Der chinesische Spiegel
Alexander von Humboldt, Kim Stanley Robinson und Science Fiction aus China
„Wenn sich ein Mensch in einer Illusion verloren hat und nicht mehr weiß, wen er hassen soll, dann wird er alles hassen. Wenn die Freiheit durch die Umstände zerstört wird, wird er alles zerstören wollen … wie bei Pharrells Eltern hat der Algorithmus die Gewaltbereitschaft nicht wirklich eliminiert, im Gegenteil, er hat die manischen Ausprägungen der Echten verdoppelt.“ (aus: Chi Hui, Der Algorithmus der Artifiziellen, in: Chi Hui, Das Erbe der Menschheit und andere Geschichten, Augsburg, MaroVerlag, 2022)
Was fasziniert westliche Menschen an China? Wieso hat der chinesische Science-Fiction Autor Cixin Liu am Anfang des 21. Jahrhunderts alle Vorurteile gegen die chinesische Literatur widerlegt und eine Bestseller-Trilogie vorlegen können, die das gesamte Science-Fiction Genre neu belebt? Wie konnte dieser junge Autor aus der chinesischen Provinz so kongenial die neuesten Forschungen zur Kosmologie mit der Kulturgeschichte Chinas und der Weltpolitik der Gegenwart zu einem eschatologischen Meisterwerk der Science Fiction verbinden? Und welche chinesischen Autorinnen und Autoren sollten wir noch entdecken? Unterscheiden sich ihre Themen von den Themen europäischer und nordamerikanischer Science Fiction? Was ist das spezifisch Chinesische, beispielsweise an einer Erzählung zur Künstlichen Intelligenz wie der der zitierten jungen Autorin Chi Hui?
Vorsichtige Annäherungen
Literatur ist immer eingebunden in die Kultur des Landes, in der die Autorin oder der Autor aufgewachsen ist. Dies gilt auch für die fantastische Literatur und die Science Fiction, die sich mit Zukunftsvorstellungen für die Menschheit beschäftigt. Die kulturelle Gegenwart und die kulturelle Vergangenheit prägen die Zukunftsvorstellungen aller Menschen, besonders die Fiktionen von Autorinnen und Autoren, die wiederum die Zukunftsvorstellungen ihrer Leserinnen und Leser beeinflussen. Es ist deshalb immer interessant, sich mit den Lebenswelten der Autoren zu beschäftigen, wenn man ihre Narrative verstehen und schätzen lernen will. Vielleicht sollte man das Land, in dem sie schreiben, einfach einmal bereisen.
Ich war im Jahre 2011 für zwei Wochen in Kunming, Yunnan, China, um eine Freiwillige aus unserem damaligen „weltwärts-Bremen“-Freiwilligenprogramm zu besuchen. Der Besuch im Green Lake Park in Kunming hat mich begeistert und nachhaltig geprägt, denn die künstlerischen und musikalischen Präsentationen der Bürgerinnen und Bürger von Kunming im Green Lake Park haben mir, wenn auch nur ansatzweise, die Bedeutung von Musik, Tanz, Gemeinsamkeit, Tai Chi, Körperkultur, der chinesischen Bevölkerung in ihrem Alltagsleben vor Augen geführt und mich seinerzeit zu der Frage veranlasst: Warum gibt es so etwas (Musik, Tanz unter Beteiligung tausender Menschen) nicht im Bremer Bürgerpark, der Eilenriede in Hannover oder im Englischen Garten in München? Zehn Jahre später, beim Lesen der Werke von Cixin Liu, kamen weitere Fragen dazu, als ich mich wieder an Kunming erinnerte: Wie kommt es, dass die chinesische Science-Fiction-Literatur der Gegenwart so populär geworden ist, sodass es inzwischen auch eine amerikanische Netflix-Serie zur Drei-Sonnen-Trilogie gibt, und warum war sie im Westen so lange unbekannt?
Wie lässt sich das Phänomen erklären, dass die im Westen fast schon als literarische Ödnis wahrgenommene und letztlich ignorierte Gegenwartsliteratur China nun so plötzlich in den narrativen Erzählerhimmel der Science Fiction aufstieg? Ich versuche im Folgenden einige Argumente vorzustellen, die dieses Literaturphänomen besser verstehen helfen sollen. Bevor ich jedoch näher auf die chinesische Science Fiction eingehe, möchte ich einige grundlegende Dinge reflektieren, die zeigen, mit welcher Haltung ich versucht habe, mich dem eigentlichen Thema anzunähern. Kultur bezeichnet gemeinhin etwas, das der Mensch selbst gestaltend hervorbringt im Gegensatz zu dem, was er in der Natur als vorgegeben und nicht beeinflussbar vorfindet. Kulturleistungen beziehen sich auf alle formenden Umgestaltungen eines Materials, zum Beispiel in der Literatur, der Bildenden Kunst und der Technik, aber auch in Bereichen der geistigen Auseinandersetzung des Menschen mit mehr oder weniger alltäglichen Sachverhalten, der Wissenschaft, der Sprache, der Moral, der Religionen und Glaubensbekenntnisse jeglicher Art, der Rechtssysteme.
Als eine überragende Bedeutung kultureller Leistung wird die Erfindung der Schrift angesehen, obschon diese in der Menschheitsgeschichte sehr spät und nicht überall auf der Welt zur gleichen Zeit stattfand. Neil Mac Gregor schrieb in seinem wunderbaren Buch „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ (München, C.H. Beck, 2011, das englische Original erschien ein Jahr früher): „Die frühe Menschheitsgeschichte – also insgesamt mehr als 95 Prozent unserer Geschichte – lässt sich denn auch nur in Stein erzählen, denn neben menschlichen und tierischen Überresten haben einzig steinerne Objekte überdauert.“ Die Schrift als Dokumentation von Sprache wurde also erst sehr spät in die Kulturgeschichte der Menschheit integriert, um Erkenntnisse für die Nachwelt zu erhalten, zunächst im wahren Sinne des Wortes in Stein gemeißelt.
Mit Kultur wird die „Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Ausdrucksformen eines Volkes“ („Volk“ hier als einheitliche Komponente verstanden, die durch territoriale oder sprachliche Grenzen beschrieben werden kann, mit „völkischer“ Ideologie hat das nichts zu tun) bezeichnet, im Sinne von Lebensart in Abgrenzung von Zivilisation, die nach Wahrigs Deutschem Wörterbuch als „die technisch fortgeschrittenen, verfeinerten äußeren Formen des Lebens und der Lebensweise eines Volkes“ definiert wird.
Auf der Erde der Gegenwart findet sich heute – ebenso wenig wie in der Vergangenheit – nicht eine einzige Gesamt-Kultur der Menschheit, stattdessen gibt es zahlreiche regionale Kulturen mit unterschiedlichen Ausprägungen von Religionen, Glaubensgrundsätzen, Gesellschaftsverständnissen, Politikstrukturen und Organisationsformen des Alltagslebens. Damit verbunden gibt es sehr verschiedene Vorstellungen von dem, was als „ein gutes Leben“ bezeichnet werden könnte. Die Vielfalt der menschlichen Kulturen kann Gefahr und Chance zugleich sein. Sie versetzt manche in Angst und Schrecken und gibt anderen Verständnis und Glücksgefühle.
Ambiguitätstoleranz
Auf alle Fälle ist eines unverzichtbar, wenn man sich für Kulturen interessiert: Neugier, Offenheit, Toleranz, Respekt sowie die große menschliche Eigenschaft, die eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler zu erkennen, und die Fähigkeit zum Verständnis und zur Vergebung. Ohne diese Elemente interkultureller Fehlertoleranz bei sich selbst und den Anderen wird es keine Begegnung auf Augenhöhe geben, kurz: Ambiguitätstoleranz. Wenn es aber trotz aller Widrigkeiten dennoch klappt, werden alle Beteiligten über die Maßen hinaus belohnt werden und ihr Leben wird sich verändert haben – mit neuen Erkenntnissen, neuen Freundschaften und neuen Lebensperspektiven.
Die Menschheit auf dem Planeten Erde könnte etwas mehr an Gemeinsamkeit, Verständnis und Respekt brauchen, wenn das Zeitalter des Menschen, das „Anthropozän“, in eine positive Zukunft führen soll. Daran mitzuarbeiten ist eine Aufgabe für alle Menschen und diejenigen, die in interkulturellen Arbeitskontexten im sogenannten Ausland tätig sind, werden am ehesten bereit sein, sich für dieses Humanprojekt einzusetzen.
Der Besuch anderer Kulturen als Tourist kann nur ein Anfang sein, wenn man sich für das Fremde interessiert. Man muss sich dort länger aufhalten und eine Beziehung zu den Menschen im besuchten Land aufbauen, wenn man wirklich verstehen will, was sie bewegt. Dies kann in Form selbst organisierter längerer Individualreisen geschehen, am besten aber in Form von Mitarbeit in interkulturellen Teams, die reale Projekte umsetzen. Man wird nicht umhinkommen, Zeit für ein Lernen von und mit anderen zu investieren. Oder Zeit zu addieren, also regelmäßig wiederzukommen, um langfristige Projekte zu betreuen. Als Faustregel kann man für die meisten Kulturen sagen, dass Einheimische einen so etwa ab dem dritten Besuch als Freund akzeptieren. Der Aufbau von Beziehungen funktioniert nur sehr selten durch touristische Gruppenreisen, sondern immer nur durch den Aufbau von individualisierten Beziehungen von Mensch zu Mensch. Diese Beziehungen festigen sich, wenn die Beteiligten wenigstens einmal zu Besuch bei dem anderen in seinem Privatbereich waren. Eine echte Freundschaft, die auch längere Kommunikationslecks übersteht, wächst, wenn man über Jahre hinweg immer wieder und regelmäßig an gemeinsamen Projekten gearbeitet hat, die auch persönliche und private Interessen mit einbezogen haben. Dann werden das Reisen und die interkulturelle Zusammenarbeit zum Erleben und damit zu einem persönlichkeitsbildenden Faktor der eigenen Lebensgestaltung.
Interkulturelle Begegnungen auf Augenhöhe sind das beste Mittel gegen das Gift des Fremdenhasses, der Ausländerfeindlichkeit und des Terrorismus. Die schönste Aussage dazu wird Alexander von Humboldt zugeschrieben: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“
Alexander von Humboldt: „Alles ist Wechselwirkung“
Alexander von Humboldt gilt als einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Universalgelehrten der Neuzeit. Seine Reisen haben unzählige Menschen zu eigenen Entdeckungen angeregt, seine wissenschaftlichen Beiträge haben die späteren Wissenschaften bereichert, seine Begegnungen mit Menschen zählen zu den frühen Zeugnissen einer zutiefst humanen Haltung eines großen Forschers und Entdeckers. Viele Menschen haben sich auf den Spuren von Alexander von Humboldt bewegt und sich ihre eigenen Wege erschlossen. Loren Alexander McIntyre hat seine Reise zu einem wunderbaren GEO-Bildband verdichtet (Die amerikanische Reise – Auf den Spuren von Alexander von Humboldts, Hamburg 1982), der noch heute sehr lesenswert und eine Empfehlung für eigene Reisevorhaben ist.
Alexander von Humboldt beherrschte verdichtete literarische Porträts, von Menschen und ihren Sprachen und Kulturen, von Pflanzen und Tieren, von der Geologie, von den Zusammenhängen in der Natur nach seinem Motto: „Alles ist Wechselwirkung“. Nach der Rückschau auf die Werke von Alexander von Humboldt kann man die enorme Bedeutung seines Werkes in den drei großen E-s zusammenfassen:
- Alexander von Humboldt hat die Mühen, Kosten und Gefahren von mehrjährigen Auslandsreisen in noch weitgehend von Europäern unerforschte Gebiete der Erde auf sich genommen, um ein Bild von der Welt zu zeichnen.
- Alexander von Humboldt hat die dort vorgefundenen Verhältnisse, was die Natur, die Menschen und ihre Kulturen betrifft, dokumentiert, systematisch ausgewertet und somit die Grundlagen der modernen Naturwissenschaften gelegt.
- Erzählerkunst: Die Reiseberichte von Alexander von Humboldt sind Abenteuergeschichten, wissenschaftliche Beschreibungen und kulturelle Analysen vereint in jeweils einem homogenen Werk, das noch heute Anerkennung findet.
Alles zusammen läuft bei Alexander von Humboldt darauf hinaus, einen Beitrag für die Menschheit zu erarbeiten, damit sie ihre eigenen Wurzeln in der Natur und in sich selbst erkennt und versteht. Die Notizen und Erkenntnisse zur naturwissenschaftlichen Systematik von Alexander von Humboldt (1769-1859) sind in seinen Reise-Hauptwerken, den „Amerikanischen Reisetagebüchern“ (1805 bis 1834 in mehreren Folgen erschienen, 1858 als Gesamtwerk von Alexander von Humboldt in Schweinsleder eingebunden) und den „Ansichten der Natur“ (1808, die Andere Bibliothek, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Verlegt bei Franz Greno, Nördlingen 1986) noch heute lesenswert. Alexander von Humboldt hat auf seiner Amerikareise in den Jahren 1799 bis 1804 mehr als viereinhalbtausend Seiten Handschriften verfasst, die im Jahre 2013 von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz aufgekauft wurden und die in den Jahren 2014 bis 2017 in einem vom Bundesforschungsministerium finanzierten Projekt zwischen der Universität Potsdam und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ausgewertet wurden.
Fünfunddreißig Jahre zuvor hatte bereits der bedeutende Humboldt-Forscher Hanno Beck die Bänder „Amerikanische Reise“ in der Edition Erdmann bei Thienemann (1985) herausgegeben, ebenso wie die späteren Reiseberichte des Alexander von Humboldt über seine „Reise durchs Baltikum nach Russland und Sibirien 1829“ (Edition Erdmann bei Thienemann, 1983), in der der Verfasser besonders über Geologie, Klimatologie, Erdmagnetismus, Bergwerksbesichtigungen sowie das bislang kaum erforschte Land und seine Menschen berichtete. Das wissenschaftliche Hauptwerk des Alexander von Humboldt ist „Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ (1845 bis 1862), in dem er seine Gesamtschau der Natur in fünf Bänden darlegte.
Der Leiter eines der Teilprojekte war der Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Ottmar Ette, der im Jahre 2018 einen sorgsam editierten Band herausgab, der die sprachliche Schönheit der Texte von Alexander von Humboldt deutlich werden lässt: „Alexander von Humboldt: Das Buch der Begegnungen. Menschen – Kulturen – Geschichten aus den Amerikanischen Reisetagebüchern“ (Zürich, Manesse, 2018). Ottmar Ette hebt hervor, dass sich der literarische Stil des Autors Alexander von Humboldt als ein besonderer kennzeichnen lässt, der mit seinem eigenen Duktus als „Schreiben im Angesicht der Dinge“ gekennzeichnet ist, als Auseinandersetzung seiner wissenschaftlichen Vorgehensweise und der sprachlichen Aufarbeitung mit den realen Erlebnissen während der Reise.
Die realistischen Fantasiewelten des Cixin Liu
Der chinesische Autor Liu Cixin, geboren am 23. Juni 1963, ist der führende Science-Fiction-Autor Chinas. Er hat den chinesischen Yinhe (Galaxy Award) acht Mal hintereinander gewonnen, von 1999 bis 2006 und noch einmal im Jahre 2010. Den Xingyun (Nebula Award) gewann er in den Jahren 2010 und 2011. Der erste Band der Trilogie Remembrance of Earth´s Past wurde im November 2014, übersetzt von Ken Liu, auf Englisch bei TOR in den USA veröffentlicht und erhielt als erstes übersetztes Buch überhaupt im Jahre 2015 den Hugo Award in den USA.
Liu Cixin schreibt harte Science Fiction in der Tradition von Autoren wie Arthur C. Clarke. Liu Cixin ist von Beruf Ingenieur und hat bis 2014 für die China Power Investment Corporation in einem Kraftwerk in Niangziguan in der Shanxi Provinz gearbeitet. Er begann Science-Fiction-Kurzgeschichten als Hobby zu schreiben, bis mit dem „Three-Body-Problem“ der Durchbruch in China kam. Liu Cixin hat mit seiner Trilogie wesentlich dazu beigetragen, die Sichtweise der Chinesen auf Science-Fiction Literatur neu und positiv zu bestimmen.
Bekannt geworden für Nicht-Experten ist die Trilogie von Cixin Liu durch das Interview mit dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, in dem er sich sehr positiv über dieses Werk als Entspannung im Gegensatz zu seinem täglichen politischen, aber doch sehr irdischen, Problem-Marathon äußert. Er bezeichnete den Autor Cixin Liu als „wild und phantasievoll, wirklich interessant und das Ausmaß des Ganzen war immens“.
Interkulturalität bedeutet das Aufeinandertreffen von Menschen aus verschiedenen Kulturen, bei dem es trotz ihrer Unterschiede zur gegenseitigen Beeinflussung und möglicherweise zu gegenseitiger Bereicherung kommt. In interkulturellen Prozessen können neue Deutungsmuster für alle Beteiligten entstehen, die eine andere Sichtweise als die tradierte ermöglichen. Mittel dazu sind Gestik, Mimik und natürlich besonders die Sprache als Hauptinstrument der Kommunikation. Sprache in Form von Verschriftlichung als Erzählung kann eine große Bereicherung sein, aber auch große Unterschiede in den Kulturen sichtbar machen.
Science Fiction wurde lange Zeit als originäres Genre des Westens verstanden und deshalb war die Fachwelt und die Leserinnen und Leser von Science-Fiction durch den kometenhaften Aufstieg von Cixin Liu überrascht und fasziniert.
Wie wird ein chinesischer Junge zum Autor? Woher kommen seine Ideen? Welches sind seine Vorbilder? Cixin Liu schreibt dazu in dem Buch „Der Blick von den Sternen“ (München, Heyne, 2025, englisch: Broken Stars), dass „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ von Jules Verne (1864, deutsche Ausgabe: 1873) der erste Science-Fiction-Roman gewesen sei, den er gelesen habe, allerdings in Unkenntnis dessen, dass dies eine Fiktion sei. Er habe beim Lesen geglaubt, dass es sich um die Tatsachenbeschreibung dieser Reise handele. „Alles hier drin hat sich jemand ausgedacht?“, fragte ich ungläubig. „Ja, aber es beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen“, antwortete mein Vater. Mit diesem einfachen, nur aus drei Sätzen bestehenden Dialog war der Grundgedanke formuliert worden, der meine spätere Arbeit in diesem Genre prägen sollte.“
Über die Stellung der Science-Fiction in Chin schreibt Cixin Liu: „Science-Fiction-Literatur nimmt in China eine besondere Stellung ein. Keiner anderen Literaturgattung werden mehr theoretische Auseinandersetzungen gewidmet, mehr tiefgreifende Forschung und Analyse zuteil, mehr neue Ideen und Gedanken angetragen.“ Und er ergänzt in aller Bescheidenheit: „Die chinesische Science-Fiction mag sich vor hundert Jahren auf den Weg gemacht haben, aber sie ist dennoch gerade erst im Aufbruch. Ihr steht noch viel bevor, und es bleibt Zeit genug, sich in sie zu verlieben.“
Die persönliche Motivation von Cixin Liu zum Schreiben seiner berühmten Drei-Sonnen-Trilogie kommt aus diesen Gedanken: „In chinesischen Science-Fiction-Erzählungen herrscht zumeist eine ziemlich rosige Vorstellung von außerirdischen Zivilisationen vor, gegen die ich eine Aversion entwickelt habe. Deshalb entschloss ich mich irgendwann dazu, mir das denkbar übelste Universum auszumalen. Der einzige Vergleichsgegenstand bei der Erforschung der Gesellschaft kosmischer Zivilisationen ist die menschliche Gesellschaft selbst.“
Die Entdeckung von Cixin Liu verdanken wir Ken Liu. Dieser ist ein in China geborener und im Alter von elf Jahren in die USA ausgewanderter, sehr erfolgreicher Schriftsteller, der als Entdecker von Cixin Liu gilt. Die Reise zur Entdeckung eines chinesischen Autors im Westen ging somit diesmal von Ost nach West, die Gegenrichtung zu Reisen eines Marco Polo und anderer China-Reisender. Ken Liu hat den ersten Band der Trisolaris-Trilogie ins Englische übersetzt, wofür Cixin Liu im Jahre 2025 den Hugo Award erhielt. In seiner Anthologie „Zerbrochene Sterne. Die besten Erzählungen der chinesischen Science-Fiction“ (München, Heyne, 2020), die er den Autoren gewidmet hat, die ihn durch ihre Welten geführt haben, ist auch die meisterhafte, ironische und fantasievolle Erzählung „Mondnacht“ von Cixin Liu enthalten.
Chinesische Science-Fiction und interkulturelle Literatur im Maro Verlag
Der MaroVerlag in Augsburg ist ein unabhängiger Buchverlag mit Sitz in Augsburg, 1969 gegründet. Als unabhängiger Verlag erhielt Maro verschiedene Auszeichnungen und widmet sich seit einiger Zeit auch der Publikation chinesischer Science Fiction. In der Zeitschrift „Kapsel“, herausgegeben und gestaltet von Lukas Dubro und dem Sinologen Felix Meyer zu Venne, die in Zusammenarbeit mit dem Germanisten Chong Shen und dem Sinologen Konrad B. Winkler – inzwischen gibt es sechs Ausgaben – werden Kurzgeschichten chinesischer Autorinnen und Autoren veröffentlicht. Gestaltet sind die Ausgaben von Markus Wenker, der Illustratorinnen und Illustratoren einlädt, zu den Kurzgeschichten zu zeichnen. Mit den Ausgaben der Kapsel werden für Leserinnen und Leser ein über Cixin Liu hinausgehendes bislang unentdecktes Land der Science Fiction erschlossen. In Buchform stellt der MaroVerlag bislang im Westen (noch) unbekannte Autorinnen und Autoren vor.
Zu diesen Autorinnen und Autoren gehört Chi Hui. Ihre Kurzgeschichten „Das Insektennest“, „Der Algorithmus des Artifiziellen“ (eine zugleich beeindruckende wie beängstigende KI-Erzählung), „Das Erbe der Menschheit“ und „Die unendliche Erde“ wurden vom MaroVerlag in einer eigenen Ausgabe veröffentlicht, dem Sammelband „Das Erbe der Menschheit“ (2023), und zeigen eine ganz andere Erzählweise als die von Cixin Liu, aber ihre „kleine Form“ ist von außerordentlicher Poesie und Fantasie. Sehr lesenswert und zu empfehlen, auch in der Aufmachung! Studierende der Fakultät Design an der Hochschule Düsseldorf haben die Ausgabe illustriert. Themen sind die Entdeckung eines ungewöhnlichen Insektennestes auf einer intergalaktischen Reise, Künstliche Intelligenz – im Streit der „Echten“ mit den „Artifiziellen“, die Entstehung einer ganz besonderen Zivilisation aus dem Plastikmüll der Meere und – in der Titelgeschichte – eine intergalaktische Entführung mit einer folgenden erstaunlichen Entdeckung: „Letztendlich spielt es keine Rolle, wer sie sind, sie sind Karun, und Karun sind die Erde. Die Menschen hier glauben nicht an die Erde, ihre Worte sind mehr eine Feststellung als ein Gebet. Die Karun haben schon lange aufgehört, als einzelne Individuen zu existieren. Sie sind eins geworden mit der Erde, sie sind die Erde selbst.“ Dies passt durchaus zur eben zitierten Weltsicht von Cixin Liu.
Sarah Käsmayr, die Verlegerin des MaroVerlags, hat im Demokratischen Salon die Steigerung eines realen Phänomens, eine unendlich erscheinende Menge Müll in unseren Meeren, ins Dystopische durch eine Science-Fiction-Erzählung beschrieben und damit gezeigt, wie realistisch Science Fiction ist: In „Das Erbe der Menschheit“ „ging Chi Hui von einem realen Phänomen aus: Diese Plastik-Müllstrudel sind real, es gibt fünf in den Weltmeeren. Man weiß, woher das Plastik kommt, zu weit über 80 Prozent aus Europa und Nordamerika. Man weiß, wie die Strömungen in den Ozeanen funktionieren, weshalb sich das Plastik ansammelt. Chi Hui hat sich die Frage gestellt, wie sich diese Müllstrudel in Zukunft weiterentwickeln könnten. Sie hat sich Ratten ausgedacht, die auf den neuen Kontinenten leben und gelernt haben, sich vom Plastik zu ernähren und sogar Feuer zu machen. Eine Art Analogie zur Menschheitsgeschichte. Im zweiten Teil der Geschichte war ich persönlich etwas desillusioniert: Die Ratten haben Königreiche und so manche gesellschaftliche Struktur, wie wir sie nur allzu gut kennen.“
Erzählungen aus anderen Weltregionen beeindrucken, wenn sie die Unterschiede zwischen den Lebensmöglichkeiten in unterschiedlichen Kulturen bearbeiten und uns im Westen einen Spiegel vorhalten, in dem wir unseren Reichtum und unsere oft vernachlässigte Empathie für andere Lebensverhältnisse erkennen. In dem Buch „Única blickt aufs Meer“ (Augsburg, MaroVerlag, 2020) erzählt der costa-ricanische Autor Fernando Contreras Castro über die „Mülltaucher“ in Rio Azul am Rande der Hauptstadt Costa Ricas und behandelt die Gelderwerbsmethode der Ärmsten der Armen, die in den Ländern des Globalen Südens auf den Müllhalden ihr klägliches Dasein fristen, indem sie aus den Rückständen der Wohlstandsgesellschaft das letzte Brauchbare herausfischen. Man riecht fast schon den Gestank bei ihrer Arbeit im Müllmeer, jedenfalls dann, wenn man schon einmal an einer solchen Müllhalde in Indien, auf den Philippinen oder anderen Ländern schnuppern durfte und gesehen hat, wovon Menschen leben müssen, wenn sie keine Chance auf eine geregelte Arbeit bekommen. Die Praxis westlicher Müllexporte gehört zum Beispiel in diesen Kontext.
China als Gegenstand im Werk von Kim Stanley Robinson
Science-Fiction-Autorinnen und -Autoren verfügen über ein besonderes interkulturelles Sensorium, in China wie im Westen. Es ist aber nicht verwunderlich, dass ein uns eigentlich fremd erscheinendes Land wie China bei einem westlichen Autor selbst zum Gegenstand wurde. Kim Stanley Robinson hat in seinem Werk über viele Jahre zahlreiche interkulturelle Erzählungen verfasst, die ich in meinem Buch „Kim Stanley Robinson – Erzähler des Klimawandels“ (Berlin, Hirnkost, 2022) ausführlich dargestellt habe. In diesem Buch sind auch mehrere seiner Erzählungen abgedruckt, die seine Sicht auf die Zukunft dieser Welt verdeutlichen, nicht zuletzt sein Statement „Dystopien jetzt!“, insbesondere über den Einfluss von Buddhismus, indischer Spiritualität und Philosophie auf das westliche Denken. Robinsons Meisterwerk dazu ist „The Years of Rice and Salt“ (schon im Jahr 2002 (!) erschienen, leider gibt es noch keine deutsche Übersetzung), in der er – eine höchst aktuelle Dystopie (die für andere eine Utopie ist, vielleicht auch für China?) – eine „Welt ohne Europa“ schildert.
Im Jahre 2018, schon bevor wir im Westen anerkennen mussten, wie sehr Chinas Wirtschaftsmacht den Globus umfasst und nicht zuletzt Chinas Raumfahrt international Aufmerksamkeit erregte, legte Robinson einen Roman mit Zukunftsideen über China vor. Vielleicht ist Robinson ja auch deshalb auf dieses Thema gekommen, weil er vorher zu einem Literaturgespräch nach China eingeladen worden war und dort eine gemeinsame Lesung mit Cixin Liu erlebte.
Kim Stanley Robinson veröffentlichte im Jahr 2018 „Red Moon“ (die deutsche Ausgabe „Roter Mond“ folgte ein Jahr später bei Heyne). Dabei handelt es sich um einen Roman über das neue Rennen zum Mond, in dem China eine entscheidende Rolle bei der Besiedlung des Erdtrabanten und in unserer menschlichen Zivilisation einnimmt. Die Handlung findet im Jahr 2047 statt, die Hauptfiguren sind ein amerikanischer Quantencomputer-Ingenieur namens Fred Fredericks, der für die Schweizer Firma Swiss Quantum Works eine neue Art von Quanten-Telefonen auf dem Mond verkaufen will und dabei in politische Kämpfe verstrickt wird, und die schwangere Chinesin Chan Qi, die als Tochter des Chinesischen Finanzministers zu einer revolutionären Figur geworden ist. Gemeinsam treten sie auf dem Mond die Reise zwischen der chinesischen Station am Südpol und der amerikanischen und russischen Station am Nordpol sowie zurück zur Erde und wieder zurück zum Mond an. Dazu schrieb mir Robinson in einer persönlichen E-Mail: „China hat in dieser Fiktion einen großen Vorsprung vor allen anderen Raumfahrtprogrammen hinsichtlich der Besiedlung des Mondes und hat bereits eine umfangreiche Basis in der Südpol-Region errichtet. Andere Nationen haben begonnen, kleinere Stützpunkte mit größerer internationaler Beteiligung um den Nordpol herum anzulegen (die Pole des Mondes werden als die besten Plätze für Wohnstätten angesehen, weil dort Wasser vorhanden ist und die Lichtverhältnisse einer halben Tageslänge Licht und einer halben Tageslänge Dunkelheit entsprechen). Die Handlung spielt um das Jahr 2047 herum, wenn Hongkong zu einer vollen Kontrolle durch China zurückgekehrt sein wird, was zu politischen Verwerfungen sowohl in China als auch in den USA führt, weil populäre Bewegungen das Aufsteigen von Finanzkräften zu Fall bringen wollen.“
Der Roman endet auf ungewöhnliche Weise, ziemlich abrupt und die Leserschaft wird auf scheinbar unbefriedigende Art und Weise entlassen. Robinson nennt dies das „Slingshot Ending“, also ein „Schleuder-Ende“, das bei den Lesern einen Schock auslöst. Robinson selbst hat diesen Terminus in die Diskussion von Science-Fiction-Romanen eingeführt, um das typische Ende einer Erzählung von Gene Wolfe aufzugreifen. Man wisse nicht, was nach dem Start des Raumschiffs passieren wird, und man wisse nicht, wie sich die chinesisch-amerikanischen Beziehungen entwickeln werden. Niemand wisse das und Robinson wisse es natürlich selbst auch nicht, sagt er in seiner privaten E-Mail. So sei dieses Ende eine perfekte Verbindung von Form und Inhalt. Er habe den Leserinnen und Lesern im Verlauf des Romans eine mögliche Richtung aufgezeigt, aber nun müssten diese sich vorstellen, wie es weitergehen könnte und sich eine eigene Geschichte erzählen. Genau das ist das Ziel von Science Fiction, in China, in den USA, überall.
Fritz Heidorn, Oldenburg
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2025, Internetzugriffe zuletzt am 28. April 2025. Titelbild: Fritz Heidorn, aus der Kunming-Serie.)