all das, für das in seinem Weltbild die Grünen verantwortlich sind, ungeachtet der Frage, was davon überhaupt zur Debatte stand. Aiwanger sprach jedoch von etwas anderem, der Zukunft der Demokratie, die er mit der Erfüllung seiner Forderungen identifizierte und die er bei Nicht-Erfüllung als bedroht darstellte. Er suggerierte Mehrheiten, wo keine waren, und die sollten „zurückgeholt“ werden. Aber in der politischen Kommunikation erhält die Ankündigung, die „Demokratie zurückzuholen“, eine Wirkung, die die Formulierung, die Wähler:innen möchten ihm bei den anstehenden Wahlen zu einer Mehrheit verhelfen, nicht erzielen kann.
Die im September 2023 vorgestellte jüngste Bielefelder Mitte-Studie verzeichnet – wie auch schon in Vorläuferstudien und in ihrem komplementären Gegenstück, der Leipziger Autoritarismusstudie – im Osten deutlich höhere Zustimmungswerte zu anti-demokratischen, zu rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Einstellungen. Allerdings rechtfertigen diese Ergebnisse ebenso wenig wie die Ergebnisse von Wahlumfragen, die Ostdeutschen pauschal als Anti-Demokrat:innen zu markieren. Die Landratswahl in einem kleinen Thüringer Landkreis wurde in den Medien zu einem Großereignis hochstilisiert. Überall, wo ein AfD-Kandidat es in eine kommunale Stichwahl schafft, beschäftigen sich die Medien mit dieser Wahl in einer Intensität, die es bei keiner anderen Wahl gibt, in der zwei Kandidat:innen eine Stichwahl erreichten. Aber auch die Tendenzen der Umfragen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg vergleichbare Ergebnisse für die AfD in einigen baden-württembergischen Regionen, im Bayerischen Wald oder in ländlichen Regionen Hessens spielen in der Berichterstattung nur eine Nebenrolle. Als durch ungeschickte Bemerkungen des CDU-Vorsitzenden die Debatte um eine „Brandmauer“ gegen die AfD entstand, fanden Journalist:innen im Westen wie im Osten Abstimmungsergebnisse, bei denen demokratische Parteien und AfD für die selbe Sache gestimmt hätten. Aber die Debatte konzentrierte sich sehr schnell wieder auf Ostkommunen, die damit den Charakter eines Trendsetters bekamen. Je mehr aber von angeblichen Demokratiedefiziten und einstürzenden „Brandmauern“ in Ostdeutschland die Rede ist, umso mehr könnte sich diese Rede als eine Art Selffulfilling Prophecy erweisen und sich radikalisierende Einstellungen folgen den Regeln des Primings.
Anti-demokratische Kontinuitäten
Manche Kommentator:innen verweisen auf rechtsextreme Kontinuitäten, die sie aus diversen Vorfällen ableiten, beispielsweise dem Überfall einer rechtsextremen Gruppe auf ein Konzert von Element of Crime am 17. Oktober 1987 in der Zionskirche am Prenzlauer Berg (bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist ein Film über den Überfall und seine Aufarbeitung erhältlich). Salli Sallmann beschreibt in seinem von Ines Geipel und Joachim Walther veröffentlichten Tagebuch „Badetag“ (Frankfurt am Main, Büchergilde Gutenberg, 2009) eine Art rechtsextremistische Normalität bei Betreibsfeiern: „Aber auch die Langhaarigen in der Clique reden oft wie mein Opa, wenn es um die Nazi-Zeit geht. Ich kann mir das nicht richtig zusammenreimen. / Die Hitler-Feier der Clique ist als normales Besäufnis an zusammengeschobenen Tischen in der ESDA-Kulturhauskneipe getarnt. VEB ESDA ist das große Strumpfkombinat im Ort: Erzgebirgische Strumpf- und Damen-Artikel.“ / Bei der Hitler-Feier geht es hoch her, bekomme ich danach erzählt. Jeder in der Clique brüstet sich, wie viel Schnäpse und Biere er in sich hineingekippt und wie vielen Mädchen er an den Busen oder Po gegriffen hat.“ Die Überschrift der Passage, aus der dieser Text entnommen wurde: „Judenarsch“.
Frank Richter, 2009 bis 2016 Leiter der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, inzwischen Landtagsabgeordneter der SPD in Sachsen, berichtete am 10. Oktober 2023 in einer Veranstaltung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, dass es in der DDR Menschen gegeben habe, die am 20. April Hitlers Geburtstag gefeiert hätten. Frank Richter berichtete auch von der Mail eines jungen Mannes aus dem Erzgebirge, der ihm mitteilte, er werde solange zu PEGIDA-Demonstrationen fahren, bis er eine Arbeit und eine Frau gefunden haben. Politik möge – so wohl seine Vorstellung von Politik – dafür sorgen, dass Frauen sich Männern wie ihm widerspruchslos zur Verfügung stellten. Ähnliche Einstellungen waren in Polen bei jungen Männern zu finden, die die rechtsextreme Konfederacja wählen wollten, weil die jungen US-Soldaten an US-Stützpunkten ihnen die polnischen Frauen wegnähmen, sowie bei jungen Frauen, die den nach Polen geflüchteten Ukrainerinnen vorwarfen, ihnen die polnischen Männer abspenstig zu machen. Glücklicherweise scheiterte die Konfederacja deutlich. Sie konnte ihr bisheriges Ergebnis nur unwesentlich verbessern.
Die Leipziger Autoritarismustudie von 2022 bezeichnete frauenfeindliche und frauenverachtende Einstellungen als „Brückenideologie“ der Anti-Demokrat:innen von rechts. Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien fordern in vielen westlichen Ländern die Rückkehr zu einer Art Patriarchat, der thüringische Landesvorsitzende der AfD fordert eine Rückkehr zur „Männlichkeit“. Es gibt in der neuen Rechten Stimmen, die Frauen das Wahlrecht nehmen wollen, auch Frauen wie beispielsweise Caroline Sommerfeld.
Im Zweifel sind aber auch die LSBTIQ*-Aktivist:innen an allem schuld, Putin sprach von „Gayropa“. Oder eben die Juden. Antisemitismus gehört zur DNA der Rechtsextremist:innen wie auch die Mitte- und Autoritarismusstudie belegen, mit hohen Zustimmungswerten unter Menschen, die ansonsten nicht unbedingt als Rechtsextremist:innen bezeichnet werden können, sondern eher der sogenannten „Mitte“ zuzurechnen sind. Es ist wie in Bertolt Brechts Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (viel zu selten aufgeführt, zurzeit aber in Bonn im Stadttheater zu sehen): „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Das rechtsextremistische Kind sieht heute nur anders aus als das Kind der NS-Zeit und auch anders als noch in der Zeit der Baseballschlägerjahre in den 1990ern. Der Teufel findet neue Türen, die aber durchaus ähnlich eingefärbt sind wie die Türen des Jahres 1933, auch wenn sie blau gefärbt sind (wie übrigens auch bei der FPÖ in Österreich).
Fazit: Es gab Rechtsextremismus in der DDR, sichtbar für alle, die hinschauen wollten, aber eben nicht nur in der DDR. Dies belegen Wahlergebnisse rechtsextremer Parteien bei diversen Landtagswahlen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und 1989. Diese Parteien hielten sich in den Landtagen jedoch in der Regel nur eine Legislaturperiode, dann zerfielen sie. Aus dem Bundestag verschwand der BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) 1957 unter die Fünf-Prozent-Hürde. Lange Zeit hatten CDU und CSU Erfolg mit der Franz Josef Strauß zugeschriebenen Strategie, dass es rechts von ihnen keine andere Partei geben dürfe. Verbale Radikalität auf der einen Seite, pragmatisches Handeln in demokratischen Strukturen auf der anderen. Die AfD hält sich jedoch mit ihrem Radikalismus seit 2017 stabil, mit steigender Tendenz, ungeachtet gelegentlicher Einbrüche in einigen westlichen Bundesländern, und demokratische Parteien schwanken, ob sie von der AfD angesprochene Lösungen übernehmen sollten oder nicht. Die zitierte Rede Hubert Aiwangers ist nicht die Ursache, sie ist Symptom und Alarmzeichen. Die anti-demokratische Geschichte der DDR mag eine weitere Erklärung für den Aufstieg einer zumindest in Teilen rechtsextremen Partei bieten, aber das ist nur ein Punkt in einem komplexen Gebilde. Die führenden Funktionäre der AfD kommen fast alle aus dem Westen.
Die Länder dazwischen
Ein oft völlig unbeachteter Gesichtspunkt zur Erklärung der Wahlergebnisse anti-demokratischer Parteien ist die Missachtung der demokratischen Geschichte in der DDR, in Opposition und Widerstand und schließlich in der friedlichen Revolution und der demokratischen DDR-Regierung des Sommers 1990. Diese Missachtung und Ignoranz ist das Ergebnis der erfolgreichen Erzählung, dass es in der DDR gar keine Demokratie gegeben haben könnte. Mitunter könnte man den Eindruck haben, als hätten sich DDR und SED aus sich heraus – vorwiegend dank des politischen Geschicks des westdeutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl – aufgelöst. Und es scheint, als hätte der Westen der DDR die Demokratie geschenkt. Die demokratischen Akteure der DDR gerieten schon sehr bald in Vergessenheit. Umso wichtiger ist es, wieder an die demokratischen Traditionen der DDR und der ostdeutschen Länder zu erinnern, denn aus diesen ließe sich durchaus die Kraft schöpfen, rechtsextremen Parteien und Gruppierungen zu widerstehen, im Osten wie im Westen.
Jacques Rupnik beschreibt den vermuteten Vorgang der Ausbreitung der Demokratie von West nach Ost in seinem Essay „Von Kundera bis Kiew“. Der Essay wurde in der Herbstausgabe 2023 von Lettre International veröffentlicht, Untertitel: „Der entführte Westen erweitert sich in Richtung Osten“. Aber wer wurde da von wem „entführt“ oder vielleicht auch verführt? Jacques Rupnik beginnt mit einer Definition Milan Kunderas, die sofort eine sich an Himmelsrichtungen orientierende Interpretation der politischen Entwicklungen in Ost und West dekonstruiert: „Mitteleuropa befindet sich ‚geographisch in der Mitte, kulturell im Westen und politisch im Osten‘ Europas.“
Historisch gesehen spielt das Verhältnis zu Russland eine wichtige Rolle, auch bei der Demokratisierung der ost- und ostmitteleuropäischen Staaten nach 1989: „Die ‚Europäisierung‘ Russlands vollzog sich durch seine imperiale Expansion gen Westen seit Peter dem Großen und Katharina II. Für die mitteleuropäischen Nationen stellt die Bindung an ihre europäische und abendländisch-westliche Identität den letzten Schutzwall gegen Russlands imperiale Eroberung dar.“ Das gilt auch für den Wunsch der ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts, sich der NATO anzuschließen. Die damit einhergehende Demokratisierung hat eine Schutzfunktion gegenüber dem östlichen Nachbarn. Martin Schulze-Wessel hat in seinem Buch „Der Fluch des Imperiums“ (München, C.H. Beck, 2023) beschrieben, wie die Länder zwischen Deutschland und Russland hin- und hergeschoben, eingezwängt und gegängelt, Grenzen verschoben, Menschen vertrieben und ermordet wurden. Auch die Debatte um Nordstream lässt sich aus dieser Konstellation erklären.
Diese Konstellation prägt auch die heutigen politischen Diskurse und ist angesichts des russischen Terrors gegen die Ukraine zurzeit nicht auflösbar. Europa hat die Stellung Deutschlands einnehmen können, weil Deutschland nicht mehr das kolonialistisch-imperialistische Land ist, das es bis 1945 war. Die Westintegration Deutschlands ist eine grundlegende Voraussetzung für ein Europa, in dem Osten und Westen sich verständigen können, allerdings nach wie vor ohne Russland. Dort, wo der Westen, wo die Europäische Union die Erwartungen jedoch nicht erfüllt oder sich zumindest das Gefühl eingestellt hat, man erfülle sie nicht, wachsen dann wiederum Sympathien für Russland, ungeachtet seiner imperialistischen und aggressiven Politik. Ungarn und manche russlandfreundliche Partei belegen dies, so eben auch die AfD. Stephen Holmes und Ivan Krastev erklären in ihrem Buch „Das Licht, das erlosch – Eine Abrechnung“ (Originaltitel: „The Light that Failed – A Reckoning“, deutsche Ausgabe: Berlin, Ullstein, 2019) die illiberalen und anti-demokratischen Entwicklungen in manchen Staaten, darunter Polen und Ungarn, mit der Enttäuschung, dass sich die bloße „Nachahmung“ westlicher Strategien nicht bewährt habe, sondern die eigene Geschichte und Identität untergraben habe. Diese Analyse lässt sich durchaus auf die DDR beziehungsweise die ostdeutschen Bundesländer übertragen.
Russland bleibt das Andere so wie diejenigen, die Putins Terror verteidigen und aus einer wie auch immer gearteten Missachtung seiner Person und des von ihm beherrschten Landes begründen oder gar von einer Eurasischen Union mit Russland träumen – Marcus Bensmann hat dies für Correctiv im September 2023 ausführlich dokumentiert – ebenfalls die Anderen bleiben, die sich aber in dieser Rolle zunehmend wohler fühlen und den sprichwörtlichen Spieß einfach umdrehen.
Anders gesagt: der Westen definiert sich als Gegensatz zum Osten, der Osten als Gegensatz zum Westen. Putin macht es dem Westen aber auch leicht, nur bleibt die Frage, ob es berechtigt ist, von westlicher Seite den Osten schon jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs zu sehen, weil es dort nun einmal so viele Politiker:innen und Wähler:innen gibt, die sich pro-russisch, das heißt pro-putinistisch, äußern. Als wenn es diese im Westen nicht gäbe. Möglicherweise tritt bereits zur Europawahl eine sozialpolitisch eher linke, in ihren sonstigen Positionen jedoch eher rechts einzuordnende neue Partei an, die die politischen Diskurse noch einmal verschieben dürfte. Die Entwicklung der Freien Wähler auf Bundesebene bleibt ebenfalls abzuwarten.
Die DDR beziehungsweise die ostdeutschen Länder bleiben mit ihren Umfrage- und Wahlergebnissen ein Osten, der irgendwie dann doch nicht zum Westen gehört. Demokratiebewegungen im Osten – wie 1989 und 1990 in der damaligen DDR und allen ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts sowie der baltischen Teilrepubliken der Sowjetunion, die heute alle in NATO und EU ihren Platz gefunden haben, werden in der westlichen Version der Geschichte leider ignoriert, sodass der Eindruck entsteht, als habe der Westen im Osten die Demokratie geschaffen. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Diese Sicht auf die Geschichte ist einfach falsch. Der Westen mag als Vorbild gedient haben, aber der entscheidende Akteur der Demokratisierung im Osten waren die Menschen im Osten, in Zivilgesellschaft und schließlich in den Regierungen. Die ersten waren die Polen, die am 4. Juni 1989 dafür sorgten, dass mit Tadeusz Mazowiecki ein nicht-kommunistischer Ministerpräsident ins Amt gewählt werden konnte.
Deutscher Orientalismus
Claudia Gatzka, die mit Andreas Audretsch im Jahr 2020 im Bonner Dietz-Verlag das Buch „Schleichend an die Macht“ herausgegeben hat, setzt sich in der Oktoberausgabe 2023 der Zeitschrift „Merkur“ mit der Frage auseinander, wie über Ostdeutschland gesprochen wird, Titel ihres Essays: „Geschichten wider den Osten“ (der vollständige Essay ist auf der Internetseite des Merkur kostenfrei zugänglich). Sie bezieht sich auf die zurzeit populären Bücher von Dirk Oschmann (Der Osten – eine westdeutsche Erfindung, Berlin, Ullstein, 2023) und Katja Hoyer (Diesseits der Mauer – Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990, deutsche Ausgabe: Hamburg, Hoffmann und Campe, 2023), die – so ließe sich vereinfachend sagen – den Osten als Opfer des Westens darstellen.
Oschmanns und Hoyers Sicht der DDR und der dort lebenden Menschen als Opfer, die ihr Selbstbewusstsein aus der Erinnerung an positive Elemente des DDR-Alltags zurückgewinnen könnten, sollte nicht mit den Thesen von Ilko-Sascha Kowalczuk in „Die Übernahme – Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (München, C.H. Beck, 2019) verwechselt werden. Verbindend ist die Opfererzählung, die Kowalczuk allerdings aus dem binären Täter-Opfer-Konstrukt herauszuholen versucht, weil die Akteure, die die Opfer-Erzählung besonders laut verkünden, selbst Täter:innen sind. „PDS/Linke und AfD stehen in Ostdeutschland für Anti-Establishment, Anti-Westen, Anti-Amerikanismus, Pro-Russland (vor allem in Form des Anti-Amerikanismus), für harsche Kritik am ‚System‘ und ihren Repräsentanten, an ‚den‘ Medien und gelten als Vertreter der ‚kleinen Leute‘, als Befürworter plebiszitärer Demokratie.“ Klar ist aber jeweils, dass die Täter:innen in der politischen Kommunikation immer auf der anderen Seite zu finden sind: „Für die PDS/Linke der Westen, der Kapitalismus, die Globalisierung – und die bundesdeutsche Elite; für die AfD der Westen, die Globalisierung, die ‚Systemelite‘ – und eingewanderte Nicht-Deutsche.“ Und LSBTIQ* und der Feminismus und die Migration – so ließe sich für die AfD ergänzen.
Die Linke verliert an Zuspruch, weil sie sich in ihren Positionen aus Sicht vieler Menschen im Osten zu sehr an den Westen angebiedert hätte, in Sachen Feminismus, LSBTIQ*, Migration und – in Teilen – auch in der Außenpolitik. Im Westen war die Linke ohnehin nur in einigen Städten präsent. Claudia Gatzka und Andreas Audretsch benennen in der Einleitung von „Schleichend an die Macht“ „vier Themen (…), die überall in Europa zum Standardrepertoire von Rechtspopulist:innen und Rechtsextremen gehören: das Verständnis von Demokratie, den Umgang mit Frauenrechten, die Instrumentalisierung von Religion als politischem Mittel der Spaltung und den Umgang mit der Corona-Pandemie.“ In anderen Texten des Buches werden auch „Geschichtspolitik“, „Geschichtsrevisionismus“, „tribalistische Ideologie“ und die „Freund-Feind-Unterscheidung“ im Sinne von Carl Schmitt genannt. Demokratie bedeutet in diesen Erzählungen nicht mehr und nicht weniger als die absolute Herrschaft einer vermuteten Mehrheit, die sich nicht in Wahlen beweisen muss, sondern einfach vorausgesetzt wird, denn wenn Wahlen anders ausgehen, kann es sich nur um Wahlmanipulation handeln. Donald Trump lässt grüßen. Der jüngste Vorschlag von Giorgia Meloni, den Regierungschef (Meloni gendert nicht) und dem diesen unterstützenden Bündnis automatisch 55 Prozent der Stimmen zuzusprechen, ist vielleicht der unverfrorenste Angriff auf die Demokratie. Erfolgreich wird dieser Angriff nicht sein, denn die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit wird Meloni für ihren Vorschlag nicht erhalten. Einer ihrer Vorgänger, Matteo Renzi, ist mit einem nicht ganz so radikalen, aber auch in diese Richtung weisenden Vorschlag, grandios gescheitert.
Die AfD und Ostdeutschland werden in westlichen Diskursen immer wieder miteinander identifiziert, sodass die überwiegende Mehrheit, die die AfD nicht wählt und wahrscheinlich auch nie wählen würde, aus der Wahrnehmung verschwindet. Das Fazit von Claudia Gatzka: wer über Ostdeutschland spricht, reproduziert immer wieder eine rhetorische Figur, die in der Migrations- und Antidiskriminierungsforschung als „Othering“ beziehungsweise „VerAnderung“ (die von Julia Reuter eingeführte deutsche Übersetzung des „Othering“) bezeichnet wird. Man könnte auch von „Orientalismus“ sprechen. Claudia Gatzka konstatiert, dass dieser Kontext Dirk Oschmann offenbar gar nicht aufgefallen ist: „Verblüffend ist, dass er ohne Verweise auf Said auskommt.“ In der Tat haben wir es hier nicht nur im Hinblick auf die Himmelsrichtung mit einer Spielart des von Edward Saïd beschriebenen Phänomens des „Orientalismus“ zu tun. Abwertung und Exotismus gehören auch in vielen Äußerungen über Ostdeutsche und Ostdeutschland dazu.
Eine ähnliche Argumentation findet Claudia Gatzka bei Jana Hensel in ihren mit Naika Foroutan in dem Buch „Die Gesellschaft der Anderen“ veröffentlichten Gesprächen (Berlin, Aufbau, 2020). Die Frage lautet, ob „Orientalisierung“ oder – je nach Geschmack – „Migrantisierung“ der Ostdeutschen der Sache überhaupt gerecht werden können. Claudia Gatzkas Antwort lautet Nein. Mit solchem Framing werden Ostdeutsche zum Objekt der Geschichtsschreibung, der politischen Kommunikation gemacht. „Nicht der geografische Osten, sondern das Othering eines bestimmten, meist peripheren (Binnen)Raums und seiner Bewohner zum Zweck der Stabilisierung einer gewollten Normidentität macht Orientalismus aus.“ Ähnliche Formen des „Othering“ einer Region findet Claudia Gatzka beim italienischen Mezzogiorno. Jedes Land hat irgendwo eine Region, die als rückständig, kaum entwicklungsbereit oder allenfalls als exotisch, mitunter als Gegenstand von Witzen markiert wird. Es ist „das Narrativ der immerwährenden, aber stets unerreichten Angleichung. Die diskursiven Chancen stehen so nicht schlecht, dass ‚der Osten‘ Deutschlands Mezzogiorno wird, mit RB Leipzig als Katholischer Kirche und der AfD als Mafia.“
Es entsteht „ein völlig unhinterfragter teleologischer Bias“, gewissermaßen als Rechtfertigung des zwischen den beiden deutschen Staaten ohnehin von Gründung an im Verlauf des Kalten Krieges gepflegten „Modus des Konkurrierens“. Der Herbst 1989 wurde zu einer Art „Triumphalismus der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung“, der aber im Grunde nichts anderes ist als „eine Verweigerungshaltung, den betrachteten Raum wie auch den Raum, aus dem heraus er betrachtet wird, mit der gesamtdeutschen Gegenwart zu synchronisieren; es ist eine spezifische Art der Brille des Kalten Kriegs aufzusetzen und aufzubehalten.“ Ost- und Westdeutschland waren, sind und bleiben Elemente eines binären Codes, ohne Zwischentöne, ohne Übergänge und Graubereich. Die Erzählungen der russlandfreundlichen AfD sind nichts anderes als die Gegenerzählung.
Ende der Geschichte? Oder Ende der Politik?
Ostdeutschland wird in diesem Redemodus musealisiert, „erinnerungskulturell als ein Lehrpfad sozialistisch-kommunistischer Abschreckung gestaltet“, die sich gerade dadurch immer wieder als notwendig und zutreffend erweist, weil – getreu einer naiven und unterkomplexen Rezeption der Totalitarismustheorie – die Umfragewerte und Wahlergebnisse der AfD in den Augen mancher Medien, Politiker:innen, vor allem von denen mit ausschließlicher Westbrille, doch wohl nichts anderes beweisen als die Kontinuität der im SED-Kommunismus erlernten Einstellungen und Verhaltensweisen. Die andere Seite sind DDR-Nostalgie-Clubs und das hohe Lied eines kuscheligen Alltags, auch jenseits der Stasi.
Letztlich bestätigt gerade die Art und Weise, wie Ostdeutschland von Kommentator:innen wie Dirk Oschmann oder Katja Hoyer dargestellt wird, die ebenfalls immer verkürzt und unterkomplex zitierte These von Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“, nur eben mit dem Subtext, dass offenbar die Ostdeutschen noch nicht begriffen hätten, dass dieses „Ende“ stattgefunden hat. Ostdeutsche müssen sich daher auch immer wieder anhören, dass sie mehr politische Bildung bräuchten, obwohl niemand so richtig sagen kann, welche Art politischer Bildung denn tatsächlich gegen Extremismus wirkt und welche Assoziationen sich für Ostdeutsche nach ihren Erfahrungen mit politischer Bildung vor 1989 einstellten. Auch hier: Ostdeutsche werden als Objekt von Bildung und Erziehung markiert, nicht als Subjekt. Sie werden wie unwillige Kinder behandelt.
Kurz zu Francis Fukuyama: der Titel seines Essay „The End of History?” endet mit einem Fragezeichen. Mit dem „Ende der Geschichte“ meint er das Ende anti-demokratischer und anti-liberaler Großerzählungen wie dem Faschismus und dem Kommunismus. Der Faschismus verschwand 1945 aus dem Bewusstsein oder wurde zumindest aus dem Bewusstsein verdrängt, auch wenn es nach wie vor faschistische Elemente in anderen Kontexten, so auch im sowjetischen und chinesischen Kommunismus gab. Mit dem Zerfall der kommunistischen Herrschaft im Jahr 1989 gaben sich die führenden Politiker ebenso wie große Teile der Bevölkerung der von ihnen beherrschten Länder einem Konsumismus hin, der die wirtschaftliche Entwicklung in den Vordergrund stellte. Fukuyama spricht von „the ineluctable Spread of consumerist Westen culture”. Dies erinnert durchaus an das Diktum Bill Clintons „It’s the economy, stupid“. Deng Xiao-Ping und seine Nachfolger haben es sogar geschafft, konsumistischen und wirtschaftlichen Fortschritt von liberalen und demokratischen Entwicklungen abzukoppeln. Liberale Demokratie ist nicht mehr Voraussetzung und auch nicht Ergebnis wirtschaftlichen Fortschritts.
Francis Fukuyama spricht von De-Ideologisierung, sieht aber auch, dass nach wie vor die Möglichkeit einer Re-Ideologisierung bestehe. Das schrieb er im Jahr 1989! Das Potenzial einer Re-Ideologisierung sieht er in Religion und Nationalismus. Er spricht beim Thema Religion vorwiegend vom Islam, aber seine These lässt sich durchaus auch auf christliche Parteien und Organisationen übertragen. Die US-amerikanischen Republikaner haben sich in weiten Teilen zu einer christlich-fundamentalistischen Partei entwickelt, die durchaus ähnliche Positionen vertritt wie islamistische Bewegungen in anderen Ländern. Fukuyama: „To a literal-minded idealist, human society can be built around any arbitrary set of principles regardless of their relationship to the material world. And in fact men have proven themselves able to endure the most extreme material hardships in the name of idea that exit in the realm of the spirit alone, be it the divinity of cows or the nature of the Holy Trinity.”
Geradezu dialektisch gedacht. Fukuyama beruft sich in seinem Essay ohnehin auf Hegel und auf Alexandre Kojève. Über den Konsumismus entsteht sogar so etwas wie die von Karl Marx geforderte klassenlose Gesellschaft, was jedoch nicht heißt, dass es keine Armut mehr gäbe. Aber der Zuspruch auch deklassierter Bevölkerungsgruppen für die konsumistische und extrem neoliberale Politik von Milliardären belegt, dass sich die Idee der Überwindung der Klassen auf die Ebene der Einstellungen – Marx würde das „Überbau“ nennen – verlagert hat. Eben dies ist auch der Grund für die Attraktivität von gesellschaftlich illiberalen, wirtschaftlich jedoch extrem liberalen Bewegungen. „But at the end of history it is not necessary that all societies become successful liberal societies, merely that the end their ideological pretensions of representing different and higher forms of human society.” Den letzten Absatz seines Essays beginnt Francis Fukuyama mit dem Satz: „The end of history will be a very sad time.” Und genau dort scheinen wir uns in den 2020er Jahren zu befinden. Liberale und demokratische Parteien und Regierungen orientieren sich an wirtschaftlichen Gesichtspunkten, können aber mangels nachhaltiger und durchschlagender Erfolge nicht mit denjenigen konkurrieren, die eine ultimative Erzählung propagieren, die alle Probleme dieser Welt mit einem Schlag lösen soll. Wer solchen Versprechungen glaubt, möchte sich dann kaum noch die Mühe machen, den gordischen Knoten vorsichtig aufzuknoten.
Das Ergebnis ist letztlich Endpolitisierung, eine Ende der Politik. Alles in allem hat sich – in den Worten von Claudia Gatzka – die folgende Erzählung durchgesetzt: „Interpretiert man die historiografische Lage der 1990er und 2000er Jahre als Sprechakt, dann deuteten westdeutsche Historiker die ostdeutsche Revolution von 1989 zu einem Effekt der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik um, die ja durchaus den meisten Ostdeutschen als strahlendes Werbebild der Marktwirtschaft vor Augen gestanden und auf Hundertausende von ihnen Anziehungskraft ausgeübt hatte. Damit ließen sich die Ziele der Revolution zugleich entpolitisieren, ließ sich der Fall der Mauer auf eine östliche Konsumsehnsucht reduzieren, wie anhand der linksliberalen Qualitätspresse seit den enttäuschenden CDU-Wahlsiegen in den ‚neuen‘ Bundesländern nachzuvollziehen ist.“
Die Ostdeutschen waren immer Objekt, niemals Subjekt der Geschichte. Kein Wunder, dass in einer solchen Erzählung die negative Sichtweise der Entwicklungen in Ostdeutschland, oft genug in Form von Opfererzählungen, dominiert. Die Verkaufszahlen der Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann belegen dies. Den Ostdeutschen oder denjenigen, die mit ihnen in pater- oder maternalistischem Habitus sympathisieren, bleibt somit lediglich eine Art nostalgische Trotzhaltung, es wäre ja nun nicht alles schlecht gewesen. War es auch nicht in toto, auch Freundschaften und Ehen in der DDR können liebevoll gewesen sein, es gab eine reichhaltige, wenn auch von SED und Stasi überwachte und oft genug schikanierte Literatur- und Musikszene. Aber eine differenzierende, die Ostdeutschen als politisches Subjekt ernstnehmende Haltung finden wir bei Katja Hoyer und Dirk Oschmann nun einmal ebenso wenig wie in vielen anderen politisch-feuilletonistischen An- und Aussagen. Die einen sehen blühende Landschaften, andere sehen Sumpfblüten, wahlweise Rasenwüsten.
Ent- oder De-Politisierung, Konsumismus und Wut auf alles, was den ungebremsten Konsum behindern oder einfach nur lang Gewohntes verbieten könnte – das ist die eine Seite. Die andere ist eine Re-Politisierung im Sinne von Carl Schmitt, die aber in Wirklichkeit die ultimative De-Politisierung ist, weil jeder demokratische Streit mit mehr oder weniger repressiven Methoden unterdrückt wird. Konservative und liberale Politiker:innen stehen sich als Feind:innen gegenüber. Ost und West erkennen sich im anderen nicht mehr. Das Ergebnis ist Ent-Fernung. Ost und West werden sich mit der Zeit fremder und die andere Seite wird als „fremd“ und anti-demokratisch markiert. Dabei werden Ost- und Westdeutsche beziehungsweise Ost- und Westeuropäer:innen pauschal einer homogen erzählten Gruppe zugerechnet, sodass die Vielfalt der verschiedenen Wirklichkeiten in den Erzählungen verblasst. Zahlen, Sachargumente, umfangreiche Berichte, all diese helfen wenig, wenn Gefühle dominieren, vor allem solche, die Menschen, die eine andere Erzählung bevorzugen als die eigene, grundsätzlich in Frage stellen. Steffen Mau spricht in diesen Zusammenhängen von „Affektpolitik“, eine Disziplin, die die demokratischen Parteien – zumindest den Wahlergebnissen nach – nicht sonderlich gut beherrschen. Letztlich fehlt wohl auch die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen. Es ist eben so einfach, die anti-demokratischen Tendenzen im jeweilig anderen Teil Deutschlands zu verorten.
Eine rabbinische Geschichte
In einer solchen schwierigen Debatte helfen vielleicht Geschichten aus einer anderen Welt, gefühlte Wirklichkeiten zu hinterfragen und Widersprüche aufzulösen. Eine rabbinische Geschichte von Ahron Daum (zitiert nach Alexander Nachama, Einander die Hand reichen, in: Jüdische Allgemeine 14. September 2023) mag vielleicht zeigen, wie sich diese „Fremdheiten“ auflösen ließen: „Ein Rabbiner sagte einst zu seinen Schülern: ‚Wir sind so weit von dem entfernt, wo Gott uns haben möchte, wie der Osten vom Westen.‘ Diese Bemerkung regte die Schüler zum Nachdenken an. Darauf fragt der Rabbiner sie: ‚Wie weit ist der Osten eigentlich vom Westen entfernt?‘ Ein Schüler meldete sich sofort und meint: ‚11.000 Meilen, das habe ich gerade in einem Buch gelesen.‘ Der Rabbiner antwortete: ‚Nein das ist falsch.‘ Ein anderer Schüler meldete sich und sagte: ‚22.000 Meilen. Das ist der Umfang der Erde.‘ Der Rabbiner antwortete: ‚Nein, das ist ebenfalls falsch. Die Entfernung vom Osten zum Westen beträgt einen Schritt. Man blickt nach Osten – macht einen Schritt, dreht sich um – und blickt nach Westen.‘“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2023, Internetzugriffe zuletzt am 17. Oktober 2023.)