Der Islam, das Christentum, die Nazis und der Antisemitismus

Zusammenhänge und Zuschreibungen, in Deutschland und in der Levante

„Aber in den letzten Jahren merkte ich, wie man durch die Erfahrung, als Angehöriger eines Kollektivs abgelehnt zu werden, sich diesem überhaupt erst zugehörig fühlt. Was eine Erfahrung aller Minderheiten ist, wiederholt sich zurzeit unter den Muslimen in Europa und ist im Ergebnis die Muslimisierung der Muslime.“ (Katajun Amirpur, Die Muslimisierung der Muslime, in: Hilal Sezgin, Hg., Deutschland erfindet sich neu – Manifest der Vielen, Berlin, Blumenbar Verlag, 2011)

Zu der von Katajun Amirpur diagnostizierten „Muslimisierung der Muslime“ gehört nicht nur das in der deutschen und europäischen Diaspora sich entwickelnde und sich oft aufgrund erlebter Diskriminierung verstärkende Gefühl, dem Islam als Religion anzugehören und in der Religion so etwas wie eine spirituelle Heimat zu finden, die bewahrt und gepflegt werden muss, sondern auch die „Muslimisierung“ des Antisemitismus.

Muslim-Bashing oder muslimische Bedrohung?

Berichtet wird über Muslim*innen in den gängigen Medien in der Regel erst und nur, wenn sich einzelne Aktivist*innen extremistisch äußern oder betätigen und dabei auf den Islam berufen. Wie muslimisch diese Aktivist*innen wirklich sind, interessiert wenig, ein „Allahu-akbar“-Ruf genügt, um sie als Muslim*innen zu markieren. Das wissen auch die Rufenden, die ein Maximum an öffentlicher Beachtung erstreben. Terrorismus und Islam? Eine zulässige Verbindung? Schon im Alltag fängt es an! Das Kopftuch erscheint wird in zahlreichen Debatten als pars pro toto für alles, was in der deutschen Mehrheitsgesellschaft am Islam nicht gefällt. Bärte werde seltener genannt, weil Hipster ähnliche Bärte tragen wie Salafisten. Berichte über Ehrenmorde und sogenannte „Clan-Kriminalität“ erhalten höchste Aufmerksamkeit, als hätten sie etwas mit der Religion zu tun. Die politischen Verhältnisse in der Türkei, den arabischen Staaten und im Iran verstärken diese Tendenz, den Islam als Religion zu dämonisieren.

Der reale Alltag von Muslim*innen in Deutschland wird hingegen kaum beachtet. Liberale Muslim*innen werden wie einsame Freiheitskämpfer*innen durch die diversen Talk-Shows gereicht, weniger, um ihre Positionen zu unterstützen als um mit ihrer Präsenz anzudeuten, dass der Islam allen politischen Beteuerungen zum Trotz irgendwie doch nicht zu Deutschland gehöre und dass, wenn Muslim*innen daran etwas ändern wollten, sie ihre „Integration“ bitteschön schleunigst zu erledigen hätten, als Vorleistung. Es wird von vielen Politiker*innen und Vertreter*innen der gängigen Medien regelmäßig der Eindruck erweckt, als wäre die Mehrheit der Muslim*innen illiberal und potenziell gefährlich, die Mehrheit der Deutschen aber tolerant und weltoffen. Wer aber Terrorismus durch Burka- oder Kopftuchverbote bekämpfen möchte, signalisiert damit, dass er an Ahmet Normal-Muslim oder Fatima Normal-Muslima nicht interessiert ist. Wozu Integration? „Wir sind nicht Burka“, sagte ein deutscher Innenminister und hielt dies für einen wertvollen Baustein seiner Integrationspolitik.

Wenn der türkische Staatspräsident antisemitische oder antiisraelische Botschaften verbreitet, weil er sich als Führer einer von ihm pan-muslimisch gedachten Staatengemeinschaft anpreisen möchte, werden alle Muslim*innen in Deutschland oft genug pauschal verdächtigt, dass sie diese Botschaften teilen. In der Debatte um die Rolle der türkischen Religionsbehörde und ihres deutschen Ablegers DITIB bei der Umsetzung des islamischen Religionsunterrichts wurde DITIB bereits mehrfach als antisemitisch eingestellte Organisation bezeichnet, mitunter von denselben Aktivist*innen, die nicht müde werden, BDS von dem Vorwurf des Antisemitismus reinzuwaschen. Distanzieren sich offizielle Vertreter muslimischer Verbände von antisemitisch oder antiisraelisch konnotierten An- und Übergriffen, ist dies den Medien jedoch allenfalls eine Randnotiz wert.

Andererseits: Juden*Jüdinnen fühlen sich in hohem Maße von Muslim*innen bedroht, nicht nur bei Demonstrationen und Übergriffen angesichts jeweiliger Entwicklungen in Israel und den umliegenden Regionen, auch im Alltag, auf der Straße, in der Schule, im Restaurant, bei Auftritten der BDS-Bewegung.

Unscharfe Begriffe

Die Frage ist berechtigt, ob antisemitische An- und Übergriffe von Muslim*innen tatsächlich muslimisch motiviert sind und welche Rolle die Religionszugehörigkeit beim Antisemitismus spielt. Beim christlich konnotierten Antisemitismus lässt sich diese Frage eindeutig beantworten, ob sie sich auch beim muslimisch konnotierten Antisemitismus so einfach beantworten lässt, wäre zu prüfen und zu erörtern. Es wäre auch interessant zu erforschen, wie sich die jeweiligen Motive und Stereotype christlich und muslimisch geprägter Erscheinungsformen des Antisemitismus zueinander verhalten und welche Rolle die Zugehörigkeit zur Mehrheit beziehungsweise zu Minderheiten in einer Gesellschaft spielen.

Wer sich mit dem Thema „muslimischer Antisemitismus“ befasst, hat es mit zwei gleichermaßen unscharfen Begriffen zu tun. Sicherlich ließe sich auf die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verweisen, der sich inzwischen verschiedene Staaten, so auch die Bundesrepublik Deutschland, angeschlossen haben, doch bedarf jede, auch diese Definition der Konkretisierung in der alltäglichen Praxis, im täglichen Gebrauch in der Sprache, in dem sich nach Ludwig Wittgenstein erst die Bedeutung eines Wortes, eines Begriffes erweist. Die IHRA-Definition ist nicht unumstritten, wie die zahlreichen Unterschriften prominenter Wissenschaftler*innen und anderer Intellektueller unter die sogenannte „Jerusalemer Erklärung“ belegen, auch wenn sich sicher bezweifeln ließe, ob Unterschriftenlisten eine geeignete Methode sind, strittige Themen zu diskutieren. Ebenso ist es mit dem Begriff des Islam, des Muslimischen, dessen, was eine*n einzelne*n Muslim*in ausmacht und mitunter – die Komplexität und Vielfalt des Islam reduzierend – in der Gleichsetzung von Islam und Islamismus zugespitzt wird.

Michael Kiefer hat im Jahr 2017 in der Reihe „Bausteine“ des Netzwerks „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ einen gut lesbaren Band mit dem Titel „Antisemitismus und Migration“ veröffentlicht, der Forschungsergebnisse und öffentliche Debatten anschaulich zusammenfasst. Er führt mit dem Begriff der „Migration“ einen weiteren Begriff in die Debatte ein, der in der öffentlichen Debatte oft synonym mit dem Begriff des „Islam“ verwendet wird. „Muslim*innen“ werden somit nicht nur im Sinne von Katajun Amirpur „muslimisiert“, sondern auch – ich verwende einen Begriff von Naika Foroutan – „migrantisiert“. Michael Kiefer vergleicht mehrere Definitionen des Antisemitismus, beginnend mit der amerikanischen Genozid- und Antisemitismus-Forscherin Helen Fein (er zitiert sie nach Werner Bergmann, „Was heißt Antisemitismus“, Bundeszentrale für politische Bildung, 2006): „Antisemitismus ist ein dauerhafter latenter Komplex feindseliger Überzeugungen gegenüber Juden als einem Kollektiv. Diese Überzeugungen äußern sich beim Einzelnen als Vorurteil, in der Kultur als Mythen, Ideologie, Folklore und in der Bildsprache, sowie in Form von individuellen oder kollektiven Handlungen – soziale oder gesetzliche Diskriminierung, politische Mobilisierung gegen Juden, und als kollektive oder staatliche Gewalt –, die darauf zielen, sich von Juden als Juden zu distanzieren, sie zu vertreiben oder zu vernichten.“

Als zweite Gewährsadresse zitiert Michael Kiefer Wolfgang Benz, der „christlichen“, „rassistischen“, „sekundären“ und „antizionistischen“ Antisemitismus unterscheiden möchte (Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus? München, C.H.Beck, 2004). Allerdings vermischen sich diese Erscheinungsformen im Gebrauch, beispielsweise wenn eine „antizionistische“ Aussage mit Bildern und Metaphern verbunden wird, die dem „christlichen“ Antisemitismus entnommen sind oder diesem zumindest ähneln. Ob diejenigen, die solche Mischungen antisemitischer Stereotype verwenden, sich dessen bewusst sind, ist eine wichtige Frage zur Klärung der Genese von „muslimischem Antisemitismus“.

Eine „wilde Collage“

Michael Kiefer bezeichnet die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus als einen „flexiblen Code“ und schließt damit an den Begriff des „kulturellen Code“ an, den Shulamit Volkov 1978 in die Debatte einführte (nachlesbar in: Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, München, C.H.Beck, 2/2000). Michael Kiefer sieht diesen „Code“ bei jungen Muslim*innen: „Antisemiten gleich welcher Herkunft und Religion gebrauchen antisemitische Argumentationsmuster aus verschiedenen historischen, kulturellen und regionalen Kontexten, die in ihrer Neuanordnung oft inkohärent und widersprüchlich erscheinen. Die Herkunft der Narrationen ist ihnen vielfach nicht bekannt oder wird falsch verortet. Das kann häufig bei Jugendlichen beobachtet werden, die in einer wilden Collage Narrationen aus dem Islam mit antisemitischen Klischees verbinden.“

Diese „wilde Collage“ lässt sich auch in populärkulturellen Filmen, Fernsehserien und Comics finden. Michael Kiefer verweist auf die libanesische Fernsehserie aš-Šatât (2003, dt.: „Die Diaspora“) und die iranische Serie „Sarahs blaue Augen“ (2004), in denen Juden*Jüdinnen als Kriminelle dargestellt werden. Da geht es beispielsweise um den bösen Israeli, der die Augen einer jungen muslimischen Frau braucht, um seine blinde Tochter zu retten. Michael Kiefer nennt aber auch ein Gegenbild, die ägyptische Serie Haret al-Yahud (2015), eine Liebesgeschichte zwischen einem Offizier der ägyptischen Streitkräfte und einer Jüdin. Ob diese Serie „einen Wendepunkt in einer arabischen Medienlandschaft markiert, die in den vergangenen sechs Dekaden ungeniert antisemitischen Trash kolportierte“, werden wir sehen.

Ähnliche Stereotype finden wir allerdings schon in europäischen und US-amerikanischen Produktionen. Immer wieder begegnen wir populären Darstellungen von Jüdinnen*Juden, die nicht per se als antisemitisch belegt sind, aber antisemitische Stereotype antriggern. Dazu gehören die Ferengi in Star Trek, die lediglich in der Serie „Deep Space Nine“ liebevoll präsentiert werden, während sie in allen anderen Serien ausschließlich als geldgierig und zu jeder Schandtat bereit erscheinen, die ihr Vermögen vergrößern könnte, oder auch Figuren wie Magneto unter den X-Men des Marvel-Universums, der bei allem Verständnis für das Leid, das seine Familie und er als der junge Erik Magnus Lensherr in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis erlitten, über ungeheure Zerstörungskräfte verfügt, die er nutzen will, um die Weltherrschaft der Mutant*innen zu begründen. Er ist der zerrissene, aber letztlich eindeutig böse Gegenspieler von Professor X. Im James-Bond-Universum sind in einzelnen Zügen eindeutig negativ dargestellte Bösewichte wie Le Chiffre oder die Organisation SPECTRE in einzelnen Motiven antisemitisch konnotiert, SPECTRE schon allein durch die Verwendung eines Kraken als Logo.

Angetriggert

Solche antisemitisch getriggerten Figuren gab es nicht erst im 20. Jahrhundert, es gab sie schon immer, so durchgehend in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Jan Süselbeck konkretisiert dies in dem von ihm gemeinsam mit Stefanie Schüler-Springorum herausgegebenen Band „Emotionen und Antisemitismus“ (Göttingen, Wallstein, 2021) am Beispiel der Erzählung E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“. Ob E.T.A. Hoffmann, der auch im Umfeld der von Achim von Armin und Adam Heinrich Müller 1811 gegründeten „Deutschen Tischgesellschaft“ unterwegs war, die keine Juden zuließ, „selbst Antisemit war oder sich dezidiert als solcher verstand“, ist „zweitrangig“, auf die möglichen Wirkungen kommt es an: „Schließlich ist es theoretisch auch möglich, dass ein solcher Autor Aspekte eines antisemitischen Weltbildes unreflektiert oder unbewusst in einem Text spiegelt, die sein Werk aus der Sicht seines Publikums mit judenfeindlichem Wirkungspotenzial aufladen. Aus textkritischer Sicht mindert dies jedoch nicht das diagnostizierte Problem möglicher antisemitischer Lesarten.“

Diese Analyse ließe sich auf heutige Erscheinungsformen eines angetriggerten Antisemitismus übertragen. Jan Süselbeck zitiert Uffa Jensen, der in seiner Studie „Zornpolitik“ (Berlin, Suhrkamp, 2017) die Parallelen zwischen den „rassistischen und antisemitischen Formen der Emotionalisierung im aktuellen Populismus von Parteien wie der ‚Alternative für Deutschland‘ mit entsprechenden Traditionen im 19. Jahrhundert“ darlegt. Auch für von BDS-Aktivist*innen verwendete Motive und Begriffe ließe sich dies belegen. Es muss ja nicht so weit gehen wie bei Ernst Moritz Arndt, der 1814 die „Insektenmetaphern“ verwendete, die später zum ständigen Wortschatz der Nazis gehörten und heute in zahlreichen arabischen Karikaturen auftauchen. Julia Bernstein dokumentiert eine erschreckende Fülle solcher Beispiele in ihrem Buch „Israelbezogener Antisemitismus“ (Weinheim / Basel, Beltz Juventa, 2021). Monika Schwarz-Friesel, auf deren Buch „Sprache und Emotion“ (Zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage, Tübingen / Basel, A. Francke, 2014) sich Jan Süselbeck bezieht, spricht von einer „E-Implikatur“ („E“ für „Emotionen“), die mit den möglichen emotionalen Reaktionen des Publikums spiele, um letztlich etwas zu reproduzieren, das sich als antisemitischer Zeitgeist bezeichnen ließe.

Jan Süselbecks Schlussfolgerung am Beispiel von „Der Sandmann“: „Es ist kein per se antisemitischer Text. Zugleich handelt es sich jedoch um eine Erzählung, die vor allem für die zeitgenössischen Leser des frühen 19. Jahrhunderts aufgrund der oben untersuchten gebräuchlichen E-Implikaturen und paradigm scenarios ein hohes Potenzial aufgewiesen haben muss, judenfeindliche Lesarten zu triggern.“ Ungenauigkeit ist Prinzip. „Gerade das, was nicht explizit bestätigt und in der Schwebe gelassen wird, regt die Fantasie der Leser an.“

Katharina Nocun und Pia Lamberty haben diese Strategie in ihrem Buch „Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ (Köln, Quadriga-Verlag, 2021) als grundlegendes Merkmal von Verschwörungserzählungen markiert. Sie belegen dies mit entsprechenden Verweisen auf Reden des ehemaligen US-Präsidenten Donald J. Trump oder diverser Politiker der AfD. Durch Aufnahme in der Populärkultur beeinflusst dieses Verfahren ein großes Publikum. Eindeutigkeit ist nur dort zu finden, wo sich diejenigen, die antisemitische Bilder, Motive und Begriffe verwenden, einer zustimmenden Mehrheit in ihrem Publikum sicher sind. Was in einigen der genannten arabischen Fernsehserien eindeutig ist, ist es in der in Europa oder in den USA gepflegten Populärkultur nicht.

Die Blaupause – der christliche Antisemitismus

Eines der gängigen Stereotype zur Bezeichnung muslimisch konnotierten Antisemitismus ist der Vorwurf, der Antisemitismus wäre durch die Zuwanderung der vergangenen Jahre aus dem arabischen Raum in Deutschland importiert worden. Dieses Stereotyp pflegen nicht nur Rechtspopulist*innen und -extremist*innen. Wer sich jedoch die Geschichte des Antisemitismus in der Levante anschaut, erfährt schnell und verlässlich, dass es sich bei dem als „muslimisch“ bezeichneten Antisemitismus eher um einen Re-Import handeln dürfte. Dies lässt sich aus der kontinuierlichen Präsenz antisemitischen Denkens, Sprechens und Handelns in der europäischen weitgehend christlich geprägten Geschichte ableiten.

Die Entwicklung des christlichen Antisemitismus beschreibt Hyam Maccoby in seinem Buch „Ein Pariavolk – Zur Anthropologie des Antisemitismus“ (deutsche Ausgabe 2019 erschienen bei Hentrich & Hentrich, englische Ausgabe 1996 in London bei Constable and Company unter dem Titel „A Pariah People – The Anthropology of Antisemitism“). Der muslimische Antisemitismus folgt dem christlichen Antisemitismus, der wiederum „starke Anknüpfungspunkte an den Hellenismus“ aufweist. Andererseits begründet der Islam eine eigene antisemitische beziehungsweise antijüdische Tradition: „Der Koran brandmarkt die Juden als die Feinde Mohammeds, der sie in Arabien militärisch besiegte.“ Eine dauerhaft verfolgte Vernichtungsabsicht war damit jedoch nicht verbunden: „Das Judentum wurde im Islam eine zugelassene Religion.“ Juden mussten höhere Steuern zahlen, sie wurden schikaniert und verfolgt, aber dabei blieb es in der Regel.

Mit der Debatte um eine mögliche Staatsgründung Israels entwickelte sich seit den 1920er Jahren eine neue Phase der Dämonisierung des Judentums. „Das Gesamtbild des modernen Antisemitismus zeigt eine starke Tendenz, die Juden mit der wie auch immer gearteten diabolischen Kraft zu identifizieren, wie sie in einer dualistischen Ideologie gefordert wird: Wo die Theorie eine niederträchtige politische Gruppe erfordert, die gegen Gerechtigkeit und Fortschritt arbeitet, wird aufgedeckt, dass Juden diese Gruppe ausmachen. Es kann kein Zufall sein, dass dieses dualistische Schema jenes des traditionellen Christentums wiederholt.“

Hyam Maccoby analysiert ausführlich die Genese dieses christlichen Antisemitismus. Die Ursprünge findet er weitgehend bei Paulus. Der Islam musste diese dämonisierende Version des Antisemitismus nur aufgreifen und verstärkte sie. Es gab zwar auch Antisemitismus in anderen Regionen dieser Welt – Hyam Maccoby nennt als Beispiel Japan –, doch „ist das Auftreten von Antisemitismus außerhalb des christlich-islamischen Blocks peripher und unbedeutend.“

Eine interessante Einsicht ergibt sich aus der Darstellung der Juden als „Christusmörder“ in den Evangelien und in den Briefen des Paulus und diverser Apostel. Dabei spielt es keine Rolle für die Wirkung, wer diese Texte tatsächlich geschrieben, ediert, ergänzt und fortgeschrieben haben mag. Hyam Maccoby: „Folglich wurde die Geschichte vom Tod Jesu allmählich so erzählt, dass sie die Römer entlastete und die ganze Schuld auf die Juden schob.“ Ähnlich ließe sich die Projektion allen Unheils, das der arabisch-palästinensischen Bevölkerung geschah, interpretieren. Nicht der westliche Kolonialismus, maßgeblich der Kolonialismus der Briten und Franzosen, nicht die Aufteilung der Region über das Sykes-Picot-Abkommen, nicht die schwammig formulierte Balfour-Erklärung sind die Ursache des sogenannten Nah-Ost-Konflikts. Kolonialismus und Vertreibung werden ursächlich ausschließlich Juden*Jüdinnen und dem jüdischen Staat zugeschrieben. Der Westen wird „entlastet“, wie die Römer in den christlichen Texten, letztlich eine Verkehrung der tatsächlichen Machtverhältnisse, im ersten wie im frühen zwanzigsten Jahrhundert.

Für das Christentum galt: „Die Lebensverlängerung des Ewigen Juden erinnert uns an Kain, der Mörder Abels, dem ein Zeichen gegeben wurde, um ihn vor dem Tod zu bewahren (Kainsmal). Die Juden mussten bewahrt werden, nicht nur wegen des ‚Zeugnisses‘, was Augustinus angeführt hatte, sondern weil sie unverzichtbare dramatis personae in der Heilsgeschichte waren, die ihre Rolle ewig wiederholen mussten, nicht nur in der dramatischen Form der Passionsspiele, sondern auch in den erfundenen Episoden der Ritualmordlegende.“ Überall dort, wo christliche Eroberung wirkte, verbreitete sich dieser Mythos. Hyam Maccoby berichtet von den Mapuche-Indianern, die den „Stamm böser Geister“, der nach ihrem Glauben ständige Vulkanausbrüche bewirke, nach Kontakt mit den christlichen Eroberern „die Juden“ nannte. Ein europäisches Beispiel: „Die Lumpensamler oder fripiers von Paris waren einmal ausschließlich jüdisch und bildeten eine verachtete Gruppe. Nach der Vertreibung der Juden aus Frankreich 1394 fiel die Beschäftigung als Lumpensammler in die Hände von Nichtjuden, die alle praktizierende Katholiken waren. Diese katholischen Lumpensammler bekamen jedoch den Spitznamen ‚les juifs‘, ihre Zunft wurde ‚die Synagoge‘ genannt, und sie wurden mit der in etwa gleichen Verachtung behandelt wie ihre jüdischen Vorgänger.“

Gäbe es keine Juden, müssten Christen und Muslime sie erfinden, gäbe es keinen Staat Israel, müssten palästinensische Gruppen ihn erfinden, und so ähnlich war es ja auch in den Jahren vor der Staatsgründung Israels. Mit der Stigmatisierung alles Jüdischen – so die Schlussfolgerung Hyam Maccobys – bestätigen die Stigmatisierenden die Richtigkeit des eigenen Glaubens. Der in muslimischen Ländern praktizierte Antisemitismus des 20. Jahrhunderts ist christlichen Ursprungs. Die Nazis kopierten christliche Motive und fanden in den arabischen Ländern aufgeschlossene Rezipient*innen. Sie etablierten eine ständige „Kampagne des Hasses“, die Shoah war der Höhepunkt dieser Kampagne: „Der christliche Antisemitismus ist nicht die einzige Ausprägung des Antisemitismus, die es gibt, aber es ist diejenige, die den Holocaust hervorgebracht hat.“ Mehr noch: „Hitler stützte seinen Standpunkt bewusst auf die antisemitischen Ergüsse Luthers.“ Dies tat beispielsweise auch Julius Streicher vor dem Nürnberger Gericht, um sich zu entlasten. Eigentlich – so meinte er – müsse Martin Luther auf der Anklagebank sitzen.

Hyam Maccobi stellt fest, dass „jede historische Untersuchung der Ursprünge und Denkmuster des Antisemitismus der Nazis und der Neuen Linken zeigt, wie unauflösbar diese Erscheinungsformen des christlichen Antisemitismus fortsetzen.“ Die Deutschen spielten eine Hauptrolle, auch wenn sie den Antisemitismus nicht erfunden hatten. Sie waren aber die folgsamsten und konsequentesten Schüler*innen des christlichen Antisemitismus: „Den Deutschen dafür allein die Schuld zu geben, bedeutet für andere Christen der eigenen Verantwortung auszuweichen. Es ist wahr, dass Deutschland die Schande der schlimmsten Verfolgung von allen trägt, und dies ist eine Fortsetzung der besonders boshaften Färbung der deutschen Judenverfolgung im Mittelalter. In Deutschland war es, wo die ersten Massaker im Zusammenhang mit den Kreuzzügen stattfanden In Deutschland hatten die Passionsspiele eine besonders sadistische Schärfe und die Darstellungen von Juden in Kunst und Karikatur eine brutale, obszöne Note. Trotzdem ist dies nur der deutsche Anstrich einer universellen christlichen Kampagne des Hasses.“

Politischer Antisemitismus in der Levante

Und der Islam, die Muslim*innen? Der Staat Israel muss vernichtet werden – so die iranische Propaganda, so die palästinensischen Gruppen und ihre Unterstützer*innen: „From the river to the sea, …“. Doch wie kamen die Motive des europäischen und christlichen Antisemitismus in den Nahen Osten?

Eigentlich müsste sich die Konkurrenz zwischen Muslim*innen und Juden*Jüdinnen – so Michael Kiefer – mit dem Sieg Mohammeds über die jüdischen Stämme im Jahr 627 erledigt haben, denn im Unterschied zum Christentum missionierte das Judentum nie, während christliche und muslimische Heere ständig Kriege um die Vorherrschaft im Norden Afrikas, in der Türkei, in der Levante und in Europa führten und dabei den Menschen der eroberten Länder ihre jeweilige Religion aufzwangen.

Michael Kiefer nennt als ein zentrales Schlüsselereignis des Antisemitismus in der Levante „die international verlaufende Damaskusaffäre des Jahres 1840. Im Zentrum der Affäre stand die vom französischen Konsul in Damaskus, Benoît Ulysse de Ratti-Menton, vorgebrachte Beschuldigung, die Damaszener Juden hätten einen Kapuzinerpater entführt und ermordet, um mit seinem Blut Matzen zu backen. Der osmanische Statthalter ließ daraufhin zahlreiche Juden verhaften und wollte sie dem Scharfrichter übergeben.“ Die Hinrichtung fand aufgrund internationaler Proteste nicht statt, doch die Wirkung war verheerend, denn so „kam es in den nachfolgenden Jahren im osmanischen Reich zu einer Vielzahl solcher Vorwürfe gegen Juden, die mehrheitlich von christlichen Untertanen vorgebracht wurden. Damit hatte eines der Hauptnarrative des christlichen Antisemitismus nachhaltig Eingang gefunden in die muslimisch-osmanische Gesellschaft.“

Einen Überblick zur Übernahme und Verbreitung antisemitischer Stereotype in der Levante bietet Matthias Küntzel in seinem Buch „Nazis und der Nahe Osten – Wie der islamische Antisemitismus entstand“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2019): „Wir kommen dem Phänomen des islamischen Antisemitismus nicht auf die Spur, wenn wir unseren Blick auf Deutschland oder die EU beschränken. Es ist unumgänglich, die arabisch-islamische Welt in unsere Betrachtung einzubeziehen, mit der zahlreiche Muslime in Europa über vielfältige Kanäle verbunden sind – über verwandtschaftliche Beziehungen, über arabisch- oder türkischsprachige Massenmedien oder aufgrund einer Solidarisierung mit den nahöstlichen Gegnern Israels.“

Die Damaskusaffaire, die Veröffentlichung der „Protokolle der Weisen von Zion“ auch in arabischer Sprache, die Propaganda das seit 1921 von den Briten eingesetzten Großmufti Amin el-Husseini, die Verbindung der Nazis mit der von Hassan al-Banna gegründeten Muslimbrüderschaft bereits gegen Ende der 1920er Jahre, die systematische Verbreitung der NS-Ideologie im arabischsprachigen Raum – all dies führte dazu, dass sich der Antisemitismus gepaart mit dem Widerstand gegen jüdische Einwanderung etablierte. Das Ergebnis: „Nach 1945 war der arabische Raum die einzige Region der Welt, in der eine pro-nationalsozialistische Vergangenheit als eine Quelle des Stolzes galt, nicht der Scham.“

Sayyid Quţb führte diese Linie fort und sorgte mit seiner Schrift „Unser Kampf mit dem Juden“ (arabisch: „Ma’rakatuna ma’a al-yahud“, im Arabischen wie in der Übersetzung mit bestimmtem Artikel und im Singular) für die heute nach wie vor gängige ideologische Grundlage des arabischen Antisemitismus, der erst durch vielfältige Mischungen mit diversen Koran-Stellen auch als muslimisch begründeter und begründbarer Antisemitismus erscheint. Matthias Küntzel: „Dass Berlin zwischen 1937 und 1945 keinen Aufwand scheute, um den Antisemitismus unter Muslimen zu schüren, ist in Deutschland wenig bekannt. Dabei ist gerade diese Facette der deutschen Vergangenheit hochaktuell. Die Begegnung des Nahen Ostens mit der Nazi-Ideologie war kurz, doch sie wirkt bis heute weiter nach.“

Eines der Instrumente, mit dem die Nazis ihren Antisemitismus exportierten, war die SS-Broschüre „Islam und Judentum“: „Da, wo Muslime lebten, ließen die Nazis diesen Text in hohen Auflagen und mehreren Sprachen verbreiten.“ Ein weiteres Instrument war ein auf Arabisch sendender Radiosender aus Zeesen bei Berlin, 1936 genehmigte Adolf Hitler die „Übersetzung von ‚Mein Kampf‘ ins Arabische“. Das Titelbild des Buches von Matthias Küntzel zeigt zwei Angehörige einer muslimischen SS-Division bei der Lektüre von „Islam und Judentum“.

Sayyid Quţb (1906-1966) und die Hamas mussten die von ihnen verwendeten Motive ihres muslimisch konnotierten Antisemitismus nicht erfinden, es war alles schon da. Allerdings gab es eine zunehmend anti-modernistische Konnotation. Matthias Küntzel: „Bei Quţb gilt jeder Muslim, der mit der Moderne sympathisiert, und sei es eine religiöse Autorität, als Krypto-Jude, der den Islam von innen zerstören will. Das zeigt, worum es ihm beim Antisemitismus geht: Das seit der Frühzeit des Islam etablierte Feindbild ‚Jude‘ wird revitalisiert und ins Maßlose vergrößert, um den Vormarsch der Moderne in islamischen Gesellschaften zu stoppen.“ Dies hindert heutige islamistische Kampfgruppen wie den Daësh (der sogenannte „Islamische Staat“, auch als „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ bezeichnet), die Hamas, die Hisbollah oder auch die PLO nicht, sich moderner Technologien zu bedienen, um ihren Kampf gegen das Judentum an sich, gegen Israel und gegen all seine westlichen Unterstützer zu führen.

Matthias Küntzel zitiert Texte des Ajatollah Khomeini, der vom „jüdischen Weltstaat“ fabulierte und damit „eine Leitidee des europäischen Antisemitismus adaptiert und mit seinem Antijudaismus verknüpft“ hat, die gleichzeitig anti-liberal, anti-modernistisch und anti-westlich zu verstehen ist. Khomeini schrieb 1971 (zitiert nach Matthias Küntzel): „Die Spuren (…) der Einflüsterungen des Fremden im Bewusstsein der Menschen müssen verschwinden.“ Matthias Küntzels Fazit: „Er möchte all die Momente der Moderne abwehren, die sein konservatives Verständnis des Islam untergraben. Dieser Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Antimoderne macht auch die Beliebtheit der ursprünglich aus Russland stammenden ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ in der islamischen Welt plausibel. Der Text ist als Hetzschrift gegen den Liberalismus konzipiert (…).“

Die Entmündigung der Muslim*innen

„Die Widersprüchlichkeit des Judenbildes im Koran – mal projüdisch, mal antijüdisch“, die Matthias Küntzel plausibel „den überlieferten Lebenserfahrungen Mohammeds“ zuschreibt, wird ignoriert. Lehrkräfte des islamischen Religionsunterrichts wissen, wie schwer es ist, sich dem Suren-Ping-Pong mancher ihrer Schüler*innen und einer solchen Steinbruchexegese die Grundlage zu entziehen. Es müsste gelingen, aus der Lektüre eines kanonisierten religiösen Textes herauszuarbeiten, was in den Religionswissenschaften als „Sitz im Leben“ bezeichnet wird. Exegese ist ein schwieriges Geschäft, wenn Autoritäten die Unveränderlichkeit und Eindeutigkeit des vorgeblich göttlichen Wortes behaupten: „Wo dem Islam kein aufklärerisches Gedankengut entgegengesetzt wird, entfaltet er das in ihm steckende Ressentiment gegen Juden. Es bedarf bewusster Anstrengung, diesem suggestiven Einfluss standzuhalten, geschweige denn ihm entgegenzutreten.“

Geschieht dies nicht, verbreitet sich die antisemitische Version des Islam in der „Alltagskultur vieler Muslime“ (Marwan Abou-Taam in seiner Analyse für das rheinland-pfälzische Landeskriminalamt, zitiert nach Matthias Küntzel). Die Aggressivität der von diesen antisemitischen Versionen des Islam beeinflussten Menschen richtet sich dann nicht nur gegen Jüdinnen*Juden, sondern auch gegen „Muslime, die den Islam zu reformieren suchen“ und sich daher „ohne massiven Polizeischutz nicht an die Öffentlichkeit wagen“ können. Es versteht sich von selbst, dass solche Reformer*innen in den mehrheitlich islamischen Ländern kaum erwarten dürfen, dass staatliche Organe sie schützen. Das Leben in der Diaspora ist für sie ein Leben im Exil.

Die Gefahr eines muslimisch begründeten Antisemitismus steigt angesichts einer in Deutschland feststellbaren „Neigung, arabischen Hitler-Liebhabern und Holocaust-Leugnern mildernde Umstände zuzugestehen“. Dies ist „nicht auf Touristen begrenzt“, sondern findet sich selbst in Wissenschaft und Politik. Matthias Küntzel nennt dies „wohlwollender Rassismus“ und – den britischen Autor Maajid Mawaz zitierend – „Rassismus der reduzierten Erwartungen“: „Er spricht Arabern die Fähigkeit ab, sich ein Urteil zu bilden und zu meinen, was sie sagen.“

Matthias Küntzel bezeichnet ein solches Anliegen als Entmündigung, es sei falsch zu glauben, „Muslimen einen Gefallen zu tun, wenn man sie auf eine ‚arabische‘ oder ‚muslimische‘ Perspektive reduziert. Dahinter steckt jedoch immer auch die Weigerung, sie als mündige Bürger zu begreifen, die für den Kampf gegen den Antisemitismus als Teil der deutschen Gesellschaft mit verantwortlich sind.“ Die ritualisierten Appelle diverser Politiker*innen, die muslimischen Organisationen möchten sich nach Attentaten auf Jüdinnen*Juden und jüdische Einrichtungen von den Täter*innen distanzieren, ließen sich auch als Unterstellung interpretieren. Muslim*innen werden schlicht als Angehörige einer Problemgruppe verstanden, deren Mitgliedern offizielle wie selbsternannte Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft nicht zutrauen, dass sie wüssten, wie sie sich in einer freiheitlichen Demokratie zu verhalten hätten.

Die Penetranz und Nachhaltigkeit antisemitischer Stereotype ist ein historisches und politisches Fakt. Wie sich historische Fakten, Vermutungen, Urteile aufgrund von Hörensagen, Bildungsprozesse, verschiedene Interpretationen historischer Entwicklungen auf Einstellungen und Handeln in unterschiedlichen Regionen auswirken – das wäre eine spannende Frage. Antisemitisch – das ist die Erfahrung – sind aber immer die Anderen. Das Wissen um die Vorgeschichte des Antisemitismus in der Levante, wer wo was importiert oder re-importiert hat, wird jedoch erst durch eine umfassende Analyse der Sprache, der Motive und der Verbreitungswege des Antisemitismus offensichtlich.

Letztlich kommt es immer auf das Gleiche hinaus: Juden*Jüdinnen sind „das Böse“ schlechthin, sie lenken und dominieren die Weltgeschicke. Monika Schwarz-Friesel hat dies mehrfach anschaulich formuliert, zuletzt in einem Vortrag an der Universität Heidelberg („Antisemitismus im Internet 2.0 als kultureller Gefühlswert – Das digitale Echo der Vergangenheit“): der heutige Antisemitismus ist „eine Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung“ und dies angesichts der Möglichkeiten des Internets in „ohrenbetäubender Lautstärke“, in Deutschland, in Europa und in der Levante .

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 4.8.2021.)