Der 18. Brumaire des Donald J. Trump
Warum Demokrat*innen einen Strategiewechsel erwägen sollten
„Je blinder diese Prozesse der Entladung sozialer Elementargewalten verlaufen, umso stärker stets auch das Bestreben, nicht nur den feindlichen Mächten eine Charaktermaske aufzulegen, um sie (real oder vermeintlich) zu identifizieren, sondern auch der inbrünstige Drang, der eigenen Großen Sache ein Gesicht und eine Gestalt zu geben. / Dabei wird tatsächlich ein hochverdichteter mythologischer Akt vollzogen. Nichts aussichtsloser als der Versuch, verstehen zu wollen, wer ein Josef Stalin gewesen ist. Je näher man hinschaut, um so mysteriöser wird er als Mensch. Was ihn zu ‚Stalin‘ macht, sind eben nicht primär seine individuellen Eigenschaften, sondern die Bedürftigkeit der vielen, die sich seiner Führung unterwerfen.“ (Gerd Koenen, Die großen Gesänge – Lenin, Stalin, Mao, Castro… Sozialistischer Personenkult und seine Sänger von Gorki bis Brecht – von Aragon bis Neruda, Frankfurt am Main, Eichborn, 1987))
Statt Stalin hätte hier auch ein anderer Name genannt werden können, beispielsweise Adolf Hitler oder Mao Tse-Tung. Es könnten weitere, auch zeitgenössische Namen genannt werden, aber ich möchte ungern das ungeschriebene Gesetz jeder Online-Plattform erfüllen, derzufolge es absehbar ist, bis der erste Vergleich mit dem Nationalsozialismus oder mit Hitler auftaucht, auch wenn das, was ich hier in diesem Essay schreibe, meine Absicht Lügen strafen könnte.
Demokratisch gewählter Terror
Das gängige Bild einer gelungenen Machtübernahme beruht auf der terroristischen Ausschaltung aller Gegner, wie dies in der Sowjetunion oder dem maoistischen China gelang. Wahlergebnisse spielten in diesen beiden Ländern keine Rolle, wohl aber im Deutschen Reich der 1920er und frühen 1930er Jahre. Diktatoren brauchen nicht unbedingt einen Putsch. Sie können sich demokratisch an die Macht wählen lassen. Ob die in Analysen rechtspopulistischer und rechtsextremer Bewegungen und Parteien immer wieder genannten 3,5 Prozent der Bevölkerung ausreichen, um Diktatoren zur Macht zu verhelfen, wage ich nicht zu beurteilen. Für eine Destabilisierung der jeweiligen Verhältnisse können 3,5 Prozent reichen. Der NSDAP gelang nicht nur dies, sondern auch, ihre Stimmenanteile gegen Ende der 1920er Jahre erheblich auszubauen. Ihre Wahlerfolge vom 14. September 1930 und am 31. Juli 1932 führten zum 30. Januar 1933, sie waren die Grundlage der terroristischen Ausschaltung der Gegner, die in wenigen Monaten gelang. Er konnte sich – spätestens nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 – auf einen Mehrheitswillen in der Bevölkerung berufen, hilfreiche Bündnispartner wurden assimiliert, Gegner vernichtet.
Extremistischer Staatsterror kann nicht nur in undemokratischen, sondern auch in demokratischen Verhältnissen entstehen, und die Weimarer Republik war eine parlamentarische Demokratie. Als Kronzeugen für die Gefährdung einer Demokratie zitiert Madeleine Albright Primo Levi. Sie leitete ihr Buch „Faschismus – Eine Warnung“ mit einem Satz von Primo Levi ein: „Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus.“ Es gibt Übergangszeiten zum Staatsterror, sodass der Satz, man*frau solle den Anfängen wehren, seinen Sinn erhält. Aber man*frau muss diese Anfänge auch erkennen: „Erreicht werden könnte der kritische Punkt nicht erst, so Levi, wenn der Terror polizeilicher Einschüchterung um sich greift, sondern bereits, wenn ‚Informationen unterdrückt oder verzerrt werden, die Rechtsnormen nicht gelten, das Bildungssystem versagt und auf tausenderlei Weise unterschwellig die falsche Sehnsucht nach einer Welt geweckt wird, in der Ordnung herrschte.‘“ (Koautor von Madeleine Albright war Bill Woodward, englische Ausgabe 2019 unter dem Titel „Fascism – A Warning“ bei HarperCollins Publishers in New York erschienen, deutsche Ausgabe im selben Jahr bei DuMont in Köln)
Der „Agitator“ – ein Typus, keine Persönlichkeit
Leo Löwenthal analysiert die kriminellen, terroristischen Potenziale, die in dem Typus eines Politikers stecken, den er den „Agitator“ nennt. Der „Agitator“ ist der Typus eines Politikers, der noch nicht zum Verbrecher geworden ist, der aber auf dem Wege sein könnte, einer zu werden, sobald er genügend Anhänger*innen gewonnen hat. Leo Löwenthal hat diesen Typus in seiner Arbeit „Falsche Propheten – Studien zur faschistischen Agitation“ beschrieben (in deutscher Sprache nachzulesen in „Falsche Propheten – Studien zum Autoritarismus“, Frankfurt am Main, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1982, dort nachlesbar auch Hinweise zur Editions- und Entstehungsgeschichte. das amerikanische Original erschien 1949 unter dem Titel „Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator“ als vierter Band der Reihe „Studies in Prejudice“, die das Institute of Social Research durchgeführt hatte).
Der „Agitator“ ist ein Typus, er ist keine Persönlichkeit, vielleicht nicht einmal eine Person, und zu diesem Typus wird er nicht aus eigener Kraft, sondern durch seine Anhänger*innen, die ihm – wie Gerd Koenen andeutet – gewisse „mythologische“ Qualitäten zuschreiben. Von Stalin gibt es eine Anekdote, die diesen Zusammenhang illustriert. Stalin soll seinem Sohn sein an der Wand – wie an vielen Wänden der Sowjetunion – hängendes Portrait mit den Worten gezeigt haben, nicht er sei Stalin, sondern der auf dem Bild abgebildete Mann. Ohne die einen Mythos schaffende Interaktion zwischen „Agitator“ und seinen Anhänger*innen wären selbst ein Hitler, ein Stalin oder ein Mao wirkungslos.
Donald J. Trump, Recep Tayyip Erdoğan, Jair Bolsonaro, Nicolás Maduro, Rodrigo Duterte, Vladimir Putin, Aljaksandr Lukaschenko, Victor Orbán und Jarosław Kaczińsky, mit Abstrichen Boris Johnson, Marine Le Pen, Matteo Salvini, Alexander Gauland. Björn Höcke und Attila Hildmann entsprechen in vielen Zügen ihres Auftretens und ihres politischen Werdegangs dem von Leo Löwenthal beschriebenen Typus des „Agitators“. Sie sind schließlich Wiedergänger*innen eines Typus, den Karl Marx in seiner Schrift „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ (erstmals veröffentlicht im Jahr 1852, verfügbar in MEW Bd. 8) beschrieben hat. Bei Karl Marx finden wir auch eine Erklärung, wie es zu dem Erfolg des „Agitators“ kommen kann und warum diejenigen, die seine Machtübernahme verhindern wollen, scheitern.
David Runciman hat die schleichenden, sanften Formen der Entstehung einer Diktatur in seinem Buch „So endet die Demokratie“ analysiert (Frankfurt am Main / New York, Campus Verlag, 2020, englisches Original: „How Democracy Ends“, London, Profile Books, 2018). Die angehenden Diktatoren profitieren von Stimmungen, die sich nach dem Schneeballprinzip vervielfältigen. Die Wahlen, die zu ihrer Machtübernahme führen, sind in der Regel – abgesehen von dem sie mitunter begleitenden Straßenterror – reguläre Wahlen. Wahlfälschungen und einseitige Veränderungen im Wahlsystem gehören erst nach der Machtübernahme der „Agitatoren“ zum Instrumentenkasten der Machterhaltung.
Demokratische Politiker*innen gefährden, desavouieren sich selbst – vor der Machtübernahme des „Agitators“, danach verlieren sie Status und Einfluss. Madeleine Albright beschreibt die Anfälligkeit von Demokratien: „Demokratien sind bekanntlich anfällig für viele Übel, angefangen von Inkompetenz und Korruption bis hin zum starren Festhalten an überkommenen Vorstellungen und zu lähmenden Pattsituationen.“ Eben dies machen sich „Agitatoren“ zunutze. „Missbraucht ein Diktator seine Autorität, gibt es keinen legalen Weg, ihn zu stoppen. Gerät eine freie Gesellschaft auf die falsche Bahn, bleibt ihr immer noch die Möglichkeit diesem Problem durch eine offene Debatte oder die Wahl einer neuen Regierung abzuhelfen.“ Der Erfolg eines „Agitators“ auf seinem Weg zum „Diktator“ hängt somit auch davon ab, wie es ihm gelingt, die „Gesellschaft“ von der Unzulänglichkeit der demokratischen Politiker*innen zu überzeugen.
Die Pose der Grandiosität
Leo Löwenthal analysierte die Auftritte mehrerer amerikanischer Politiker der 1940er Jahre, deren Eigenschaften sich bei Donald J. Trump, den Madeleine Albright, als den „erste(n) antidemokratische(n) Präsident(en) in der neueren Geschichte der USA“ bezeichnet, und seinen Gesinnungsgefährt*innen finden lassen. Vielleicht lässt sich dieses Auftreten mit dem Begriff der Grandiosität fassen, die der „Agitator“ ausstrahlt und auf seine Anhänger*innen zu übertragen versteht. Als Modell der theatralischen Inszenierung von Grandiosität mag Benito Mussolini gelten. Legendär sind seine Auftritte auf Balkonen historisch bedeutsamer Gebäude, die Arme je nach intendierter Wirkung erhoben oder vor der Brust verschränkt, vorgeschobenes Kinn, visionärer Blick in eine unbestimmte Ferne, verbunden mit ständigen Kunstpausen zur Bestätigung einer Pointe seiner Rede. Die so provozierten Ovationen des Publikums werden in diesen Pausen zur Huldigung. Gleichzeitig inszeniert der „Agitator“ sich als bescheidenen Menschen. „Das Geheimnis seines Führungscharismas besteht zum Teil in seiner Selbstdarstellung als eines genügsamen, unabhängigen Menschen.“
In seiner Selbstdarstellung ist er maßlos. Auf der einen Seite vermag der „Agitator“ sich als bescheidenen Christenmenschen, als „Mann aus dem Volke“, darzustellen, der das Schicksal derjenigen teilt, zu denen er spricht, auf der anderen Seite „ist christliche Demut kaum eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften. Bei aller Existenz, ein Mann aus dem Volke zu sein, zögert er nicht zu erklären, dass er ein außergewöhnlich talentierter Mann sei, der seine Begabung nicht nur kenne, sondern auch selbst bewundere.“ Er ist der einzig wahrhaft erfolgreiche Geschäftsmann (bei Trump der „Deal-Maker“). Schulden spielen für ihn keine Rolle, denn andere werden sie bezahlen, lediglich der finanzielle Erfolg zählt: „er verherrlicht vielmehr den Industriellen als Inkarnation von Initiative, Erfindungsgabe und Tüchtigkeit. Die Tätigkeit des Bankiers dagegen gilt als besonders räuberisch und parasitär.“
Der von Leo Löwenthal beschriebene „Agitator“ hält sich für unbesiegbar. „Sein eigener Körper ist unverwüstlich, aber die hilflosen Körper des Feindes – diese parasitären, krankheitsbrütenden Tiere niedriger Ordnung – sind dem Untergang geweiht. Hinter den wimmernden Klagen und der triumphierenden Selbstbewunderung dieses unzerstörbaren Märtyrers lauert die Vision des rassisch überlegenen Sturmbannführers.“ Der „Agitator“ besiegt jede Krankheit, so Donald Trump auch COVID-19, er wird dadurch sogar noch stärker und vermag es, seine Anhänger*innen zu schützen, nicht indem er Medikamente und Impfung verschafft, sondern indem er andere Menschen, die er als unterwertig betrachtet, als die eigentlichen Überbringer*innen der Infektion bezeichnet und diese zu hindern verspricht, sich ihm und seinen Anhänger*innen zu nähern.
Der „Agitator“ inszeniert sich als gebildeten Menschen, schreibt sich selbst geniale Eigenschaften zu, nicht im Sinne der Universitäten der Ivy League oder anderer intellektueller Einrichtungen, sondern im Sinne geheimer, zunächst nur ihm zugänglichen Informationen. „Er zitiert mysteriöse ‚Quellen‘, die es ihm ermöglichten, ‚vor drei Jahren die korrekte Diagnose zu stellen, dass die Präsidentschaftswahlen von 1940 nicht ‚bona fide‘ sein würden.‘“ Und dies tut er „in der Sprache jugendlicher Gangleader.“ Darüber hinaus sorgt er dafür, dass diejenigen, die seine Wahrheiten aufnehmen, sich stets darüber im Klaren sind, dass nur er ihnen diese und weitere Wahrheiten verschaffen kann. Er ist Prophet und Messias zugleich. „Im Gegensatz zum authentischen Erzieher ist er nie bestrebt, sich überflüssig zu machen, indem er Methoden des Erwerbs von Wissen lehrt. Er bleibt stets der magische Meister.“
Diese Einstellungen prägten die Wortwahl des 45. US-Präsidenten Donald Trump von Beginn bis zum Ende. Inszenierte er schon zu Beginn seiner Amtszeit „alternative Fakten“, bei der Amtsübernahme durch Verbreitung der Botschaft, dass noch kein Präsident sich so vieler Teilnehmer*innen hätte rühmen dürfen, wusste er bis in die letzten Stunden seiner Amtszeit und darüber hinaus, dass nicht sein Konkurrent Joe Biden, sondern er die Wahl gewonnen hätte. Er ist in der Niederlage, die keine Niederlage ist, die „Verfolgte Unschuld“, ein Gefühl, das er auch bei seinen Anhänger*innen zu erzeugen vermag. Er ist sogar in seinem Leid überlegen: „Was er durchmacht, ist wahrhaftig ungewöhnlich, fast übermenschlich, und verglichen damit erscheinen die Beschwerden seiner Anhänger plötzlich wie winzige Unannehmlichkeiten, unbedeutende Reflektionen seiner eigenen großartigen Missgeschicke. Er ist der auserkorene Märtyrer einer großen Sache – seiner selbst.“
Grandiose Feinde
Seine Anhänger*innen verstehen den „Agitator“. Sie delegieren Erfüllung und Erfüllbarkeit ihrer Wünsche auf ihn und erhöhen ihn zu einer Art Messias. „Seine Anhänger sollen all ihr Vertrauen in seine Person setzen – ein neues, ich-fremdes und brutales Über-Ich.“ Sie wissen, dass es „nur auf den Erfolg ankommt. (…) Es ist ein tödlicher Kampf, und wer ihn nicht besteht, muss ausscheiden.“
Erfolgreiche Exklusion ist Methode und Maßstab seines Erfolgs. Mauern, Zäune, Militär an den Grenzen des von ihm beanspruchten und für seine Anhänger*innen exklusiv reservierten Territoriums sollen für physische Sicherheit, Gesundheit und Wohlstand sorgen. Die Menschen jenseits dieser Grenzen sollen mit allen Mitteln daran gehindert werden, das eigene geradezu geheiligte Territorium zu betreten. Die imperialistische Absicht der nationalsozialistischen Außenpolitik widerspricht diesem Befund nicht. Dem nationalsozialistischen Regime ging es darum, andere Länder zu erobern und ihre Bewohner*innen zu versklaven. Die Bewohner*innen der eroberten Länder werden „entmenschlicht“, „als Ausländer, der aus einer verdächtigen Gegend stammt, als Verbrecher, der sich in einem moralisch anrüchigen Milieu herumtreibt und als Degenerierten, der biologisch minderwertig ist.“ Dies entspricht der „Abneigung gegen niedere Tiere“, und so verwundert es nicht, wenn Fremde mit solchen Tieren verglichen werden. Besonders beliebt ist bei populistischen und extremistischen Politikern das Bild des Parasiten. Da kommt ein Virus gerade recht.
Aber die Feinde des „Agitators“ sind stark. Der „Agitator“ kann seine Wirkung nur entfalten, wenn er seine „Feinde“ ebenso grandios inszeniert wie sich, den Retter mit den quasi-messianischen Eigenschaften. Je größer der Gegner erscheint, desto größer das Verdienst seines Sieges, desto übermenschlicher sein Ruf. Der „Agitator“ bringt auf den Punkt, was seine Anhänger*innen ahnen. „Und so beginnt der Zuhörer zu nörgeln. Er nörgelt über Bürokraten, Juden, Vertreter im Kongress, Plutokraten, Kommunisten – und sonstige ihm zur Verfügung stehende Stereotypen, die für ihn eine Konzentration von Macht symbolisieren.“ Die Ahnung wird durch ihn zur Gewissheit. Leo Löwenthal bezeichnet den Optimismus, dass letztlich der „Agitator“ und seine Anhänger*innen siegen werden, als „Don Quichotte-Utopismus“.
Die Anhänger*innen sollen zum Instrument der Zerstörung der Feinde werden. Nicht von ungefähr gehörten Vokabeln wie „brutal“ und „fanatisch“ zum ständigen Repertoire nationalsozialistischer Redner. Leo Löwenthal schreibt: „Die beste Lösung ist daher, selbst ein Polizist zu werden, einer der Zerstörer im Dienste der Zerstörung.“ Und wenn der Auftrag der Zerstörung scheitert, kann dies eben nur an der Größe des Gegners liegen, dem geradezu satanische Fähigkeiten zugeschrieben werden. „Da die feindlichen Mächte so überwältigend sind, bleibt einem nur, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen … und sich überwältigen zu lassen. Wie der Mogler beim Patience-Legen und der Anhänger in der Niederlage seiner selbst zum Sieger werden.“
Es kam bei dem Sturm auf den amerikanischen Kongress am 6. Januar 2021 somit gar nicht darauf an, die Bestätigung der Wahl Joe Bidens zum amerikanischen Präsidenten zu verhindern, sondern lediglich darauf, mit der eigenen Niederlage die Stärke, Infamie und Rücksichtslosigkeit des Gegners offensichtlich werden zu lassen. Gefängnisstrafen werden zu Ehrenzeichen. Und der „Agitator“ bestätigt seine Anhänger*innen. Sein Mantra lautet: „‚Wir sind stolz auf unsere Feinde! Es ist eine Ehre, von solchen Leuten und Cliquen gehasst zu werden‘. Dann bemüht sich der Agitator, die diffuse Feindeinstellung seiner Anhänger wieder auf ein bestimmtes mythisches Bild zu konzentrieren.“
Mega-Feind Judentum
Die Feinde sind sich einig, bestens vernetzt und sie haben einen zentralen Auftraggeber. „Kapitalismus und Kommunismus sind nur Werkzeuge im Dienste ein und derselben dritten Macht, des Judentums.“ Der „Agitator“, seine Anhänger*innen und die Juden als Repräsentant schlechthin aller „Feinde“ bilden ein Dreieck, das sämtliche Gegensätze, Auseinandersetzungen, Kämpfe, die es siegreich zu bestehen gilt, in sich erfasst. Es ließe sich darüber debattieren, wie erfolgreich beispielsweise ein Viktor Orbán ohne seinen Erzfeind George Soros, die iranischen Mullahs ohne den ihren, die USA und Israel, wären.
Dabei bestreitet der „Agitator“, „Antisemit“ zu sein. Er leugnet sogar die Existenz von Antisemitismus. „Die Idee von der jüdischen Kollektivschuld dient ihm dazu, seine Haltung zu rationalisieren. Der Agitator ist so sehr Gegner des Antisemitismus, dass er die Juden beschwört, die Anlässe aus der Welt zu schaffen, und ihnen Ratschläge erteilt, wie sie das bewerkstelligen könnten. Dadurch aber beweist er nur, dass die ‚bösen‘ Juden ihre destruktive Tätigkeit nur unter dem passiven Schutz der ‚guten‘ ausüben können, und so schmuggelt er die Vorstellung von der Kollektivschuld ein.“ Ebenso wenig halten sich der „Agitator“ und seine Anhänger*innen für fremdenfeindlich. Im Gegenteil: der heute von der Identitären Bewegung vertretene „Ethnopluralismus“ weist jedem Volk sein Territorium zu, das es nur nicht verlassen brauche, um in Frieden mit seinen Nachbarn zu leben. Aber wehe, jemand überschreitet die Grenze.
Das Judentum ist für den antisemitischen „Agitator“ der Ausgangspunkt intersektionaler Diffamierung, Diskriminierung und Machtphantasien, die sich bis hin zu Vernichtungsphantasien entwickeln können, wie sie die Nazis mit Unterstützung der großen Mehrheit der Deutschen (und Österreicher*innen) in die Tat umsetzten. Da aber oft die Verweise auf eine politische oder wirtschaftliche Überlegenheit des Gegners nicht ausreichen, sind biologische, gewissermaßen für natürlich erklärte Elemente unabdingbar. Der scheinbar überlegene Feind muss zum Unterlegenen werden. So beruft sich der „Agitator“ auf die Natur: „Der Agitator als Sozialtherapeut bezieht alle pathologischen Symptome auf den ‚fremden‘ Erreger.“ Er versucht, die „Verteidigung ethischer Werte auf die Ebene biologischer Selbstverteidigung zu verschieben.“ Aber es sind natürlich nicht nur die Juden, die der „Agitator“ angreift. „Indem er den Juden angeifert, gilt sein Angriff eigentlich allen Kräften der Gesellschaft, an denen er etwas auszusetzen findet. Der Jude wird das Symbol, auf das der Agitator seinen ganzen eigenen, ohnmächtigen Zorn gegen das Ungenügen der Zivilisation projiziert“
Und da er das von ihm angegriffene Unheil nicht beseitigen kann, lässt er letztlich all seinen Hass an denen aus, die in seiner engeren Umgebung leben und die anders leben und denken als er. So auch seine Anhänger*innen. Sie denken und handeln in streng hierarchischen Mustern, in denen sie die Herren der Welt sind. Bewegungen wie #Metoo müssen sie angreifen, weil sie sich durch diese herabgesetzt fühlen. Sexualisierte Gewalt, sexuelle Übergriffe beweisen nur die eigene Überlegenheit, sie sind daher aus ihrer Sicht nicht verwerflich. Der „Agitator“ wertet Menschen, die anders sind als er, dermaßen konsequent ab, dass seine Anhänger*innen sich legitimiert sehen, sogar Gewalt auszuüben. „Die Hiebe, die der unbefriedigte Spießer an seine Frau oder seine Kinder austeilt, um so seine ohnmächtige Wut zu stillen, werden im Maßstab einer ganzen Gesellschaft wiederholt.“
Tragödie oder Farce?
Die ersten beiden Sätze der Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ sind legendär: „Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hineinzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Ich habe oft darüber nachgedacht, ob sich nicht mit der Zeit die „Farce“ immer wieder als „Farce“ wiederholt. Die ersten theatralischen Auftritte Hitlers und Mussolinis mögen manche Zeitgenoss*innen als eine solche „Farce“ verstanden haben. Das Ergebnis war eine „Tragödie“. Möglicherweise besteht die Herausforderung der Politik darin, dafür zu sorgen, dass keine „Farce“ jemals wieder zur „Tragödie“ wird. Vielleicht wäre dies die zugespitzt dialektische Version der Analyse des Karl Marx.
Karl Marx analysiert in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ das Auftreten und die Resonanz des Louis Napoléon, der durchaus dem von Leo Löwenthal beschriebenen Typus des „Agitators“ entspricht, sowie die Interaktion zwischen dem „Agitator“ und seinen Anhänger*innen. „Bonaparte als die verselbständigte Macht der Exekutivgewalt fühlt seinen Beruf, die ‚bürgerliche Ordnung‘ sicherzustellen. Aber die Stärke dieser bürgerlichen Ordnung ist die Mittelklasse. Er weiß sich daher als Repräsentant der Mittelklasse und erlässt Dekrete in diesem Sinne.“
Louis Napoléon schafft es allerdings, sich als Vertreter nicht nur der „Mittelklasse“, sondern auch aller anderen Klassen zu inszenieren. „Bonaparte weiß sich zugleich gegen die Bourgeoisie als Vertreter der Bauern und des Volkes überhaupt, der innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft die untern Volksklassen beglücken will. (…) Aber Bonaparte weiß sich vor allem als Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember, als Repräsentanten des Lumpenproletariats, dem er selbst, seine entourage, seine Regierung und seine Armee angehören und für das es sich vor allem darum handelt, sich wohlzutun und kalifornische Lose aus dem Staatsschatze zu ziehn. Und er bestätigt sich als Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember mit Dekreten, ohne Dekrete und trotz der Dekrete.“
Der Erfolg des Louis Napoléon ergab sich aus der diffusen Koalition der ihn stützenden Akteure. Und ein weiterer Vorteil war der Zwist seiner Gegner. Diese handelten gegen ihre eigenen Interessen, indem sie ihnen eigentlich widersinnige Koalitionen eingingen, die letztlich alle die Machtübernahme des neuen Diktators begünstigten. „Und allerdings, auf den ersten Blick zeigt die Ordnungspartei einen Knäuel von verschiedenen royalistischen Fraktionen, die nicht nur gegeneinander intrigieren, um jede ihren eigenen Prätendenten auf den Thron zu erheben und den Prätendenten der Gegenpartei auszuschließen, sondern auch sich alle vereinigen in gemeinschaftlichem Hass und gemeinschaftlichen Angriffen gegen die ‚Republik‘. Die Montagne ihrerseits erscheint im Gegensatz zu dieser royalistischen Konspiration als Vertreterin der ‚Republik‘. Die Ordnungspartei erscheint beständig beschäftigt mit einer ‚Reaktion‘, die sich nicht mehr nicht minder als in Preußen gegen Presse, Assoziation u.dgl. richtet und brutalen Polizeieinmischungen der Bürokratie, der Gendarmerie und der Parkette sich vollstreckt wie in Preußen. Die ‚Montagne‘ ihrerseits wieder ist ebenso fortwährend beschäftigt, diese Angriffe abzuwehren und so die ‚ewigen Menschenrechte‘ zu verteidige, wie jede sogenannte Volkspartei mehr oder minder mit anderthalb Jahrhunderten getan hat. Vor einer nähern Betrachtung der Situation und der Parteien verschwindet indes dieser oberflächliche Schein, der den Klassenkampf und die eigentümliche Physiognomie dieser Periode verschleiert.“
Niemand weiß mehr, um was es eigentlich geht. Für Karl Marx ist der zentrale Begriff der „Klassenkampf“. Es könnte aber auch ein anderer Begriff sein, für die einen die „Menschenrechte“, für die anderen die „Republik“, für wiederum andere der „Thron“. Und mehr noch: innerhalb der jeweiligen Parteien bilden sich Fraktionen. Lenin verbot die Bildung von Fraktionen und bewirkte damit eine weitere Verschärfung der gewaltsamen Unterdrückung oppositioneller Gruppen, die Stalin perfektionierte. Hitler versprach in seinen Wahlkämpfen von vornherein, die zahlreichen Parteien, mit denen er konkurrierte, zu vernichten. Was er dann ja auch tat.
Der „Agitator“ beziehungsweise Diktator profitiert von der Uneinigkeit seiner Gegner, vor und erst recht nach der Machtübernahme. Uneinigkeit ist geradezu ebenso eine Gelingensbedingung für die Machtübernahme eines „Agitators“ wie die Vereinigung der Adressat*innen seiner Reden und Aktionen gegen den gemeinsamen mythischen Feind.
Das Versagen der Sozialdemokratie
Während Leo Löwenthal den Freund-Feind-Antagonismus im Sinne von Carl Schmitt als Lebenselixier des „Agitators“ herausarbeitet, konzentriert sich Karl Marx auf die Unfähigkeit der Vertreter*innen fortschrittlicher Politik. Und wie könnte es anders sein: das Versagen ist Sache der Sozialdemokratie. Karl Marx beschreibt die Entstehung der „sozial-demokratische(n) Partei“ aus einer „Koalition zwischen Kleinbürgern und Arbeitern“. Auch diese Partei versucht, politische Kontroversen zu minimieren, aber sie tut es nicht, indem sie etwas Drittes als Lösung des Streits anbietet wie dies der „Agitator“ tut, sie will „Harmonie“ und beschädigt sich und die Menschen, deren Interessen sie zu vertreten glaubt, damit selbst. „Der eigentümliche Charakter der Sozial-Demokratie fasst sich dahin zusammen, dass demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln.“
Das Ergebnis ist Wirkungslosigkeit, auch dies eine „Farce“, die die Sozialdemokratie, nicht nur in ihrem Ursprungsland Deutschland, bis in das 21. Jahrhundert in immer neuen Varianten zu begleiten scheint. Die sozialdemokratische Partei wird zur Partei eines Kleinbürgertums, dem sich die Arbeiter bereitwillig assimilieren. Es geht nicht um politische Teilhabe, sondern um Pflege des Vorgartens. „Es (d.i. das Kleinbürgertum, NR) glaubt vielmehr, dass die besondern Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann.“
Eine Strategie hat die „sozial-demokratische“ Partei nicht. „Keine Partei übertreibt sich mehr ihre Mittel als die demokratische, keine täuscht sich leichtsinniger über die Situation. Wenn ein Teil der Armee für sie gestimmt hatte, war die Montagne nun auch überzeugt, dass die Armee für sie revoltieren werde.“ So glaubt die Partei sich schon bei kleinen scheinbaren Fortschritten der Zustimmung einzelner Bevölkerungsgruppen auf dem Weg zum Erfolg. „Jedenfalls geht der Demokrat ebenso makellos aus der schmählichsten Niederlage heraus, wie er unschuldig in sie hineingegangen ist, mit der neugewonnenen Überzeugung, dass er siegen muss, nicht dass er selbst und seine Partei den alten Standpunkt aufzugeben, sondern umgekehrt, dass die Verhältnisse ihm entgegenzureifen haben.“
Profiteur dieser Fehleinschätzungen ist der „Agitator“, der sich zum neuen Diktator aufzuschwingen vermag. „Und in Bonaparte verschmolz der kaiserliche Prätendent so innig mit dem heruntergekommenen Glücksritter, dass die eine große Idee, er sei berufen, das Kaisertum zu restaurieren, stets von der andern ergänzt ward, das französische Volk sei berufen, seine Schulden zu zahlen.“ Und genau dies tat es dann! Alle Macht der Exekutive! „Die Exekutivgewalt im Gegensatz zur Legislativen drückt die Heteronomie der Nation im Gegensatz zu ihrer Autonomie aus. Frankreich scheint also nur der Despotie einer Klasse entlaufen, um unter die Despotie eines Individuums zurückzufallen und zwar unter die Autorität eines Individuums ohne Autorität. Der Kampf scheint so geschlichtet, dass alle Klassen gleich machtlos und gleich lautlos vor dem Kolben niederknien.“ Für die Sozialdemokratie wird die „Farce“ zur „Tragödie“, bis zur nächsten „Farce“.
Die sanfte Form der Agitation
Donald J. Trump ist nicht mehr Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Die „Tragödie“ wird nicht stattfinden, die der „Farce“ seiner Präsidentschaft hätte folgen können, zumindest in den Fantasien mancher seiner Anhänger*innen, die bis zur letzten Sekunde seiner Präsidentschaft und darüber hinaus an den gestohlenen Wahlsieg glauben. Der Sturm auf das Capitol vom 6. Januar 2021 war eine „Farce“, die Karikatur eines Aufstands. Dies ändert jedoch nichts daran, dass ein „Agitator“ wie ihn Donald J. Trump verkörpert durchaus die Anhänger*innen finden könnte, die aus der Karikatur, der „Farce“ eine „Tragödie“ machten.
Tragödien entstehen im 21. Jahrhundert leise. Es gibt keine gewalttätigen Revolutionen mehr, zumindest nicht in den USA, nicht in den Staaten der Europäischen Union, auch nicht in vielen anderen Staaten. Die Militärputsche südamerikanischer Länder gehören der Vergangenheit an. Selbst die Putsche, die mit mehr oder weniger unregelmäßigen Abständen aus afrikanischen Staaten berichtet werden, sind keine Putsche im engeren Sinne, nicht gewaltsam herbeigeführte, eher gewaltsam unterstützte Machtwechsel, die jedoch nicht mehr und nicht weniger fragil sind als die Macht der Führungsgruppe, die abgelöst wurde. Der Militärputsch vom Ende Januar 2021 in Myanmar ist die Ausnahme, nicht die Regel.
Das Potenzial zur „Tragödie“ bleibt bestehen. Wir finden die „Tragödie“ in türkischen und iranischen Gefängnissen, in den chinesischen Lagern im uigurischen Xinjiang, auf den Schlauchbooten im Mittelmeer, in libanesischen Flüchtlingslagern. David Runciman hat bereits 2017 beim Amtsantritt von Donald Trump prophezeit, dass die amerikanische Demokratie Trump überlebe. Dies heiße jedoch nicht, dass niemand mehr die Macht hätte, die die „Tragödie“ herbeiführen könne, im Grunde mit den Mitteln der „Farce“. „Die amerikanische Demokratie kann Trump überleben, weil ihre Abwehrmechanismen für seine Ablösung sorgen werden. Sie helfen aber nicht, Zuckerberg abzuwehren, weil dazu etwas Positiveres notwendig wäre. Um der politischen Leere, die wir zunehmend verspüren, die Stirn zu bieten, brauchen wir eben die Institutionen, die ein Turbosolutionismus und ein Turboexpressionismus aushöhlen.“
Die zweite Amtszeit Donald Trumps bleibt uns erspart, vorerst. Vielleicht ist er selbst Ursache seines Misserfolgs, denn seine „Agitation“ war nie kohärent, sondern stets ausschließlich auf spontane Wirkung bezogen. Er hatte durchaus etwas von dem „Gangleader“, von dem Leo Löwenthal schrieb. David Runciman sieht Trumps (damals noch zukünftigen) Misserfolg in der Unfähigkeit begründet, horizontale Netzwerke zu schaffen. „Vertikale Beziehungen müssen durch horizontale ergänzt werden, in denen Menschen zusammenarbeiten, um etwas zu schaffen. Trumps Versagen, seine vertikalen Beziehungen zu ergänzen, ist ein wichtiger Grund, warum es ihm so schwerfällt, Ergebnisse zu erziehen.“ Es wird Joe Biden leichtfallen, von Donald Trump erlassene Vorgaben zurückzunehmen, es wird ihm jedoch nicht leichtfallen, die ideologisch-mythischen Grundlagen der sanften „Agitation“ zurückzudrängen, die die Anhänger*innen von Donald Trump nach wie vor beseelt.
David Runciman glaubt dennoch, dass demokratische Politiker aus den horizontalen Netzwerken der sozialen Medien Stärke gewinnen könnten. Doch gibt es dafür keine Garantie, weil die sozialen Netzwerke horizontale Netzwerke vorgaukeln, in Wirklichkeit jedoch vertikal funktionieren, denn diejenigen, die dort die meisten Follower haben, können sich dort so gut wie ohne Widerspruch als „Agitator“ inszenieren. Dies ist die Gefahr, die David Runciman mit dem Namen „Zuckerberg“ verbindet. „Zuckerberg“ ist nicht die konkrete Person Marc Zuckerberg, sondern eine Metapher für die sanfte „Agitation“ der sozialen Medien, deren Spielräume jederzeit von denen, die sich zum „Agitator“ berufen fühlen, genutzt werden kann. Denn „Facebook ist wie ein moderner Staat zugleich eine Hierarchie und ein Netzwerk.“
Twitter und Facebook sorgten dafür, dass Donald Trump Erfolg haben konnte, indem sie ihm das boten, was er selbst nicht hatte, das horizontale Netzwerk. Insofern lässt sich durchaus darüber spekulieren, ob der bisherige Trump nicht auch oder möglicherweise vor allem ein Medienprodukt war. Würde diese Frage mit Ja beantwortet, hätte Trump sogar noch eine politische Zukunft. Oder eine andere ihm ähnelnde Figur. Gewalttätige „Proud Boys“ sind dann nicht mehr und nicht weniger als der bewaffnete Arm einer medial geschaffenen Bewegung der sanften „Agitation“, eine amerikanische SA. Es könnte ihnen gelingen, die ominösen 3,5 Prozent zu mobilisieren.
„The Master’s Tools“
Hat ein „Agitator“ Erfolg, inspiriert er viele andere. So war es auch nach dem Wahlsieg Trumps im November 2016. Die „Agitatoren“ lernen voneinander und profitieren von den horizontalen Netzwerken, die David Runciman in der Metapher „Zuckerberg“ zusammenfasst. Madeleine Albright: „Die Staatschefs weltweit beobachten und imitieren einander. Sie registrieren genau, in welche Richtung ihre Amtskollegen steuern, womit sie ungestraft davonkommen und wie sie ihre Macht erhalten und ausbauen. Sie folgen einander in den Fußstapfen, so wie Hitler Mussolini gefolgt ist.“
Die politischen Parteien des 21. Jahrhunderts verhalten sich kaum so als könnte es gelingen, die in dem Namen „Zuckerberg“ personalisierte „Agitation“ in den sogenannten sozialen Medien zu kontrollieren und damit zukünftige Medienprodukte nach dem Muster Donald Trump zu verhindern. Sie verhalten sich nicht anders als der von Leo Löwenthal beschriebene „Agitator“, im Ton moderater, aber im Ergebnis nicht weniger polarisierend. Sie verkörpern nicht die elementare Wucht eines Donald Trump, verfahren aber vergleichbar.
Dies ist die grundlegende Schwäche der Gegner des „Agitators“. Auch sie inszenieren sich als Allwissende, Allmächtige und glauben, dies mache ihre Wahl attraktiv: „Im Wahlkampf versprechen Politiker allen immer noch alles: Diese soziale Bewegung wird eure persönlichen Probleme lösen: jener Persönlichkeitskult wird euer Land wieder gesund machen. Diese leeren Versprechungen holen die Politiker über kurz oder lang wieder ein und dann werden sie durch andere Politiker abgelöst. Aber die Demokratie wird um nichts besser.“ Wir dürfen nicht vergessen, dass die agitatorisch-diktatorischen Auftritte der brasilianischen, philippinischen, polnischen, ungarischen und türkischen Regierungen durch Wahlen zustande kamen, in denen klare Feindbilder präsentiert wurden, gegen die nur der „Agitator“ helfen könne. Carl Schmitt bietet offenbar immer noch das zentrale politische Modell und die sozialen Medien geben seinen Anhänger*innen den erforderlichen Resonanzboden.
Bildung wird daran nichts ändern, denn die „Gebildeten“ verhalten sich wie eine eigene Kaste, die alle, die nicht so gebildet sind wie sie, ausschließt. „Sie verwechseln ihr Lagerdenken anscheinend mit politischer Klugheit“. Und so wird die beste politische Bildung nicht helfen, Populist*innen und Extremist*innen in ihre Schranken zu verweisen. Der Staat agiert als „Maschine“ der Bedürfniserfüllung, die dann gelingt, wenn bestimmte Gruppen sichtbar diffamiert und ausgeschlossen werden. Denn nicht der eigene Wohlstand, sondern die Exklusion der anderen entscheiden über den Erfolg des „Agitators“. Die Frage der materiellen Bedürfniserfüllung ist nur eine Übergangsphase auf dem Weg zur Machtübernahme. Erfüllt der demokratische Staat die Aufgabe der Bedürfniserfüllung in den Augen vieler Bürger*innen nicht oder nur unzureichend, wird er anfällig für antidemokratische „Agitatoren“, die ihn sozusagen auf allen Kanälen angreifen. David Runciman vergleicht den modernen digitalen Staat mit dem „Leviathan“ des Thomas Hobbes (1651). Die sozialen Netzwerke heißen hier „Korporationen“: „Die Maschinen, die Hobbes am meisten Angst einjagten, waren die Korporationen. (…) Eine Korporation ist eine unnatürliche Vereinigung von Menschen, die ein künstliches Leben bekommt, um zu tun, was sie wollen. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Menschen letzten Endes tun, was die Korporationen wollen.“
David Runciman fordert die „Politik“ auf, diese Problemlage aufzulösen. Aber auch er weiß nicht, wer das eigentlich sein sollte, dem dies gelingen mag. Die Formel „Politik“ bleibt unkonkret und so wächst das Dilemma, dass keine politische Partei, die jede „Agitation“ einhegen und wirkungslos machen könnte, erscheint. „Unsere Politik ist nach wie vor in Lager gespalten. Für jede potenzielle Lösung gibt es eine Gruppe von Leuten, die bereit sind, dagegen zu sticheln, und eine Gruppe von Politikern, die bereit sind, sie darin zu ermuntern. Digitaltechnologie ist anfällig dafür, Lagerdenken zu fördern selbst wenn sie uns davor zu bewahren versucht.“
Letztlich lautet die grundlegende Frage, ob die politische Zukunft von einem „Agitator“ bestimmt werden könnte oder ob es demokratischen Parteien gelingt, ihre von Karl Marx im „18. Brumaire“ beschriebene Inkompetenz zu überwinden. Der Horror, die Dystopie schlechthin entstünde meines Erachtens, wenn sich eine Staatsform durchsetzt, in der alle Bedingungen einer Diktatur erfüllt werden, obwohl es (noch) keinen „Agitator“ gibt, mit dessen Namen sie verbunden werden könnte. Es könnte reichen, dass die Gegner*innen dieser Diktatur sich verhalten wie die von Karl Marx im „18. Brumaire“ beschriebenen Parteien. Ein Strategiewechsel der Demokrat*innen tut not.
Ich schließe mit einem Text von Audre Lorde, aus dem sich meines Erachtens eine Formel für den von Demokrat*innen zu leistenden Strategiewechsel ableiten ließe: „It is learning how to take our differences and make them strengths. For the master’s tools will never dismantle the master’s house. They may allow us temporarily to beat him at his own game, but they will never enable us to bring about genuine change.“ (aus: The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House, in: Sister Outsider: Essays and Speeches, Ed. Berkley, 2007).
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2021, Internetlink am 15. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)