Der gute Mensch von Rom

Faschismus light all’italiana?

Italien, lange Zeit das Sehnsuchtsland der von Ideen des demokratischen Sozialismus und Eurokommunismus beseelten Linken wird von einer knallrechten Koalition regiert, in der eine Partei dominiert, die bis heute ihre faschistischen Wurzeln nicht verleugnet hat. Giorgia Meloni, der neue Superstar der europäischen Rechtsextremisten, hat die Fratelli d´Italia (FdI) von einer 2%-Splitterpartei in kaum zehn Jahren auf 26% katapultiert. Selbst wenn man die enorm hohe Zahl der Wahlenthaltungen bei den Parlamentswahlen 2022 berücksichtigt, so bleibt dennoch festzuhalten, dass ihre Partei von einem knappen Fünftel der Italiener:innen gewählt worden ist.

Patt bei Europa- und Kommunalwahlen

Hinsichtlich der aktuellen Situation ist jedoch zu konstatieren, dass sowohl die Wahlen zum EU-Parlament, insbesondere aber die ebenfalls im Juni 2024 stattgefundenen Kommunalwahlen in einigen großen Städten zeigen, dass die Zustimmung der Wählerschaft zur italienischen Rechten stagniert. Mit einem vollständig auf ihre Person zugeschnittenen Wahlkampf hat Meloni (Giorgia!) ein gutes Ergebnis (28%) bei den EU-Wahlen erzielt, aber der ersehnte „triumphale Sieg“ war es wohl nicht. Gegenüber den Wahlen vom September 2022 ist die absolute Stimmenzahl von 7.301.303 auf 6.704.423 gesunken. Gleichzeitig haben die Lega rund 400.000 und Forza Italia rund 150.000 Stimmen verloren. Das Rechtsbündnis hat also einen Verlust von mehr als einer Million Wählern zu beklagen. Bei den Wahlberechtigten unter 30 erhalten die Fratelli gerade einmal 14% der Stimmen. Der Partito Democratico als größte Oppositionspartei hat mit seiner Spitzenkandidatin Elly Schlein ein achtbares Ergebnis von 24% eingefahren. Berücksichtigt man die Ergebnisse der anderen links orientierten Parteien, so darf man schlussfolgern, dass in Bezug auf Wählerstimmen in Italien eine Pattsituation existiert.

Noch unerfreulicher für die Rechte sind die Ergebnisse der ebenfalls im Juni in einigen Städten durchgeführten Kommunalwahlen: Es hat sich deutlich gezeigt, dass FdI keine Partei der Großstädte ist. In allen großen Städten hat sie mit ihren Bündnispartnern Niederlagen erlitten. Ausnahme ist Rom, Melonis Geburtsstadt. Die Fratelli haben hier die meisten Stimmen gewonnen. Allerdings bleibt Roberto Gualteri vom Partito Democratico Bürgermeister. (Eine Analyse der Wahlergebnisse hat Marco Revelli  auf sbilanciamoci veröffentlicht.)

Erfolgsgeschichte mit Vorgeschichte

Unbestritten bleibt, dass der bisherige Weg von Giorgia Meloni eine Erfolgsgeschichte ist. Sie ist die Architektin des Wahlsiegs der Rechten 2022, sie ist die Führerin der Mehrheitsfraktion und sitzt momentan als Ministerpräsidentin fest im Sattel. Zum ersten Mal in der Geschichte der italienischen Republik führt eine Partei, die sich in der historischen Kontinuität zum italienischen Faschismus bewegt oder sich zumindest niemals eindeutig vom Faschismus des Benito Mussolini distanziert hat, die Regierungskoalition in der italienischen Abgeordnetenkammer.

Mit großer Wahrscheinlichkeit sieht ein Großteil ihrer Wählerschaft sie nicht als Faschistin. Wer erinnert sich schon daran, dass sie einst meinte: „Ich habe ein unbeschwertes Verhältnis zum Faschismus.“ In der Jugendorganisation des faschistischen MSI, der offen für ein faschistisches Herrschaftssystem eintrat, war sie eine eifrige Mitstreiterin und sagte 1996, dass Mussolini ein „guter Politiker“ gewesen sei. (beide Aussagen zitiert nach Frank Hornig, Italienkorrespondent des Spiegel, Das Meloni-Modell. 16. Juli 2024)

Aufgrund der widersprüchlichen Aussagen Melonis waren sich schon vor dem Wahlsieg der vereinten Rechten die Analysten uneins, ob die Fratelli d´Italia (FdI) in der Kontinuität des italienischen Faschismus agieren oder sich als rechtskonservative Partei neuen Typs in das parlamentarische System integrieren würden. Schlussfolgerungen, die darauf hinausliefen, dass sich der faschistische Wolf aus Opportunitätsgründen vorläufig mit einem EU-konformen parlamentarischen Schafsfell gekleidet habe oder – in umgekehrter Intention –, dass Meloni, Salvini und Co. einen reumütigen Prozess der Buße (wir sind schließlich im immer noch katholischen Italien) durchlaufen hätten, der sie zu aufrechten Demokraten geläutert habe, erscheinen zu simpel.

Ohne Zweifel hat Meloni versucht, das ideologische Profil ihrer Partei insbesondere gegenüber der internationalen Öffentlichkeit neu zu definieren. Konservativ und nationalistisch in jedem Fall, aber keineswegs faschistisch: So will sie im Orchester des Brüsseler Staatenbundes gesehen und akzeptiert werden. Wenn Olaf Scholz sie bei ihrem Antrittsbesuch in Berlin mit „Cara Giorgia…“ für seine Verhältnisse auf hohem emotionalem Level begrüßt und Ursula von der Leyen sie in Brüssel als vertraute Ansprechpartnerin bezeichnet, scheint ihr das zumindest bei Teilen des europäischen Führungspersonals gelungen zu sein.

Um in den Augen der EU und Washingtons Legitimation zu erlangen, war das Commitment für die ökonomische, diplomatische und militärische Unterstützung der Ukraine fundamental. Obwohl unterschiedliche Kräfte in der Regierungskoalition starke Sympathien für Putins kulturellen Konservatismus und seinen autokratischen Regierungsstil hegten, steuerte Meloni vom Beginn ihrer Regierungsübernahme einen klaren Kurs in Übereinstimmung mit der Strategie der NATO. Auch in der Frage des Gaza-Kriegs hat sie sich eindeutig auf die Position der israelischen Regierung gestellt und es scheint ihr völlig mühelos zu gelingen, diese Haltung mit dem in ihrer Klientel weit verbreiteten antisemitischen Einstellungsmuster zu vereinbaren. Mancher erinnert sich möglicherweise voller Staunen daran, dass sie selbst vor wenigen Jahren den US-Investor George Soros mit einem klassischen antisemitischen Stereotyp als „Wucherer“ (italienisch: „usuraio“) bezeichnete.

Es mag sein, dass ihr proisraelisches Engagement etwas damit zu tun hat, dass der israelische Likud zu den globalen Partnern der Fraktion der europäischen Konservativen und Reformern (EKR) gehört. Denn im europäischen Parlament hat sich Meloni der EKR angeschlossen, ist ihre prägende Figur und nähert sich den Christdemokraten der EVP. Damit entzieht sie sich den Werbeversuchen ihres französischen Pendants, Marine Le Pen, die von einer europäischen Rechtsfront träumt, in der sich alle EU-kritischen Kräfte des reaktionär-faschistoiden Lagers zusammenfinden. Womöglich ist das von Le Pen angeregte Zusammenwirken jedoch nur aufgeschoben. Einen Schub in diese Richtung könnte es gegeben haben, als sich Meloni unlängst von der Vergabe der EU-Spitzenjobs ausgeschlossen fand und die sechs daran beteiligten EU-Regierungschefs daraufhin als „Oligarchie“ beschimpfte. Es wird sich zeigen, ob der offizielle Schmusekurs mit Ursula von der Leyen, der in der Akzeptanz der Austeritätspolitik der EU, dem Slow down der ökologischen Transformation und einer gemeinsamen Strategie in der Migrationspolitik eine passable Basis hat, sich als langfristige Kooperation bewähren wird.

Auf den ersten Blick erscheint Melonis Politik widersprüchlich und könnte als Merkmal einer Abwendung von einem faschistischen Politikkonzept interpretiert werden. Die Geschichte des italienischen Nachkriegsfaschismus zeigt jedoch, dass die extreme Rechte in Italien jederzeit bereit war, ideologischen Ballast der Mussolini-Ära aus machttaktischen, der Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse geschuldeten Gründen abzuwerfen, ohne die grundsätzliche Kontinuität und die Verbindung zu ihren historischen Wurzeln in Frage zu stellen. In den Zeiten des kalten Kriegs hat sich die Nachfolgepartei des Partito Fascista, der Movimento Sociale Italiano (MSI), deutlich zur NATO und der gemeinsamen Frontstellung gegen die Länder des damaligen Warschauer Pakts gestellt.

Giorgio Almirante, Vorsitzender des MSI und glühender Verehrer des Duce, sagte am 11. August 1970 im italienischen Parlament: „Habt doch die Güte, anzuerkennen, dass der atlantische Pakt, wie wir glauben, unabdingbar ist.“ Staatstragende Worte eines erklärten Faschisten, der andererseits schnell bereit war, den Anzug des Parlamentariers in den Kleiderschrank zu hängen und sich das Schwarzhemd der faschistischen Terrorbanden anzuziehen. In einer Zeit, in der Spanien, Portugal und Griechenland von faschistischen Diktaturen beherrscht waren, hatte Almirante kein Problem, die „Verdienste“ dieser Terrorregimes, insbesondere der griechischen Militärdiktatur, zu würdigen. „Für ihn sind die wahren griechischen Patrioten die Faschisten. Für ihn haben die griechischen Obristen keinen Staatsstreich gemacht, sondern das griechische Volk hat eine herrschende Klasse des Militärs hervorgebracht, die es in einem entscheidenden Moment vor der schlimmsten Gefahr, vor der kommunistischen Gefahr gerettet hat.“ Und er hatte keine Scheu – im Jargon eines Pinochet – das Heilmittel der griechischen Militärs im Falle eines Falles auch auf Italien anzuwenden: „Das Regime der Obristen hat Griechenland vor dem Kommunismus gerettet, hat die NATO gerettet, teilweise sogar Westeuropa. (…) Extreme Krankheiten erfordern extreme Rezepte. Wir sind bereit, uns männlich der Realität zu stellen, ohne falsche Heuchelei. Solche Lösungen (wie die Militärdiktatur in Griechenland, GP), auch mit Gewalt, würden uns vom Kommunismus erlösen.“ (alle Aussagen in diesem Absatz von Ascanio Celestini in einem Gespräch mit Alba Vastano für Sinistraïnrete, 8. Juli 2024).

Ein Blick auf die italienische Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre, in denen es mehrere Versuche reaktionärer und faschistischer Kräfte in Italien gegeben hat, einen faschistischen Staatsstreich zu realisieren, zeigt: Das waren keineswegs wirklichkeitsferne Drohgebärden und ideologischer Theaterdonner für die eigene Gefolgschaft durch einen Teil der alten Machteliten. Der MSI und seine postfaschistischen Ambitionen fanden durchaus machtvolle Unterstützung. Fazit: Widersprüchliche Aussagen und sogar paradoxe Kommunikation ist offensichtlich integrierter Bestandteil faschistischer Demagogie und keineswegs eine neue Erscheinung in der rechten politischen Szene des Belpaese.

Faschistoide Schwachstellen der italienischen Rechten

Wir kehren zurück zur aktuellen Situation in Italien: Am 20. Juli 2024 fand in Turin ein Straßenfest der rechtsextremen Vereinigung „Casa Pound“ statt, dass von einigen Dutzend militanter Neofaschist:innen besucht wurde. Der Journalist der Tageszeitung La Stampa, Andrea Joly, der zufällig anwesend war und einige Fotos schießen wollte, wurde von vier Personen attackiert, sein Handy wurde ihm abgenommen und er wurde leicht verletzt. Ein Vorfall, der in Italien mittlerweile kaum noch registriert wird, weil die Überfälle neofaschistischer Banden und tätlichen Angriffe auf Personen und Institutionen der Linken, der Gewerkschaften oder Menschen, die dem rechten Terror entgegentreten, fast schon an der Tagesordnung sind. Die Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ließ eine Erklärung verbreiten, die einige Beobachter möglicherweise durch ihre deutliche Verurteilung des Angriffs auf einen Journalisten überrascht hat. „Ich bin solidarisch mit dem Journalisten Andrea Joly, der gestern Abend Opfer einer inakzeptablen Attacke in Turin war. Ein Akt der Gewalt, den ich mit Entschiedenheit verurteile und von dem ich wünsche, dass die Verantwortlichen so schnell wie möglich dingfest gemacht werden. Die Wachsamkeit der Regierung ist äußerst hoch und ich habe den Innenminister Piantedosi gebeten, mich über die Entwicklung des Falls auf dem Laufenden zu halten.“ (siehe Il Post vom 21. Juli 2024). Auch in vergleichbaren Fällen von Gewaltausübung durch rechtsextreme Täter*innen, die teilweise Mitglieder ihrer eigenen Partei waren, hatte Meloni keine Scheu, sich deutlich in der Öffentlichkeit zu distanzieren.

Den genannten Vorfall selbst politisch einzuordnen, fällt leicht: Das gegenwärtige politische Klima im Lande ermuntert offenbar rechtsextreme Schlägerbanden (die es seit jeher im Land der blühenden Zitronen gegeben hat) im Stile ihrer schwarz behemdeten Vorbilder aus Mussolinis glorreichen Zeiten Terror gegen politisch Andersdenkende auszuüben und diese zu versuchen einzuschüchtern. Schwieriger ist die Interpretation der klaren Distanzierung durch eine Ministerpräsidentin, die sich vor noch nicht allzu langer Zeit durch Lobeshymnen auf den Duce bemerkbar gemacht hatte. Der Vorhang ist noch nicht gefallen und wir sind dennoch erstaunt. Waren wir nach dem Wahlerfolg des rechten Bündnisses im September 2022 nicht von Alpträumen einer Machtergreifung des Faschismus im Stile des Marschs auf Rom 100 Jahre zuvor geplagt? Oder gehörten wir zu denen, die, nachdem Giorgia von Ursula als aufrechte Demokratin und leidenschaftliche Europäerin geadelt worden ist, erleichtert aufatmeten und dachten: So schlimm sind die doch gar nicht?! Ja wat denn nu? fragt sich der Rheinländer und nicht nur er.

Dürfen wir uns entspannt zurücklehnen und die herrschende Rechtskoalition als Business as usual im politischen Aktionsraum der Regierungswechsel der italienischen Republik betrachten? Schon die Tatsache, dass ein großer Teil der Führungsriege und Kader der FdI, deren unbestrittene Führerin Giorgia Meloni ist, sich aus der Fronte della Gioventù rekrutiert, der Jugendorganisation des neofaschistischen MSI, der sich offen zum Mussolini-Faschismus bekannte und enge Verbindungen zum Rechtsterrorismus und der Loge P2 hatte, spricht dagegen. Der offene Rassismus des Koalitionspartners Salvini von der Lega und das freimütige Bekenntnis von Regierungsmitgliedern der Meloni-Partei zur faschistischen Vergangenheit kann wohl ebenfalls kaum als Signal der Entwarnung für die demokratische Öffentlichkeit wahrgenommen werden.

Offensichtlich macht es Sinn, von essentialistischen Fragestellungen à la „Bleibt sie im Wesen eine Faschistin?“ oder „Hat sie sich zur aufrechten Demokratin gewandelt?“ abzusehen. Vorschnelle begriffliche Zuschreibungen führen in der komplexen gesellschaftspolitischen Situation Italiens, die darüber hinaus durch populistische Irrlichter für manchen Beobachter kaum noch durchschaubar ist, in die analytische Sackgasse. Festzuhalten ist, dass sich die Fratelli d´Italia als Partei der äußersten Rechten im Spektrum der politischen Landschaft Italiens nicht nur etabliert habe, sondern zur bestimmenden Kraft in einer Regierungskoalition mit der Lega des marktschreierischen Rassisten Matteo Salvini und der Forza Italia des jüngst gestorbenen Cavaliere Berlusconi geworden ist.

Berlusconis Vermächtnis

Silvio Berlusconi antwortete 2019 in einem Interview auf die Frage, ob er ein Rechter sei, folgendermaßen: „Wir sind Mitte-rechts. Ja, wir haben diese Bezeichnung sogar erfunden. 1994 haben wir beschlossen, mit der Rechten, also mit der Lega und den Faschisten in den Wahlkampf zu ziehen, also mit politischen Kräften, die die anderen Parteien (Insbesondere die Parteien des antifaschistischen Konsensus der Nachkriegszeit: Christdemokraten, bürgerliche Liberale, Kommunisten und Sozialisten, GP) von dem ausgeschlossen haben, was sich der Bogen der Verfassung nannte. Sie hatten niemals zugelassen, dass Lega oder Faschisten in die Regierung einträten. Wir haben diese legitimiert und sozusagen verfassungskonform gemacht.“ (zitiert nach Ascanio Celestini im Gespräch mit Alba Vastano). Berlusconi ließ keinen Zweifel daran, dass er als Unternehmer, Herrscher eines Medienimperiums und Repräsentant eines einflussreichen Flügels der italienischen Bourgeoisie, den Faschismus salonfähig gemacht und in den herrschenden Machtzirkel offiziell aufgenommen hat. Die Büchse der Pandora war geöffnet und Berlusconis Wahlerfolg von 1994 skizzierte den Anfang vom Ende der ersten Republik.

Mit all ihren Widersprüchen, ständigen Regierungswechseln, den Verbindungen zahlreicher Politiker in den jeweiligen Regierungen mit der organisierten Kriminalität und den ständigen Versuchen durch Terroranschläge Staat und Gesellschaft zu destabilisieren, hat sich diese Republik der Nachkriegszeit doch immer als antifaschistisch verstanden. Ihr politisches Establishment war sich immer ihres Entstehungskontexts bewusst und alle Protagonisten des demokratischen Staates haben niemals versäumt, sich positiv auf die Resistenza als nationale Widerstandsbewegung zu beziehen. „Un partigiano come presidente“ singt Toto Cutugno in einem Schlager des Jahres 1983 und für die Mehrheit der Italiener:innen war dieser durchaus mit Stolz vorgetragene Text Teil ihres Selbstverständnisses und der italienischen politischen Kultur.

Die einzige Partei, die von vorneherein die Republik und den sie konstituierenden Verfassungskonsens abgelehnt und mit allen Mitteln bekämpft hat, war der MSI, die selbsterklärte Nachfolgerin der Partei Mussolinis. Sie war die Speerspitze aller reaktionären Kräfte, die sich schon unmittelbar nach der Befreiung vom Faschismus zum Ziel gesetzt hatten, die demokratische Republik durch ein autoritäres Regime zu ersetzen. Die Geschichte des italienischen Faschismus der Nachkriegszeit und seiner Unterstützer in Militär, Geheimdienst und Teilen des Kapitals kann deshalb als Revisionismus im wörtlichen und umfassenden Sinne verstanden werden: als gegen die Grundlagen der Konstitution und der bürgerlichen Demokratie gerichtetes Handeln auf allen Ebenen der Gesellschaftspolitik.

Es ging und geht dem Faschismus nicht um eine andere Regierung, sondern um eine andere Republik, eine Gesellschaft, die von Grund auf geändert und von den Rahmenbedingungen ihrer Konstituierung entschlackt werden soll. Ist die gegenwärtige Politik der Regierung Meloni eine Etappe in diesem Prozessdesign oder stellt sie einen neuen Typ von Herrschaftsausübung dar, der mit dem bisher zur Verfügung stehenden begrifflichen Instrumentarium nicht zu fassen ist? Den rasanten Aufstieg einer Rechtspartei in einem Land mit einer nach wie vor antifaschistisch-demokratischen Verfassung und einer großen Tradition der sozialistisch-kommunistischen Arbeiterbewegung sowie des politischen Katholizismus jetzt schon vollständig analytisch zu erfassen, wäre anmaßend und eine Unterschätzung des komplexen und dynamischen Charakters des gegenwärtigen Prozesses. Wenn in diesem Text einige Phänomene und Etappen der aktuellen politischen Entwicklung skizziert werden und eine vorläufige subjektive Einschätzung der Geschehnisse formuliert wird, dann als bescheidener Beitrag für eine zu leistende umfassendere Analyse.

Eher Thatcher als Mussolini

Das Glaubensbekenntnis der Giorgia Meloni orientiert sich, insbesondere in der Wirtschaftspolitik, nicht am Korporatismus des italienischen Faschismus, sondern an den neoliberalen Konzeptionen der Ära Reagan und Thatcher. Die Haushaltspolitik der Regierung Draghi wurde im Wesentlichen fortgeführt. Bezeichnenderweise wurden einige bescheidene Maßnahmen der Regierung Conte im Interesse der sozial benachteiligten Schichten der italienischen Gesellschaft, die auf Initiative der 5-Sterne-Bewegung eingeführt worden waren, wie das Bürgergeld und die Subventionierung von Renovierungen im Wohnungsbereich – teilweise – gecancelt. 160.000 Empfängern des „reddito di cittadinanza“ (italienische Version des „Bürgergeldes“) wurde per SMS mitgeteilt, dass es gestrichen wird oder sie andere Formen der Unterstützung beantragen müssten.

In der Steuerpolitik lassen die Pläne zur Einführung einer Flat Tax, mit der die bisher existierende Progressivität der Einkommenssteuer beendet oder zumindest stark verringert würde, kaum darauf schließen, dass die Rechtsregierung sich von der unternehmerfreundlichen Politik ihrer Vorgänger verabschieden will. Sogar der Internationale Währungsfonds hatte kürzlich Bedenken angemeldet, denn eine Flat Tax sei für einen hoch verschuldeten Staat wie Italien ein Risiko. Dass die Regierung konsequente Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung, durch die dem Staat jährlich ein dreistelliger Milliardenbetrag an Steuern entgeht, unternommen hätte, ist bisher nicht bekannt geworden.

Vermutlich hätten Organisationen wie Lobby Control oder Abgeordnetenwatch in Italien ein reiches Betätigungsfeld bei der Aufdeckung der zahlreichen Querverbindungen und Lobbykontakte der Parteien der Rechtsregierung mit Finanzkapital und Industrie. Die italienischen Banken und die Confindustria als größte Arbeitgeberorganisation haben sich in jüngster Zeit äußerst wohlwollend zur Politik der italienischen Regierung geäußert. Kaum verwunderlich, denn die großspurigen Ankündigungen von Meloni im Wahlkampf, sie werde die ungerechtfertigten Gewinne der Banken besteuern und die Profitgier einzelner Unternehmer bekämpfen, haben sich schnell als demagogische Manöver zur vorläufigen Befriedigung der Interessen ihrer kleinbürgerlichen Klientel erwiesen.

Insbesondere im wirtschaftspolitischen Handlungsfeld erweist sich die Orientierung auf die Fortsetzung des Austeritätskurses der Vorgängerregierung einerseits und die Realisierung von Alibimaßnahmen gegen offensichtliche Exzesse des Finanzkapitals als riskanter Spagat. Bestes Beispiel ist die Ankündigung einer Sondersteuer von 40% auf Zinsgewinne der Banken, die dann aber wieder zurückgenommen wurde. Sara Silano in Morning Star: „Nach der überraschenden Ankündigung der Einführung einer Steuer auf Zusatzgewinne war es eine heiße Woche für italienische, aber auch für andere europäische, Bankaktien. Am Dienstag, den 8. August, gaben italienische Bankentitel zeitweise mehr als 10% ab. Am folgenden Tag erholte sich die Piazza Affari, nachdem die italienische Regierung ihre Pläne genauer erläuterte.“ Vermutlich haben eine schlaflos verbrachte Nacht und möglicherweise ein Anruf aus den Vorstandsetagen eines Bankinstituts Meloni und ihren Vize Salvini zu einer schnellen Klarstellung beziehungsweise einem Rückzieher bewegt. „Am Dienstag, nach einer Welle von Ausverkäufen in der gesamten Branche, stellte das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen in einer Mitteilung klar, dass „die vorgeschlagene Maßnahme auf den bestehenden Regeln in Europa für zusätzliche Bankmargen aufbaut“. Die Stabilität der Bankinstitute solle nicht gefährdet werden. Daher werde die Höchstgrenze bei 0,1% der Bilanzsumme gezogen.“

Der heroische Kampf für eine sogenannte Übergewinnsteuer war natürlich in der Öffentlichkeit populär und wurde in den Rechtsmedien als Heldentat im Stile eines Robin Hood, der den Reichen nimmt und den Armen gibt, gefeiert. Die italienische Staatskasse hätte sich durch eine konsequente Besteuerung in der Tat über bis zu sieben Milliarden mehr an Steuereinnahmen freuen können. Es kam jedoch anders. Der rasante Sturz der Aktienkurse und die erwartete Reaktion der internationalen Märkte veranlassten die Regierung zu einem eleganten Rückwärtssalto. Ohne auf die Einzelheiten der geradezu artistischen Lösungskonstruktion einzugehen, seien hier mit einem Artikel von Dominik Straub vom 16. November 2023 die Konsequenzen genannt: Das Resultat: Keine einzige italienische Bank wird auch nur einen Cent Übergewinnsteuer zahlen – nicht einmal die verstaatlichte ehemalige Pleitebank Monte dei Paschi di Siena und die Staatsbank für die Entwicklung des Südens, die Mediocredito Centrale, sind bereit, Finanzminister Giancarlo Giorgetti ein wenig unter die Arme zu greifen. Lieber beglücken die Finanzinstitute ihre Aktionäre: Allein die beiden größten Banken Italiens, Intesa San Paolo und Unicredit, haben in diesen Tagen Dividenden­ausschüttungen zwischen 5,8 und 6,5 Milliarden Euro angekündigt. Die Mailänder Zeitung Corriere della Sera bezeichnete das Vorprellen und den anschließenden Rückzieher der Rechtsregierung bei der Übergewinn­steuer als Farce.“ Ein böse denkender Schelm würde an dieser Stelle die Frage stellen: Hat die artistische Glanzleistung der Regierung etwas damit zu tun, dass der italienische Staat mit drei Billionen Euro verschuldet ist und Probleme bekäme, wenn die italienischen Banken sich als wichtige Staatsfinanzierer in Zukunft vornehm zurückhalten würden?

Die Europäerin Giorgia Meloni

In der europäischen Union hat die italienische Rechte einerseits die politische Achse nach rechts verschoben, andererseits in zentralen Fragen ihre Positionen neu definiert und sich trotz der europafeindlichen Phrasen des Lega-Chefs Salvini im Großen und Ganzen der Linie der EU-Kommission angepasst. Dies betrifft in der Wirtschaftspolitik die Akzeptanz der Grundsätze der neoliberalen Austeritätspolitik und eine Beschleunigung der Privatisierungen von Staatseigentum, die die italienische Regierung in vorauseilendem Gehorsam schon in Gang gesetzt hat. Als Beobachter der politischen Szenerie Italiens vor den Wahlen vom September 2022 muss man sich verwundert die Augen reiben. Eine Regierung, deren tragende Parteien noch vor nicht allzu langer Zeit den Ausstieg aus dem Euro als Allheilmittel für die wirtschaftliche Misere der italienischen Gesellschaft propagiert und die Sparauflagen der EU-Kommission als Zwangsmaßnahmen und Angriffe auf die nationale Autorität betrachtet hat, erweist sich vom ersten Tag nach der Machtübernahme als folgsame Schülerin der Ursula von der Leyen und der von ihr repräsentierten Haushaltspolitik. Man mag es Flexibilität oder Opportunismus nennen, jedenfalls ist die rechtsextreme Regierungskoalition bereit, ohne Zögern Grundsätze ihres angeblich nationalsouveränen Wertekanons über Bord zu werfen, wenn es der wirtschaftlichen Stabilisierung und der Sicherung ihrer Machtgrundlagen dient

Durch das internationale Alignment unterscheiden sich die Fratelli insbesondere vom ökonomischen Kurs der französischen Rechtsextremen, die als zu sozial, wenn nicht gar sozialistisch angesehen werden. Wahrscheinlich müssen die genannten Entscheidungen wohl eher als pragmatische Anpassungen betrachtet werden, die in der Substanz das Vorhaben der autoritären Formierung der Gesellschaft nicht in Frage stellen. Besonders deutlich wird dies, wenn man die von Meloni als ihr zentrales Projekt bezeichnete kulturelle Umformung der italienischen Gesellschaft betrachtet.

Kulturelle Hegemonie ganz oben auf der Prioritätenliste

Der Bezug auf die Resistenza wird von der Rechtsregierung als eine Ideologie bezeichnet, die die Nation spalte, weil sie alle diejenigen ausschließe, die sich nicht der antifaschistischen Koalition angeschlossen haben. Mit diesem Narrativ möchte sie faschistische Elemente ihrer Politik verschleiern und ethnischen Nationalismus, eine hierarchische und nicht interkulturelle Vision der Gesellschaft sowie eine autoritäre Staatskonzeption in einen neuen Kontext überführen, der zu ihrer neoliberal-reaktionären Agenda passt.

Giorgia Meloni erweist sich gerade unter diesem Gesichtspunkt als Meisterin des rechtsextremen Populismus. In einem offenen Brief, der am 25. April 2024 (in Italien als Tag der Befreiung vom Faschismus gefeiert) im Corriere della Sera erschien, verkündete sie: „Dieser Tag ist ein Moment der wiedergefundenen nationalen Einheit (die gleichen Worte formulierte Adolf Hitler am Tag von Potsdam gegenüber dem Reichspräsidenten Hindenburg, GP), an dem die Feier unserer wiedergefundenen Freiheit uns hilft, die Rolle Italiens in der Welt als Bollwerk der Freiheit zu verstehen.“ Beim Lesen dieses bemerkenswerten Textes fiel mir das Zitat des Humanisten Giordano Bruno ein: „se non è vero è ben trovato“ (deutsch: „Wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden“). Und weiter heißt es im Text: „Seit vielen Jahren, wie jeder ehrliche Beobachter weiß, haben die Parteien, die die Rechte im Parlament repräsentieren, ihre Inkompatibilität mit jeder Nostalgie des Faschismus erklärt.“ Sie beschuldigt die Linke der Intoleranz, weil sie den Begriff des Faschismus als Instrument der Delegitimation jedes politischen Gegners eingesetzt habe und sie setzt ihren „Appell der Versöhnung“ fort, sich auf den toten Cavaliere berufend: „Ein Konzept, das 2009 von Silvio Berlusconi (damals Präsident des Ministerrats, einer Stellung, die ich nun einnehme) in einer berühmten Rede dazu eingeladen hat, (…) den 25. April als Fest der Freiheit zu feiern, um die Wunden der Vergangenheit zu heilen.“

Ganz offensichtlich geht es um eine andere Erinnerungskultur, die den historischen Kontext des Tages der Befreiung vom Faschismus vergessen machen soll. Die Veränderung der Erinnerungskultur ist Teil einer Gesamtstrategie zur Erlangung der kulturellen Hegemonie, das heißt einer Okkupation der herrschenden Wertvorstellungen, der Einstellungen, Glaubenssätze und Ideale, die für die Funktionsfähigkeit eines Herrschaftssystems eine wichtige Voraussetzung sind. Ein Vorhaben, dass nicht nur durch kommunikative Beeinflussung als reiner Inhalt, sondern in erster Linie durch Eroberung der Medien und Institutionen, über die diese Beeinflussung geschieht, erreicht werden kann.

Vor diesem konzeptionellen Hintergrund muss man die Okkupation des öffentlichen TV und der kulturellen Institutionen sehen. Diese ist an sich keine revolutionäre Aktion. Alle vorherigen Regierungen haben versucht, Einfluss auf die Medien und den Kulturbereich zu nehmen. Silvio Berlusconi hatte durch sein gewaltiges Medienimperium für dieses Vorhaben sogar mehr Ressourcen als Giorgia Meloni. Das neue Element der Praxis der aktuellen Regierung ist die Konsequenz, mit der sie ihre Ziele verfolgt: Es geht um die radikale Rekonstruktion des gesellschaftlichen Commonsense in einem ethno-nationalistischen (Italianità!) und reaktionären Sinne.

Der Freitag findet deutliche Worte: „An der Spitze der RAI steht nicht nur ein Faschist, sondern ein politischer Psychopath, der das ganze Medium zum Ausdruck seiner Paranoia macht.“ Gemeint ist der neue Generaldirektor der RAI, Giampaolo Rossi, der sich seine ersten Sporen dadurch verdient hat, dass unter seiner Führung eine Kette von Einschüchterungen, Eingriffen und Zensurmaßnahmen realisiert wurde, die fortdauern und den Sender Schritt für Schritt zu einem Medium der ideologischen Beeinflussung der Massen im Sinne des neuen Regimes transformieren soll. Prominente Beispiele sind die Zensur einer Rede von Antonio Scurati, dem Verfasser einer exzellenten Mussolini-Biografie, in der er die Verpflichtung zum Antifaschismus formuliert und die skandalöse „Entsorgung“ des bekannten Mafia-Kritikers Roberto Saviano, dessen Sendung mit fadenscheinigen Argumenten abgesetzt worden ist. Die ideologische Instrumentalisierung der RAI bezieht sich keineswegs nur auf die politischen, sondern auf alle Programme. Offensichtlich geht es um die Installation eines umfassenden rechten Weltbildes und wenn man die Personen betrachtet, die in die Leitungspositionen der RAI gehievt worden sind, dann findet man dort niemanden, der nicht eine faschistoide politische Vergangenheit oder zumindest eine entsprechende Gesinnung vorzuweisen hätte.

Das Konzept der Hegemoniebildung hat die schlaue Giorgia sich offensichtlich von Antonio Gramsci abgeguckt. Die rechte Regierung führt den Kampf um die kulturelle Hegemonie, indem sie – bewusst oder unbewusst – die theoretischen Annahmen des italienischen Kommunisten und schärfsten Kritikers des Faschismus übernimmt. In den berühmten Gefängnisheften (quaderni del carcere) war Gramsci zu der Einsicht gelangt, dass eine proletarische Revolution als umfassende gesellschaftspolitische Machtübernahme einen Einstellungswandel und eine Veränderung der Alltagskultur bei der Mehrheit der italienischen Bevölkerung voraussetzt. Die Rechte will diese „Herrschaft über die Köpfe“ als Voraussetzung ihrer eigenen vollständigen Dominanz in der italienischen Kulturlandschaft. Anders als ihre Gesinnungsfreunde in deutschen Landen, die sich noch im Würgegriff einer „linksgrün versifften“ – so formulierte es einmal der ehemalige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen – herrschenden Elite sehen, sitzt die siegreiche italienische Verwandte an den Schalthebeln der Macht und kann auf nicht unerhebliche Potenziale der Beeinflussung der öffentlichen Meinung zurückgreifen.

Udo Gümpel, profunder Kenner der italienischen Gesellschaft, scheut sich nicht, die hegemonialen Bestrebungen der italienischen Regierung als „Gleichschaltung“ zu bezeichnen. „Wohin diese Gleichschaltung führt, lässt sich beispielhaft an der Frauenpolitik und am Umgang mit der Geschichte des Landes sehen. Da findet im wichtigsten TV-Talk des Staatsfernsehens RAI bei Bruno Vespa eine Diskussion über Abtreibung statt mit sieben Männern ganz unter sich. Diese rechtfertigen dann auch, dass ab sofort Gruppen ultrakatholischer Abtreibungsgegner Zugang zu den Beratungszentren für Frauen erhalten. Dabei sind diese Aktivisten berüchtigt für ihre rabiaten Methoden, mit denen sie Frauen von einer Unterbrechung der Schwangerschaft abhalten wollen. (…) Immer mehr Frauen erheben ihre Stimmen gegen die Meloni-Regierung, weil die Rechte immer vehementer die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen 194 fordert. Als sei die niedrige Geburtenrate Italiens Schuld der Frauen und nicht der frauen- und familienfeindlichen Bedingungen: kaum Betreuungsplätze für Kleinkinder, so gut wie keine finanzielle Unterstützung für Mütter. Statt an diesen Realitäten zu arbeiten, arbeitet die Meloni-Regierung lieber an deren Deutung durch die Medien. Auch sonst sind die Probleme mannigfaltig: Das Wirtschaftswachstum ist mager, die Staatsverschuldung enorm. Die Beschäftigungsquote von knapp 64 Prozent liegt am unteren Ende des EU-Spektrums. Viele gut ausgebildeter Jugendliche verlassen Italien, viele Industriebetriebe ebenfalls. Zugleich sinkt die Einwohnerzahl des überalterten Landes Jahr für Jahr in den Dimensionen einer Großstadt. Über all diese drängenden Probleme soll nicht geredet werden, stattdessen soll die kapillare Kontrolle der Medien die Meloni-Erzählung verankern.“

Es bedarf kaum einer Erwähnung, dass Rassismus integrierter Bestandteil rechter Politik im gegenwärtigen Italien ist. Das gehört eben mit zum Arsenal der Demagogie im postfaschistischen Kommunikationskonzept. Die Feindschaft gegenüber Menschen, die anders sind als der „Bio-Italiener“ realisiert sich im ideologischen Diskurs vor allem in der Frontstellung gegenüber dem Islam und der islamischen Immigration, die als Bedrohung der christlichen Identität Italiens gesehen wird. Klar, dass hier Islam und islamistischer Terror gleichgesetzt werden. Gelegentliche und halbherzige Distanzierungen von rassistischen Übergriffen durch regierungsamtliche Stellen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die Regierung selbst ist, die ein Klima erzeugt, in dem rassistische Haltungen gedeihen.

Ein weiteres Projekt, das an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden soll, ist eine Zerstörung der Balance of Power durch eine Verfassungsänderung: Diese sieht unter anderem vor, dass der Regierungschef in Zukunft direkt gewählt werden und dessen Partei automatisch 55 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus erhalten soll. Im Zusammenspiel mit der schon vollzogenen Einführung von Elementen des Mehrheitswahlrechts und einer Bevorzugung der großen Parteien würde sich dadurch eine drastische Einschränkung der Macht des Parlaments ergeben. Auch hier haben wir es keineswegs mit einem innovativen Projekt zu tun. Schon die Renzi-Regierung ist mit ähnlichen Plänen am Widerstand der italienischen Zivilgesellschaft gescheitert. Nach dem verlorenen Referendum musste Renzi seinen Hut nehmen. Meloni ist klug genug, um dieses Vorhaben nicht im schnellen Parademarsch anzugehen, sondern auf den geeigneten Zeitpunkt zu warten und den faktischen Verfassungsbruch behutsam in ihre hegemoniale Strategie zu integrieren.

Klima der Gewalt im Alltag

Gewaltsame Aktionen faschistischer Schlägertrupps aus dem Dunstkreis der Fratelli d´Italia gegen Veranstaltungen linker Jugendorganisationen, Angriffe auf Gewerkschaftshäuser und Bedrohungen von Initiativen, die sich für das Asylrecht einsetzen, sind mittlerweile an der Tagesordnung und gehören fast schon zum Alltag der italienischen Gesellschaft. Die neofaschistischen Gewalttäter können sich offensichtlich darauf verlassen, dass ihr Gewalthandeln von den entsprechend verantwortlichen Institutionen gar nicht oder nur in äußerst seltenen Fällen sanktioniert wird.

Gewalt geht leider auch in verstärktem Maße von den Ordnungskräften aus. In Rom, Neapel und Mailand werden studentische Demonstrationen durch regelrechte Prügelattacken der Polizei aufgelöst. In Pisa und Florenz gehen Polizisten mit äußerster Brutalität gegen Schüler:innen vor, die sich an einer Kundgebung gegen das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza beteiligen. Michael Braun schreibt in Adesso: „Es geht um eine propalästinensische Demonstration, organisiert von Schülern in Pisa. Man sieht eine Gruppe von Demonstranten, nicht mehr als 100 Personen, in einer kleinen Gasse, blockiert von einem Van der Polizei und einer Absperrung durch Polizeibeamte in Kampfausrüstung. Plötzlich stürzen sich die Polizisten auf die jungen Leute und prügeln mit Schlagstöcken auf sie ein. Viele der Menschen stürzen auf die Erde, aber die Polizisten setzen ihre Prügelei fort. Einige Jugendliche erleiden Verletzungen am Kopf. (…) Die Demonstranten sind unbewaffnet und friedlich, allesamt Schüler:innen eines Gymnasiums, viele gerade einmal 15 oder 16 Jahre alt… Am gleichen Tag erscheinen ähnliche Bilder wie in Pisa aus dem benachbarten Florenz. Auch hier eine völlig unbegründete Polizeigewalt gegen Teilnehmende an einer Demonstration für Palästina. Der Bürgermeister von Pisa, Michele Conti, hoher Repräsentant der Lega, einer Partei, die Teil der von Meloni geführten Regierung ist, verurteilt die Gewalt der Polizei und erklärt: Das, was heute Morgen in der Stadt vorgefallen ist, hat mich zutiefst verbittert, zunächst als Bürgermeister der Stadt, dann aber als Bürger und Vater.“

Repräsentanten der Rechtsregierung haben hingegen das Vorgehen der Polizei uneingeschränkt begrüßt und die Schuld an den Gewaltexzessen „linken Provokateuren“ gegeben. Einerseits scheint die Rechte bereit zu sein, bei entsprechendem „Bedarf“ die Repressionskarte zu ziehen und Härte zu demonstrieren, andererseits zeigt die Reaktion des Bürgermeisters von Pisa, dass selbst im rechten Lager der Einsatz von repressiver Gewalt nicht unumstritten ist.

Wohin geht die Reise?

Alle diese durchaus widersprüchlichen Entwicklungen im Handlungsfeld des italienischen Koordinatensystems der Macht zeigen, dass Meloni und ihre Gefolgsleute keineswegs zurück in den traditionellen Faschismus der Mussolini-Ära wollen, sondern dabei sind, ein autoritäres, tendenziell faschistisches Regime zu konstruieren, dass sich durch die Verbindung ihrer ideologisch-politischen Maximen mit Elementen einer schon bestehenden politischen Kultur des Neoliberalismus auszeichnet und dem 80 Jahre nach dem Ende Mussolinis veränderten gesellschaftlichen Kontext Rechnung trägt. In diesem gesellschaftspolitischen Grundszenario realisieren sich autoritäre und reaktionäre Strukturen: Ethnischer und xenophober Nationalismus, Militarismus und autoritäres Downsizing der Demokratie, offene Gewaltanwendung gegen oppositionelle Bewegungen und eine gesellschaftliche Vision, die hierarchisch ist und die Ungleichheit der Vermögensverteilung zum Normalzustand erklärt. Es wird sich zeigen, ob es der Rechtsregierung gelingt, diese unterschiedlichen Handlungsstränge in einen kohärenten und konsistenten politisch-ideologischen Kurs zu integrieren, der die demokratische Opposition weiter paralysiert.

Gerd Pütz, Bonn

Gerd Pütz ist auch Autor des Essays „Enrico“, eine Erinnerung an das Vermächtnis des langjährigen Führers der italienischen Kommunisten Enrico Berlinguer.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2024, Internetzugriffe zuletzt am 27. August 2024. Alle Übersetzungen aus dem Italienischen vom Autor. Das Titelbild zeigt Ursula von der Leyen und Giorgia Meloni bei ihrem Besuch in Lampedusa. Foto: Riccardo de Lucia / EC-Audiovisual Service. Wikimedia Commons.)