Der Krieg gegen die Ukraine
Acht Thesen über Moral und linke Politik
„Die Gewalt hat eine Botschaft: Es gibt kein sicheres Leben in der Ukraine, nirgendwo.“ (Martin Schulze Wessel in der Einleitung seines Buches „Der Fluch des Imperiums“, München; C.H.Beck, 2023:)
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat Weltbilder und lange gehegte Sicherheiten zerstört, nicht zuletzt bei Linken und Anhänger*innen der Friedensbewegung. Manche haben ihre Position im Verlauf des Krieges ändern müssen, manche scheuen sich dies zu tun, andere wollen das Geschehene nicht wahrhaben und setzen auf alte überkommene Positionen. Auch ich habe meine Position, beispielsweise zu Waffenlieferungen, ändern müssen. Ein kritischer Blick kann sich jedoch nicht auf diese eine Frage beschränken. In diesem Essay geht es um die Frage, wie sich Linke zu dem schrecklichen Krieg aufstellen sollten und von welchen moralischen und politischen Grundsätzen sie sich leiten lassen sollten. Was können Linke dazu beitragen, dass „sicheres Leben“ möglich ist?
Erste These: Linke müssen unmissverständlich Widerspruch anmelden zu den bellizistischen Strömungen, die in Medien, Politik und Gesellschaft einen großen Raum einnehmen.
Es ist schon erschreckend, in welchem Ausmaß das Denken in Kalte-Kriegskategorien hierzulande wieder Einzug gehalten hat. Gegen die Bösewichte in der Welt, und das sind immer die Anderen, helfe nur eine Politik der Stärke, hören wir. Dass wir kräftig aufrüsten müssen, gilt als unumstößliche Tatsache. Und die atlantische Militärallianz NATO gilt wieder als bester Garant, die uns vor möglichen Aggressionen schützen wird. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg kann man schon fragen, ob ein Körnchen Wahrheit darin liegt. Aber wir sollten nicht vergessen, dass auch NATO-Mitgliedsstaaten Kriege vom Zaum gebrochen haben, Völkerrecht gebrochen haben, ihrerseits die Marginalisierung der UNO in Kauf genommen haben.
Die Selbstgerechtigkeit des „Westens“ hat dazu beigetragen, dass sich nach 1990 wieder Gräben zwischen Ost und West, Nord und Süd aufgetan haben und dass die NATO, die nach wie vor von den USA dominiert wird, einen Anteil daran hatte, dass die Entwicklung gesamteuropäischer Friedens- und Sicherheitsstrukturen sträflich vernachlässigt wurde. An Rüstungskontrolle und Abrüstung war man seit der Jahrhundertwende nicht mehr interessiert. Das Aufkommen militaristischer, rechter Kräfte in Moskau wurde dadurch gefördert. Die „westliche Staatengemeinschaft“ ist insofern nicht schuldlos daran, dass sich ein Szenario aufgebaut hat, dass den Machthabern im Kreml die Entscheidung zum Krieg leichter gemacht hat.
Über Eines sollten wir uns besonders im Klaren sein: Eine neue, länger andauernde, globale Konfrontationsära, die von einer Rüstungsspirale begleitet wird, können wir uns mit Blick auf die sich rapide verschärfenden Klimakrisen schlicht nicht leisten. Die Klimakatastrophe kann nur im globalen Zusammenwirken, das hier und heute beginnen muss, verhindert werden. Nachhaltige Entwicklung, globale Gerechtigkeit und friedliche, „entrüstete“ Welt gehören zusammen. Insoweit bleibt es auch bei unserer kritischen Haltung gegenüber denjenigen, die auf militarisierte Sicherheitspolitik setzen und dabei die Dramatik des Klimawandels notorisch unterschätzen.
Zweite These: Die Ängste der Menschen über die Eskalationsgefahren des Krieges sind ebenso ernst zu nehmen wie ihre Besorgnis über die Folgen des Krieges auf unsere Lebensverhältnisse. Daher ist es allemal richtig, wenn wir uns für diplomatische Initiativen zur Beendigung des Krieges stark machen.
Machen wir uns nichts vor: Die Parteien, die an der Seite der Ukraine stehen, wandeln auf einem schmalen Grat: Wie weit soll die Solidarität gehen, welche Forderungen der Ukraine unterstützt man, welche nicht. Komplizierte Abwägungsprozesse sind zu treffen. Welche Risiken liegen in der unvermeidlich erscheinenden Spirale der Gewalt auf dem Kriegsschauplatz? Lässt sich die weitere Eskalation überhaupt stoppen? Was ist, wenn man die Gefahr einer nuklearen Konfrontation nicht ausschließen kann? Die Sorglosigkeit mit der Kalte Krieger hierzulande damit umgehen, ist selber besorgniserregend. Es ist insoweit verständlich, wenn sich Menschen zusammentun und dazu aufrufen, nach Möglichkeiten zu suchen, um die Waffen zum Schweigen zu bringen. Dies sie damit auch ein Gegengewicht zu den bellizistischen Meinungsmachern bilden, ist positiv zu bewerten. Das Drängen auf mehr diplomatische Bemühungen, das von den Protagonisten des neuen Kalten Krieges gerne per se niedergemacht wird, ist stattdessen überaus angebracht.
Allerdings ist der Hinweis darauf, dass der bloße Wunsch nach Frieden, nach Verhandlungslösungen nicht ausreichen wird, für mich zentral. Die Suche nach Auswegen wird rationale Erwägungen, wie der Frieden erreicht werden kann, einschließen müssen. Dabei wird man sich auch sine ira et studio darüber austauschen müssen, welche Akteure welche Ziele verfolgen und wie sie dazu gebracht werden können, ernsthaft das Ziel eines ausgehandelten Friedens zu verfolgen.
Dritte These: Eine Friedenspolitik, die glaubwürdig und plausibel sein will, muss sich an empirisch vorfindlicher Wirklichkeit (Fakten, Fakten, Fakten) orientieren und darf nicht der Propaganda des Aggressors auf den Leim gehen.
Leider trifft genau dies für Teile der Friedensbewegung und der Linken nicht mehr zu. Gemeint sind hier die kühnen Thesen, dass die Verursacher des Krieges, die Angreifer in Brüssel, Washington, Berlin sitzen und nicht in Moskau. Die hier zu konstatierende Täter-Opfer-Umkehr ist kontrafaktisch, widerspricht jeglicher Evidenz und ist moralisch verwerflich. Auch die Verwischung des Täter-Opfer-Verhältnisses – nach dem Motto „beide Seiten provozieren, eskalieren, sind schuld“ ist nicht viel besser. In beiden Fällen wird der Aggressor von der Schuld entlastet und in rosigeres Licht getaucht.
Kein Wunder, dass es hier eine verblüffende Parallelität und Kongruenz zwischen den Narrativen Putins und diesen Teilen der Friedensbewegung und der Linken gibt. Die Erzählungen gleichen sich im Kern: Die orangene Revolution in Kiew 2004 und der Euromaidan 2014 vom Westen gesteuert, die russische Minderheit in der Ostukraine brutal unterdrückt und gemordet, Nationalisten und Nazis in Kiew am Ruder, Russland durch die Ausdehnung von NATO und EU in eine ausweglose Ecke gedrückt. Genau dieses Bild hat am 9. Mai 2023 der russische Präsident auf dem Roten Platz bekräftigt: der Westen führe Krieg gegen Russland, dass sich verteidigen müsse.
Es ist schon verblüffend, welche Verbreitung diese Propaganda-Thesen hierzulande gefunden haben. Putins Reden, in denen er seine Ambitionen und sein Weltbild offenlegt, sind weitgehend unbekannt – oder werden nicht ernst genommen. Es bleibt dabei: Wladimir Putin hat die Entscheidung zum Krieg getroffen, niemand sonst. Er hatte auch keinen triftigen Grund im Sinne einer Notwehr loszuschlagen. Stattdessen dokumentiert seit längerem seine feste Absicht, die Ukraine zu unterwerfen, der er keine Eigenständigkeit zugestehen will und er beharrt darauf Teile dieses Landes zu annektieren. Daher sollten die Forderungen nach einem Ende der russischen Angriffshandlungen, nach dem Rückzug der Truppen von besetztem Territorium, der Rücknahme der völkerrechtswidrigen Annexionen zur conditio sine qua non konsequenter Friedenspolitik gehören. Leider gilt dies für viele Statements, Aufrufe, Demos von Friedensgruppen nicht.
Vierte These: Ohne Frage gehört seit den 1980er Jahren der Pazifismus zur Tradition der Linken. „Frieden schaffen ohne Waffen“, „Schwerter zu Pflugscharen“ waren Losungen, die die großen Bewegungen gegen Atomraketen prägten. Zugleich ist aber auch an die Tradition der internationalen Solidarität erinnern, die linke Bewegungen maßgeblich inspiriert hat. Dazu gehörte immer auch die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Kampf gegen koloniale, imperiale Regime.
Dass sich die Ukraine auf Artikel 51 der UN-Charta berufen kann, steht außer Frage. Selbstverteidigung, auch militärisch, ist danach legitim. Um den heutigen bewaffneten Widerstand der Ukrainer*innen verstehen zu können, ist überdies ein Blick in die Geschichte, die nicht erst 1991 oder 2004 beginnt, unverzichtbar. Ein grundlegendes Charakteristikum wird erkennbar. Es ist die erhebliche Verzögerung einer Nationalstaatsbildung, die mit den besonderen Gegebenheiten dieses zwischen verschiedenen Imperien umkämpften Raums zu tun hat. Dabei spielt das Verhältnis der Ukraine zum übermächtigen Nachbarn Russland eine überragende Rolle. Auch wenn es immer wieder Phasen des Miteinanders, der gemeinsamen Entwicklung gab, spielte ab 1990 immer stärker der Wille, die russische Vormachtstellung abzuschütteln und nach Jahrhunderten der Fremdbestimmung einen eigenen Weg gehen zu wollen, eine ausschlaggebende Rolle.
Neben den Zuspitzungen des „territorialen“ Konflikts mit der dominanten Russischen Föderation, die eine solche Loslösung nicht akzeptieren wollte, hat auch die Abgrenzung vom immer autoritärer regierten Russland dazu beigetragen, dass sich die Ukrainer*innen stärker nach Westen orientierten und dies mit dem Wunsch nach freiheitlicheren, gerechteren Verhältnisse verbinden. Dies zu leugnen und auf „westliche“ Einflussnahme zu verweisen, läuft auch darauf hinaus, die zunehmend totalitären Verhältnisse in der Russischen Föderation zu verniedlichen oder zu verdrängen.
Aus aufgeklärter Perspektive wird man sich mit dem stark ausgeprägten Nationalismus in der Ukraine kritisch auseinandersetzen. Aber schon ein gewisser Wladimir Iljitsch Lenin hat zwischen dem Nationalismus unterdrückter Nationen und dem Nationalismus von Staaten, die andere unterdrücken, grundsätzlich unterschieden. Dass es in diesem Prozess einer nachholenden Nationalstaatsbildung – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des brutalen russischen Angriffskrieges – eine nationale Mobilisierung gibt, ist vermutlich unvermeidlich. Dass sich dies auch in der Stärke rechter Strömungen ausdrückt, die einen Stephan Bandera verherrlichen (der mit den Nazis kollaborierte und für die Ermordung zehntausender Juden mitverantwortlich war), darf uns in der Tat überhaupt nicht gefallen. Aber hat die Ukraine damit ihr Selbstverteidigungsrecht gemäß Völkerrecht verwirkt? Gilt unsere Solidarität nur den Völkern und Staaten, die ausreichend „links“ genug sind und unseren Ansprüchen genügen? Stellen wir damit nicht internationales Recht und das Recht auf Selbstbestimmung ebenso zur Disposition wie dies imperialistische Staatenlenker tun?
Eine wichtige Konsequenz ist allerdings aus der kritischen Sicht auf die Ukraine zu ziehen: Umso wichtiger ist es, demokratische, linke und kritisch-oppositionelle Gruppen in der Ukraine zu unterstützen, die im Ringen um mehr demokratische und gewerkschaftliche Rechte, bei der Überwindung der Oligarchenherrschaft einen schweren Stand haben. Das ist internationale Solidarität!
Fünfte These: Eine Linke, die sich in antifaschistisch-demokratischer Tradition sieht, wird unmissverständlich Position gegen das autoritäre Putin-Regime und dessen aggressive Außenpolitik beziehen müssen. Dabei ist die genauere Analyse der heutigen Machtverhältnisse in der Russischen Föderation unerlässliche Voraussetzung.
Es ist schon auffallend, dass in zahllosen Texten, Aufrufen, Kommentaren aus der Friedensbewegung oder linker Gruppen, vom Beginn des Krieges bis heute (!), eine Analyse der russischen Machtverhältnisse, der ideologischen Grundlagen und der internationalen Ambitionen des Regimes, äußerst blass bleibt – wenn eine Kritik der Macht des Kreml überhaupt thematisiert wurde. Putins Reden, in denen spätestens seit 2021 seine Absichten und Ziele offengelegt wurden, blieben überwiegend unbekannt, oder sie wurden als bloß-propagandistisch abgewertet.
Provokativ gefragt: Liegt darin nicht eine Parallele zu der Appeasement-Bewegung der 1930er Jahre (die zu maximalem Entgegenkommen gegenüber Hitler bereit war, um den „großen Krieg“ zu verhindern – eine löbliche Absicht, die aber krachend scheiterte), die Hitlers „Mein Kampf“ verleugnet oder als prahlerisch-marktschreierisch bagatellisiert hat? Über den militärisch-industriellen Komplex, über die entscheidende Bedeutung der fossilen Energiekonzerne, über die Rolle der Geheimdienst-Netzwerke, denen Putin seine Macht verdankt, las man wenig. Dabei liegt auf der Hand, dass der Putin`sche Krieg ohne die Einnahmen aus den Erdöl-, Gas- und Rüstungsexporten undenkbar gewesen wäre.
Für diese sträflich vernachlässigte Beschäftigung mit dem ultrareaktionären Charakter des Putin-Regimes wurde zu Recht ein „Russland-Komplex“ (den Begriff prägte Gerd Koenen, sein gleichnamiges Buch wurde kürzlich in erweiterter Form neu aufgelegt), der besonders unter Linken verbreitet ist, verantwortlich gemacht. Es geht um die Verklärung der Oktoberrevolution, der Sowjetunion, aber auch um die verinnerlichte deutsche Schuld am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Verständigung und Versöhnung waren völlig zu Recht die Hauptmotive auch im deutsch-russischen Verhältnis. Nur leider hat dies dazu beigetragen, dass der Blick auf ein immer totalitärer werdendes Russland und die daraus erwachsenden Gefahren getrübt wurde.
Inzwischen wissen wir glücklicherweise sehr viel mehr über das heutige Russland, können die Dinge aber auch viel besser in lange Linien der Geschichte einordnen. Dazu hat die Osteuropa- und Russlandforschung inzwischen ausreichend Material vorgelegt. Dazu nur vier Literaturempfehlungen:
- Felix Jaitner, Von autoritären Umbrüchen bis zum Krieg, Zeitschrift Z, Nr. 130/2022.
- Klaus M. Schlichte, Zur politischen Soziologie des Angriffskrieges, in: Leviathan 3/2022.
- Klaus Dörre, Der Krieg gegen die Ukraine und der Kampf um eine neue Weltordnung, in: Das Argument 340, Berlin 2023.
- Raul Sanchez Cedillo, Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine, Wien 2023.
Dort kann man nachlesen, auf welcher Klassenstruktur und sich daraus ergebenden Machtkonstellationen das Putin-Regime aufbaut, welche totalitären Entwicklungen sich seit der zweiten Präsidentschaft Putins 2011/2012 daraus entwickelt haben und zugleich von welcher Gedankenwelt sich Putin und seine Gefolgschaft leiten lassen. Besonders prägnant wird dabei herausgearbeitet, dass der Aufstieg Putins natürlich ohne die Traumata des Zusammenbruchs der UdSSR und des Niedergangs des Jelzin-Jahrzehnts nicht vorstellbar ist. Zugleich konstatieren die Autoren, dass die entscheidende Triebkraft der Putin‘schen Führungsclique, die Idee ist, dass global gesehen auf einen semi-peripheren Status abgesackte russische Reich zu neuer weltpolitischer Größe zu führen.
„Russki Mir“ ist dabei das Schlüsselwort, ein „russländisches Friedensreich“, zu dem die Staaten des postsowjetischen Raumes kategorisch dazu gehören. Die Wiederherstellung der globalen Führungsrolle will Putin im Bündnis mit China und der Staatengruppe BRICS erreichen. Man inszeniert sich in diesem Kontext als antikolonialistische Macht, die mit den „nicht-westlichen“ Ländern im Gefolge die globale Vorherrschaft der USA brechen will. Auch die Förderung ultrarechter Gruppen in Europa und anderswo gehört dazu, um die kapitalistisch-demokratische Staatenwelt zu destabilisieren. Vor einer Ausweitung des Machtbereichs mit militärischen Mitteln schreckt man nicht zurück.
Ein solches Regime ist eine regionale Bedrohung und auch global gefährlich und man wird diesem Regime Schranken setzen müssen. Davor die Augen zu verschließen oder lediglich russische „Sicherheitsinteressen“, ins Spiel zu bringen, die man verstehen müsse, ist kontraproduktiv, weil anti-aufklärerisch, und darüber hinaus brandgefährlich. Wenn man die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung ernst nimmt, wird man daher nicht bei der Aufforderung zur Diplomatie stehen bleiben können. Ohne Druck auf den Kreml auf den verschiedenen Ebenen – militärisch, wirtschaftlich, politisch – wird es keinen Friedensprozess geben. Dies führt zum nächsten Punkt:
Sechste These: Wir brauchen klare Vorstellungen darüber, wie in dem vorliegenden Fall überhaupt ein Frieden zu erreichen ist. Die Unterwerfung des angegriffenen Staates ist dabei keine Option, weil sie zu mehr Gewalt, zu mehr Unfriede führen wird.
Jürgen Habermas hat in seinen Reflexionen über den Krieg, in denen er mehr Sorgfalt und mehr Diplomatie anmahnt, den entscheidenden Satz geprägt: „Die Ukraine darf nicht verlieren, Russland nicht gewinnen.“ Wenn diese Maßgabe stimmt, worüber man durchaus streiten kann, dann gilt es, diese Prämisse ohne ideologische Scheuklappen durchzubuchstabieren. Dann wird man sehr schnell und zweifelsfrei zu dem Schluss kommen: Ohne auswärtige Militärhilfe ist der ukrainische Verteidigungskampf binnen kurzer Zeit am Ende. Sie wird kapitulieren müssen. Diese Annahme ist nicht zu widerlegen und es hat auch noch niemand ernsthaft versucht. Es ist einfach so. Dies führt unweigerlich zu dem Schluss, dass die Anwendung von Gewalt als Notwehr und Nothilfe, die für uns immer nur als ultima ratio akzeptabel ist, kein Tabu sein darf – wenn wir Frieden nicht nur wünschen, sondern auch verwirklichen wollen.
„Verhandeln heißt nicht kapitulieren“, steht im Schwarzer/Wagenknecht-Manifest. Das stimmt ohne Frage. Aber wenn der ukrainische Staat de facto nicht mehr existieren würde, gibt es keine Verhandlungen. Dieser Einsicht verschließen sich nicht nur die beiden Autor*innen. Es ist der Grundzug zahlloser Debattenbeiträge und Wortmeldungen in den Diskussionsrunden, die ich verfolgen könnte bzw. selbst beteiligt war, dass man an dieser Stelle auf andere Fragestellungen bzw. auf Ereignisse im Windschatten des Krieges ausweicht: Die Rüstungsgewinne bei Rheinmetall, die Gefahr des Sozialabbaus, die Stärkung der NATO usw. Nur hilft dieses Ausweichen nicht weiter. Die Frage, wie man überhaupt zu Verhandlungen kommt, muss auch von Friedensforschung und Friedensbewegung beantwortet werden!
Wenn der Schluss, der aus der militärischen Lage meines Erachtens zwingend ableitbar ist, dass die Ukraine sich ohne Militärhilfe ergeben muss, richtig ist, dann gibt es drei Verhaltensmöglichkeiten:
a) Man muss alles was nach Vernunftüberlegungen möglich ist, tun, um einen solchen Diktat- oder Unterwerfungsfrieden zu verhindern.
b) Man hofft darauf, dass dann Putin gnädig einlenkt und einen Kompromiss auf dem Verhandlungsweg ansteuert.
c) man setzt darauf, dass die Ukrainer*innen nach der Kapitulation in einem langwierigen zivilen Widerstand die Besatzungsmacht schließlich dazu bringt abzurücken, weil die Kosten in keinem Verhältnis mehr zum Nutzen stehen.
Dazu ist zu sagen: Die Variante a) soll nicht zuletzt deshalb verfolgt werden, weil man im anderen Fall den Aggressor belohnt und vermutlich noch kühner macht. Ein stabiler Friede wäre auf diesem Weg nicht zu erreichen.
Dass die Variante b) greifen könnte, erscheint als pure Illusion. Nicht einmal der freiwillige Rückzug auf die sogenannte Kontaktlinie im Donbas (wie im Minsk-II-Abkommen festgelegt) ist nach den vollzogenen Annexionen und den russischen Landgewinnen vorstellbar. Auch an dieser Stelle weichen die Befürworter einer Waffenstillstandslösung durch Aufgabe des Widerstandes auf Allgemeinplätze aus. Ich bin aber gegen Vernebelung und dafür, den Menschen reinen Wein auszuschenken.
Über c) kann man durchaus diskutieren. In vielen Fällen kriegerischer Aggression wird gar nichts anderes als diese pazifistische Option zur Verfügung stehen. Die Ukrainer*innen haben sich aber dazu entschieden – Bertolt Brecht hat den Pariser Kommunarden das Wort in den Mund gelegt, „in Erwägung unserer Schwäche (…) haben wir beschlossen unser schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod“ – für ihre Freiheitsrechte und ihre Unabhängigkeit zu kämpfen. Ist es nicht reichlich anmaßend, ihnen das aus sicherer Entfernung ausreden zu wollen?
Es ist und bleibt ein unauflöslicher Widerspruch, Solidarität mit der Ukraine zu postulieren, dem Land aber die Mittel zu verweigern, die es zu seiner Verteidigung braucht.
Siebte These: Wenn wir nicht einen spannungsgeladenen Zustand wollen, der immer wieder zu Rüstungsrunden und kriegerischen Zusammenstößen in der Region und darüber hinaus führt, brauchen wir am Ende des Tages eine stabile und gerechte Friedenslösung. Die Grundlage dafür ist in der Charta der Vereinen Nationen und dem Völkerrecht zu finden.
Oberster Grundsatz der Vereinten Nationen ist das Verbot der Gewalt in den internationalen Beziehungen, weil man den Krieg ein für allemal ächten will. Zugleich war man bei der Gründung der UNO realistisch genug, um sicherzustellen, dass die UN einschreiten darf, wenn gegen dieses Gebot verstoßen wird. Und Staaten, die angegriffen werden, räumte man in der Charta, Artikel 51, das Recht auf Selbstverteidigung ein. Die Charta war insofern von der Erfahrung mit dem Hitlerfaschismus geprägt: Diktatoren, die nach gewaltsamer Ausdehnung ihrer Herrschaft streben, lassen sich nicht mit Worten aufhalten, ihnen muss entgegengetreten werden. Gleichzeitig muss alles getan werden, um ein rasches Ende der Gewalt herbeizuführen und einen ausgehandelten Friedensschluss zu erreichen.
Womit wir gegenwärtig konfrontiert sind, ist möglicherweise ein noch länger dauernder, extrem opferreicher Abnutzungskrieg. Eine sogenannte Kaschmir-Lösung des Konflikts ist nicht auszuschließen. Darunter ist zu verstehen, dass die territorialen Grenzen umstritten bleiben, auf beiden Seiten das Streben nach Änderung des Status Quo überwiegt, die Lage durch ständige Reibungen und Scharmützel fragil bleibt. Eine solche Lage können wir nicht wollen. Dies würde auch für den Fall eines „faulen“ Kompromisses gelten, der die Lösung in einer territorialen Aufteilung sucht. Basis eines stabilen Friedens ist stattdessen das Völkerrecht und dessen strikte Respektierung. Dies werden wir im Übrigen ja auch immer gegen (westliche) Aggressionen oder Gewaltakte vorbringen – ob im Kosovo, in Rojava, oder anderswo.
Die Erzwingung von Landnahmen und / oder politischer Botmäßigkeit mit Waffengewalt ist unzulässig und darf nicht akzeptiert werden. Daher ist man gut beraten, wenn man sich zunächst auf die drei Entschließungen der UN-Generalversammlung bezieht, die nicht zwingend die Vorbedingung für Verhandlungen sind, die aber doch die Grundlage für eine Nachkriegsordnung sein sollten. Es geht um eine gerechte Lösung, die nicht zu weiteren Aggressionen und Völkerrechtsbrüchen anstachelt. Die heute in Teilen der Friedensbewegung verbreitete Formel „Kompromissfrieden“ ist in diesem Kontext überaus verdächtig. Es klingt danach, dass sich die zwei Seiten „vorbehaltlos“ zusammensetzen sollen und dann eine Einigung auch in den besonders strittigen territorialen Fragen finden sollten. Soll der Ukraine also abverlangt werden, dass sie einen Teil ihres Landes abzugeben hat – Donbass, Krim – und dafür die Moskauer Truppen abziehen? Soll Moskau ein Vetorecht über die Außenpolitik des Nachbarlandes bekommen – womit das Selbstbestimmungsrecht nach UN-Charta ausgehebelt wäre?
Auch die gerade in friedenspolitisch engagierten Kreisen verbreitete Vorstellung, man müsse jetzt der Ukraine eine Brückenfunktion zwischen Ost und West (NATO vs. Russland) übertragen und daher ihren Neutralitätsstatus wiederherstellen, scheint aus der Zeit gefallen. Dass diese Idee nach 1990 viel Vernünftiges enthielt, ist nicht in Abrede zu stellen. Inzwischen gilt, dass die ukrainische Bevölkerung eine solche Rolle als Pufferzone nicht einnehmen möchte. Man kann es ihr auch nicht aufzwingen. Putin hat mit der klaren Absicht, Teile des Landes zu annektieren und die Ukraine in weitere Abhängigkeit zu zwingen, diese Vorstellung zerstört. Die Ukraine wehrt sich dagegen und will Garantien haben, dass dies nie wieder passiert. Und dafür sucht sie die Anlehnung an die westliche Staatengemeinschaft. Ob sie vor dem Hintergrund der langen gemeinsamen Geschichte mit Russland in ferner Zukunft in der Lage sein könnte, Vermittlungsdienste zu leisten, steht in den Sternen. Dies gegenwärtig einzufordern, ist an der Wirklichkeit vorbei gedacht.
Was im Einzelnen verhandelt wird, mit welchem Ergebnis, ist nicht prognostizierbar und auch nicht von außen dekretierbar. Das Entgegenkommen gegenüber Russland sollte sich aber auf zwei Dinge konzentrieren: Die Verringerung der militärischen Gefahrenquellen (Obergrenzen für die Streitkräfte, Stationierungsregeln für Raketen, VBMs) und Angebote zur Kooperation nach dem Krieg, was sich v.a. auf die Hilfe beim ökologischen Transformationsprozess beziehen sollte.
Achte These: Das Nachdenken über eine stabile und kooperative Nachkriegsordnung ist schon heute geboten und darauf gerichtete Vorschläge sollten ein wichtiger Anreiz für die Einleitung eines globalen Friedensprozesses sein.
Aus NATO-Kreisen wird gerne verlautbart, man dürfe jetzt nicht über die Zukunft einer Nachkriegsordnung spekulieren und dabei der russischen Seite Entgegenkommen signalisieren, da man sonst die Machthaber im Kreml ermutige, weiter zu machen. Dem ist energisch zu widersprechen. Im Gegenteil scheint richtig, dass die Erörterung der Friedensperspektiven ein wichtiger Teil ist, um überhaupt einen Verhandlungsfrieden erreichbar zu machen. Es geht nicht zuletzt um Signale an die russische Gesellschaft, die Druck im Innern Russlands für ein Ende des schändlichen Krieges aufbauen sollte. Auch für Teile der russischen Oligarchen gilt bspw., dass sie großes Interesse an der Beseitigung der Sanktionen haben und gerne mit Hilfe westlicher Technologien und Unternehmen die Modernisierung und den Umbau der eigenen Wirtschaft voranbringen möchten. Dasselbe gilt für die jüngere, städtische Generation, die als Fachkräfte benötigt werden. Daher sollte es ein vorrangiges Anliegen sein, Frieden dadurch attraktiv zu machen, indem man die Aufhebung der Sanktionen und neue Kooperationsbeziehungen verbindlich in Aussicht stellt, falls Russland seine Aggression beendet.
Es geht aber um mehr: Die Einleitung einer anderen Politik gegenüber den Entwicklungsländen des Südens ist nicht nur eine globale Notwendigkeit, um die Zukunft des Planeten zu sichern. Dabei geht es nicht zuletzt darum, die Politik doppelter Standards zu beenden und konsequent auf die Förderung nachhaltiger Entwicklung zu setzen. Eine solche neue Politik ist schon heute geboten, um den Druck auf Moskau erheblich zu erhöhen. Die Gruppe der Staaten, die bislang den Krieg Moskaus nicht eindeutig verurteilen, die ein gewisses Verständnis für die russische Position, die sich an Sanktionen unter keinen Umständen beteiligen wollen, ist groß (und umfasst über die Hälfte der Menschheit). Solange dies so ist, kann sich das Putin-Regime ermutigt fühlen, weiter zu machen. Eine neue Politik gegenüber dem Globalen Süden wird nicht über Nacht verwirklicht werden können; erste Schritte sind dennoch unverzüglich einzuleiten. Eine neue Entschuldungsinitiative oder Aktionen zur Neuordnung des Weltfinanzsystems (globaler Solidaritätsfonds etc.) wären dabei sehr hilfreich. Solange die EU aber nur über eine verstärkte Migrationsabwehr nachdenkt und den Staaten, die in der UNO nicht mitziehen, schulmeisterliche Vorhaltungen macht, wird es nichts werden.
Schließlich sind Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, dass zur Vorgeschichte des Krieges auch die Erosion globaler Rüstungskontroll- und Abrüstungsregime gehört. Gerade NATO und EU sind aufgerufen, ihre Fixierung auf Hochrüstung und endlose Rüstungsmodernisierung aufzugeben und Vorschläge für eine Politik der Entmilitarisierung unter dem Dach der UNO zu entwickeln. Dabei stehen an erster Stelle die nuklearen Massenvernichtungswaffen, deren vollständige Beseitigung auf die Tagesordnung gesetzt werden muss. Die Drohungen von Putin, Lawrow, Medwedjew und Co. mit dem Einsatz dieser Terrorwaffen im laufenden Krieg haben noch einmal klar gemacht, wie dringlich der von der UN-Generalversammlung angenommene Vertrag über die Vernichtung dieser Arsenale ist.
Neuverhandlungen über die strategischen Potenziale (New START), die Wiederauflage eines Abkommens über Mittelstreckenwaffen (INF), neue Vereinbarungen, um den Ersteinsatz dieser Waffen auszuschließen. könnten Schritte auf diesem Weg sein. Der bereits begonnene Wettlauf in neuen Bereichen (Weltraumrüstung) und bei autonomen Waffen bedarf dringend strikter Regulierung bzw. klarer Verbotsregeln. Aber auch im Bereich konventioneller Waffen sind Neuüberlegungen und neue diplomatische Bemühungen dringlich angesagt, um die neue Rüstungsspirale zu beenden und umzukehren. Am Ende könnte beispielsweise ein neuer Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE II) stehen, der Waffenbestände stärker limitiert und an dem Prinzip „struktureller Nichtangriffsfähigkeit“ orientiert ist.
Unmittelbar nach dem Krieg sollten Verhandlungen darüber aufgenommen werden, wie wieder größtmögliche Transparenz über die jeweiligen Rüstungen zwischen den wichtigen Akteuren hergestellt werden kann (Open Skies, Meldepflichten, Inspektionsregeln) und welche vertrauensbildenden Maßnahmen auf den Weg gebracht werden sollten (Manöverbegrenzungen, Informationsaustausch, Krisenmechanismen, Feindbildabbau etc.).
Paul Schäfer, Köln
Der Essay beruht auf einem Vortrag des Autors während einer Diskussionsveranstaltung in der Universität Bonn am 10. Mai 2023. Paul Schäfer (*1949) ist Diplom-Soziologe, war unter anderem wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Katrin Fuchs (SPD) und Gerhard Zwerenz (PDS), 2003 bis 2007 mit Ulrike Detjen Landesvorsitzender der PDS NRW, von 2005 bis 2013 Abgeordneter im Deutschen Bundestag für die Linke, für die er dort als Obmann im Verteidigungsausschuss und als verteidigungs- und abrüstungspolitischer Sprecher tätig war. Er arbeitet seit seinem Ausscheiden aus dem Bundestag als Publizist mit Beiträgen unter anderem in „Blätter für deutsche und internationale Politik“, zuletzt im April 2023 mit dem Essay „Die Johnson-Legende“. Er ist unter anderem Mitherausgeber der Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“. Weitere Informationen auf seiner Internetseite.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2023, Internetzugriffe zuletzt am 23. Mai 2023, Titelbild: Hans Peter Schaefer, aus der Serie „Deciphering Photographs“.)