Deutsche Einheit in Europa – für Europa

Markus Meckels Festrede vom 3. Oktober 2022 im Dom zu Brandenburg

„Belarus und die Ukraine sind eine europäische Herausforderung. Wir müssen deutlich machen, dass wir an der Seite der Demokratiebewegung stehen.“ (Markus Meckel am 29. März 2006 im Deutschen Bundestag, in: Markus Meckel, Zeitansagen – Texte und Reden aus zwei Jahrzehnten, hg. Von Katharina Abels, Stuttgart, ibidem Verlag, 2019).

Demokratie und Freiheit – das ist der Kompass unserer gemeinsamen europäischen Zukunft. Deutsche haben aufgrund der Erfahrungen in ihrer Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber den Ländern, in denen Demokratie und Freiheit bedroht sind. Dieses Thema zieht sich leitmotivisch durch Reden und Vorträge von Markus Meckel.

Markus Meckel am 3. Oktober 2022 im Dom zu Brandenburg

Am 3. Oktober 2022 hielt Markus Meckel im Dom zu Brandenburg die Festrede zum Tag der Deutschen Einheit, die wir im Demokratischen Salon dokumentieren dürfen. Er spricht aus seiner Erfahrung als einer der Gründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, als Außenminister der ersten und einzigen demokratischen Regierung der DDR sowie seiner langjährigen Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag. Seine Autobiographie veröffentlichte er unter dem Titel „Zu wandeln die Zeiten – Erinnerungen“ im Jahr 2020 in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig. Im August 2022 dokumentierte der Demokratische Salon Gespräche mit Markus Meckel, in denen wir über sein kirchliches, sein politisches und sein publizistisches Wirken gesprochen haben, auch ausführlich über die Autobiographie.

Markus Meckel engagiert sich für Demokratie und Freiheit, gerade auch in Ländern des postsowjetischen Raums. Er war erst kürzlich einer der Initiatoren eines Aufrufs von Wissenschaftler*innen, Kulturschaffenden und vielen weiteren Personen des öffentlichen Lebens gegen die drohende Vernichtung des armenischen Kulturerbes in Bergkarabach. Hintergrund war eine Konferenz zum Thema „Das kulturelle Erbe von Arzach“ an der Staatlichen Universität von Jerewan und in der Diözese der Armenisch-Apostolischen Kirche von Vayots Dzor (Armenien) im Juli 2022.

Das wunderbare Jahr 1989/1990

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte mich herzlich bedanken für die Einladung heute und hier zu Ihnen zu diesem Jahrestag zu reden. Mit diesem Dom verbindet mich viel – mein Großvater mütterlicherseits, Hans Schatz, ist hier ganz in der Nähe geboren in St. Petri 1 geboren, sein Vater besaß hier Anfang des letzten Jahrhunderts eine Mühle. Und dann die Urlaube in Kindheit und Jugend im nahen Mötzow. Familie Jagdhuhn, mit dem Vater eng befreundet, war in Brandenburg eine wichtige Anlaufstelle. Das ist unvergesslich. Und nun darf ich hier zu Ihnen reden.

Wir erinnern heute an das Erlangen der Deutschen Einheit, an das wunderbare Jahr 1989/1990. Vor mehr als 30 Jahren, vollendete sich auf unvorhergesehen glückliche Weise eine über fast zwei Jahrhunderte erstreckende Geschichte – das Streben nach Freiheit und Einheit in Deutschland. Ja, ich denke, dass dieses Jahr 1989/90 die Glücksstunde der Deutschen im 20. Jahrhundert ist. Nach all den Schrecken, die wir Deutschen im Zweiten Weltkrieg über ganz Europa (und darüber hinaus) gebracht haben, konnten wir uns in Freiheit vereinen, mit der Akzeptanz all unserer Nachbarn und der Siegermächte des Krieges. Ich jedenfalls hätte das noch kurz vorher nicht zu träumen gewagt.

Den Älteren unter uns wird es ähnlich gehen wie mir, die Erinnerung an diese Zeit ist noch sehr wach – und ist bewegend, wobei die Gefühle dabei durchaus sehr unterschiedlich sein können. Für die Jüngeren – und diese sind heute die tragende, die Zukunft gestaltende Generation – ist es bestenfalls Kindheitserinnerung, für viele die graue Vorzeit – wie für mich in der Kindheit der Zweite Weltkrieg.

Es ist gut, dass in den letzten Jahren auch differenzierter über diese Zeit gesprochen wird und die sehr unterschiedlichen Erfahrungen zur Sprache kommen, und auch über die Jahre danach mit all ihren Umbrüchen, die für viele nicht leicht waren.

Die Zeitenwende 1989/1990 – ein Systemwechsel

Bis heute jedoch mache ich eine sehr grundlegende Erfahrung: Für diejenigen, die im Westen aufgewachsen sind, geht die deutsche Geschichte bis 1945 gemeinsam und dann wieder ab 1990. Dazwischen ereignete sich deutsche Geschichte im Westen – die DDR gilt dagegen als eine Sondergeschichte, die nicht zur Erzählung gehört, sie ist etwas für Betroffene und Spezialisten. Dabei geht jedoch völlig unter, dass die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts für Deutschland eben eine geteilte Nachkriegsgeschichte war, in der BEIDE deutsche Staaten jeweils ohne den Bezug auf den anderen nicht wirklich verstanden werden können. Das ist uns im Osten bis heute viel stärker bewusst als im Westen – und es zu lernen, bis heute eine zentrale Aufgabe.

Unmittelbar nach Beginn des Krieges, des Überfall Russlands auf die Ukraine, sprach Kanzler Olaf Scholz von der Zeitenwende. Er hat Recht, glaube ich, und er selbst wie wir alle müssen noch durchbuchstabieren, was das alles für uns bedeutet. Deutlich ist jedenfalls, dass es um einen grundlegenden Politikwechsel geht – und uns dies vor größte Herausforderungen stellt. Ich komme darauf zurück.

Trotzdem glaube ich, dass 1989/90 Grundlegenderes geschah – die damalige Zeitenwende war nicht nur ein Politik-, sondern ein Systemwechsel. Nur eben nicht für alle. Der Bruch im Osten war grundlegend, für jeden war das Vorher und Nachher anders. Im Westen unseres Landes, wo man lange dachte, nur im Osten müsste man sich ändern, merkte man erst langsam, dass sich auch dort Veränderungen vollzogen und Deutschland insgesamt vor ungeheuren Herausforderungen stand.

Bis heute haben wir auch noch keine gemeinsame Erzählung über dieses grundlegende Ereignis der Einheit gefunden. Für mich geht es hier um eine zwischen zwei demokratischen deutschen Staaten verhandelte Einheit – und ich halte das für grundlegend. Die DDR ist nicht untergegangen, sie hat sich demokratisiert! Die kommunistische Diktatur in der DDR ist von einer Friedlichen Revolution hinweggefegt worden, mit der freien Wahl wurde eine demokratisch legitimierte Regierung geschaffen, welche die Einheit – dem Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung folgend – verhandelt hat, mit der Bundesregierung und international. Mit dieser Erzählung sind die Ostdeutschen Subjekt dieses Prozesses – und nicht Objekt.

Gewiss ist dann auch darüber zu erzählen, was in diesen Verhandlungen – und danach passiert ist. Und da war nicht alles schön und schon gar nicht leicht.

Gleichzeitig ist deutlich, dass viele DDR-Bürger die Verhandlungen, die in ihrem Interesse geführt wurden, gar nicht wollten und nur für Verzögerung der Einheit hielten – und damit die Position nicht gerade erleichterten.

Es war nicht nur ein deutsches Jahr

Damals wurde viel über die Verfassung diskutiert, erst über eine neue DDR-Verfassung am Runden Tisch, dann um das Grundgesetz und seine mögliche Veränderung im Zuge der Vereinigung. Ich war dafür eingetreten, dass wir diesen Prozess gemeinsam vollziehen sollten – aus sehr grundsätzlichen Gründen. Inzwischen sind viele Jahre vergangen. 2019 begingen wir gemeinsam den 70. Jahrestag des Grundgesetzes – das hieß: auch wir Ostdeutschen haben nun schon mehr als 30 Jahre Erfahrungen mit dem Grundgesetz gemacht. Und ich finde: keine schlechte. Ich jedenfalls möchte mit keinem mir bekannten Land die Verfassung tauschen! Gerade vor diesem Hintergrund frage ich mich, wozu wir dann noch Art. 146 des Grundgesetzes brauchen, der es zu einem vorläufigen macht. Ich bin dafür, dass wir diesen Artikel streichen und das Grundgesetz zu unserer Verfassung machen. Und wenn in diesem Zuge auch noch Änderungen vollzogen werden, wie die Garantie von Kinderrechten, wie sie die vergangene Große Koalition vorhatte, muss das kein Schaden sein. Ich fände es gar nicht schlecht, wenn Ostdeutsche dafür die Initiative ergreifen. Aber vielleicht kann man auch den Bundespräsidenten dafür gewinnen, der früher hier ja seinen Wahlkreis hatte.

Das wunderbare Jahr 1989/90 war nicht nur ein deutsches Jahr! Die Friedliche Revolution war Teil einer mitteleuropäischen Revolution. Der Fall der Mauer am 9. November 1989 wurde gewissermaßen zu ihrem gemeinsamen, weltweit gefeierten Symbol (so wie der Sturm auf die Bastille 1789 für die Französische Revolution!). Deshalb sollten bei jeder Feier dieses Tages eben auch Polen, Ungarn, Tschechen und Slovaken zu den selbstverständlichen Gästen gehören – denn es ist unsere gemeinsame Geschichte!

Für mich ist es heute deshalb besonders erschütternd, dass die Polen und Ungarn, mit denen wir 1989 Freiheit und Demokratie erkämpften, sich heute innerhalb der EU in einem anderen Lager wiederfinden, im Lager derer, die unsere demokratische Ordnung infrage stellen. Dabei müssten wir alle, die Kommunismus erlebt haben, doch wissen, welch ein Wert es ausmacht, unabhängige Gerichte zu haben, eine Verfassung, deren Bestimmungen man einklagen kann. Oder eine freie und unabhängige Presse, eine aktive Zivilgesellschaft, die der Politik Beine macht. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass es auch bei uns gesellschaftliche Kräfte, die ganz ähnlich denken und offensichtlich vergessen haben, was die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft sind – ich denke nur an Pegida und die AfD, die in ihrem Denken den Herren Kaczyński und Orbán nicht so fern sind. Stellen Sie sich nur einmal vor, welche Regierung wir heute hätten, wenn auf dem Gebiet der DDR ein selbständiger deutscher Staat bestünde (wie manche es 1989 für besser hielten). Mich überkommt hier das kalte Grausen.

Dabei sind es ja nicht nur diese östlichen, südöstlichen Nachbarn, die die Grundlagen der EU anfragen. Schauen wir uns Frau Le Pen in Frankreich oder die jüngsten Wahlergebnisse in Schweden und Italien an – das muss uns nachdenklich machen.

Für die Freiheit der Menschen

Bei den Menschen herrscht große Verunsicherung. Das muss man ernstnehmen. Aber nicht, indem man solchen Anfragen folgt und Umfragen zur Orientierung nimmt, sondern durch Gutes Regieren, die Bereitschaft zu Kompromissen in der politischen Entscheidungsfindung und die Geschlossenheit in der EU. Politik braucht das öffentliche Erklären des eigenen politischen Handelns durch die Regierenden, das begründende Darstellen der Zusammenhänge – und nicht das Schönreden der Realität, als ginge es um Werbung für ein Putzmittel. Wir sollten viel mehr deutlich machen – und zugeben, dass auch Politiker suchende Menschen sind, die manchmal auch überfordert sind, wo es plötzlich neue Herausforderungen gibt. Deshalb ist die öffentliche Debatte so wichtig – wobei natürlich auch kritische Fragen legitim sind und der Streit um die besten Lösungen öffentlich auszutragen ist. Aber eben nicht Herabwürdigung des jeweils anderen!

Wir erleben – und nicht nur in Deutschland – die Gefahr des Zerfallens der Gesellschaft in verschiedene Gruppen, die nicht mehr miteinander kommunizieren. Hier spielen auch die sozialen Medien eine Rolle. Allzu oft erleben wir, dass die eigene Position als absolut dargestellt wird – auch weil das öffentliche Miteinanderreden zu wenig stattfindet und viele „dem anderen“ gar nicht mehr persönlich begegnen.

Auch vor diesem Hintergrund unterstütze ich die allgemeine Dienstpflicht, die jetzt wieder vom Bundespräsidenten vorgeschlagen wurde. Dabei sollte es dann eine Wahlfreiheit geben, ob man einen sozialen Dienst machen möchte, im Umweltbereich, bei der Katastrophenhilfe, in der Entwicklungszusammenarbeit oder bei der Bundeswehr. Hier würden die jungen Menschen, die nach der Schulzeit heute oft sowieso eine Orientierungsphase einlegen, Alterskameraden aus ganz anderen sozialen Zusammenhängen kennenlernen und ein Stück weit mit ihnen zusammenleben. Gleichzeitig wäre es ein Dienst an der Gemeinschaft, der den Zusammenhalt der Gesellschaft fördert. Die auf uns zukommenden großen Herausforderungen gehören in die Verantwortung aller Bürger. Und hier gilt, was J.F. Kennedy schon vor Jahrzehnten bei seiner Rede zum Amtsantritt sagte:

„Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, sondern was ihr für euer Land tun könnt!“ Und er fügte übrigens – an die internationale Gemeinschaft gerichtet – hinzu: „Fragt nicht, was Amerika für euch tun wird, sondern fragt, was wir gemeinsam tun können für die Freiheit der Menschen.“

Der Freiheitskampf in der Ukraine

Wie ein Volk in Zeiten der Not und Bedrohung zusammenwächst, können wir heute in der Ukraine erleben. Der Überfall Russlands auf die Ukraine, der ja zum Ziel hat, sie als Nation auszulöschen und nicht nur ein Stück Land zu erobern, hat zur Folge, dass die Identifikation mit diesem Land, mit diesem Staat und seiner Unabhängigkeit in der Gesellschaft so groß ist, wie in den drei Jahrzehnten seiner Unabhängigkeit noch nie. Offensichtlich hat Putin seiner eigenen Ideologie geglaubt und gehofft, dass die russisch sprechenden Ukrainer im Osten die russische Armee als Befreier begrüßen würden. Das war mitnichten der Fall. Hier kämpft ein Volk – und nicht nur eine Armee! – um seine Freiheit und Unabhängigkeit, ein Volk, das sich an der Europäischen Union orientiert und dessen Werten verbunden und verpflichtet fühlt.

In meinen Augen müssen wir alles, aber auch wirklich alles, was uns möglich und was hilfreich und sinnvoll ist, zur Unterstützung der Ukraine tun, und ihnen auch Kampfpanzer und dergleichen geben, denn sie verteidigen nicht nur sich, sondern auch uns und unsere gemeinsamen Werte.

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist zu einem Weckruf geworden, in dem wir unsere Orientierungsrahmen sehr schnell neu ordnen mussten und müssen. Wir alle müssen erst so nach und nach verstehen, was das in den einzelnen Bereichen unserer Gesellschaft und der Politik konkret bedeutet und uns darauf verständigen, wie wir den großen Herausforderungen begegnen wollen und können. Das gilt für jede Nation für sich – und da können wir voneinander lernen, ein Blick über die Grenzen lohnt sich auch hier, wie schon in der Coronakrise. Das gilt aber vor allem für uns gemeinsam in EU und NATO, denn die meisten Probleme heute sind eben nicht mehr national zu lösen. Und gegenüber Putin und der russischen Atommacht gegenüber Sicherheit zu organisieren, ist nur gemeinsam möglich und braucht westliche Geschlossenheit. Nach langer Zeit großer Naivität gegenüber Putin einerseits, aber andererseits auch grundsätzlicher Hoffnung auf einen auf Dialog und Vernunft, auf der Anerkennung des Rechts bestimmten internationalen Frieden fällt gerade uns Deutschen diese neue Orientierung besonders schwer.

Wir wissen heute, dass wir mehr für unsere Sicherheit tun müssen, wir in Deutschland und in der EU insgesamt – und sind darauf schlecht vorbereitet. Gleichzeitig darf es hier m.E. nicht nur um ein traditionelles Aufrüsten gehen. Gewiss, die Bundeswehr ist ziemlich heruntergewirtschaftet und das muss korrigiert werden, doch bleibt die Erkenntnis richtig, dass Sicherheit nicht nur militärisch gesichert werden kann. Das erleben wir gerade in der Energiefrage und in der digitalen Welt, Cybersicherheit wird immer mehr ein zentrales Thema. Aber es geht weit darüber hinaus. Wir brauchen ein weitaus stärker vernetztes Denken und eine besser abgestimmte Politik, national wie mit den Partnern – und das braucht möglicherweise auch neue Entscheidungsstrukturen in der Politik. Ich denke nur daran, dass ich im Bundestag vor 20 Jahren, als wir Deutschen in Afghanistan für den Polizeiaufbau zuständig waren und das nicht klappte, versuchte, den Bundesinnenminister in den Auswärtigen Ausschuss zu bekommen – und das nicht gelang. Wie es hieß, gehörte es nicht zu seinen Pflichten, auch in einen anderen Parlaments-Ausschuss als den Innenausschuss zu gehen – selbst wenn es inhaltlich geboten gewesen wäre. Er weigerte sich –

Unsere Nachbarn erwarten von uns eine Führungsrolle, so hat es jedenfalls vor 15 Jahren der damalige polnische Außenminister Radek Sikorski in Berlin erklärt. Man stelle sich das vor, vor dem Hintergrund unserer Geschichte: ein Pole hat das erklärt! (Freilich – es ist 15 Jahre her. Die heutige polnische Regierung dagegen bemüht im Wahlkampf wieder antideutsche Ressentiments.)

Was wir noch mehr für Europa tun könnten

Doch zurück zur Europäischen Union. Diese Erwartungen an Deutschland gibt es auch in anderen Ländern – wir sind nun mal die zahlenmäßig größte und auch wirtschaftlich stärkste Nation in der EU. Wir hatten und wir haben Schwierigkeiten, solchen Erwartungen gerecht zu werden. Dabei geht es ja auch nicht darum, dass man erwarten würde, dass wir zu sagen hätten, wo es lang geht in Europa, sondern um eine mit Weitblick und Augenmaß sowie von klugen inhaltlichen Initiativen geprägte geschickte Moderation. Daran besteht bis heute Bedarf.

Dazu gehört zuallererst das Hinhören auf das, was die anderen wollen. Es gilt, die Perspektive der anderen gut zu kennen und sie in die eigenen Vorschläge einzubeziehen. Dialog ist hier angesagt, auch mit schwierigen Partnern. Mit dem Reklamieren von Führung, wie wir es in den letzten Wochen manchmal gehört haben, ist es jedenfalls nicht getan.

Doch sind auch wir auch selbst herausgefordert, die Frage zu beantworten, wie, wieweit und in welcher Weise wir bereit sind, den Gürtel enger zu schnallen bzw. selbst aktiv zu werden, wenn es um die Bedrohung unserer Werte und unsere gesellschaftlichen Bedingungen geht. Die heute dringend nötige Verantwortung gilt nicht nur der Regierung, sondern uns selbst als Bürger. Ohne Rückhalt in der Bevölkerung kann keine Regierung die nötigen Maßnahmen auf den Weg bringen.

Zu den aktuellen Bedrohungen gehören dieser Krieg und die europäische Sicherheit genauso wie die globale Klimakrise und die Erhaltung unserer natürlichen Umwelt. Christen reden hier von der Schöpfung, die zu bewahren wir Verantwortung tragen. Hier darf auch nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden.

Von uns ist Weitblick und Verbindlichkeit gefordert – und das heißt, dass wir auch unsere institutionellen Rahmenbedingungen überprüfen müssen. Die Ukraine hat einen Antrag auf Mitgliedschaft in die EU gestellt und die EU hat endlich getan, was schon lange nötig gewesen wäre – und ihr den Kandidatenstatus gegeben. Das ist ein wichtiger Schritt für die EU und ein begrüßenswerter Kurswechsel ihrer Strategie in der Erweiterungsfrage. Endlich wird begriffen, dass auch die östlichen Nachbarn, die wollen, zu uns gehören! So ist es gut, dass auch die Moldau und Georgien hier im Blick bleiben und endlich auch die westlichen Balkanländer mehr Aufmerksamkeit finden. Gewiss wird es hier keine Abkürzung zur Mitgliedschaft geben, aber hoffentlich eine intensive Unterstützung und Förderung. Ich schlage vor, dass man einen Beobachterstatus im Europäischen Parlament für alle Kandidatenstaaten schafft! Diese Beobachter würden alle Diskussionen in der EU und ihre Entscheidungsmechanismen kennenlernen und mit ihnen vertraut werden. Sie sollten nicht nur entsandt, sondern auch gewählt werden. So gäbe es jeweils Vertreter der regierenden Parteien und der Opposition. Man stelle sich vor, ein Wahlkampf zur Europawahl in der Ukraine, in Moldau und in Albanien wie in Serbien!

Ich bin überzeugt, dass hätte nicht nur einen großen Symbolwert, sondern würde für die öffentliche Debatte in diesen Ländern viel bewegen.

Solidarität der Demokraten

Meine Damen und Herren,

eigentlich schon immer, aber heute vielleicht ganz besonders braucht es die grenzüberschreitende Solidarität der Demokraten. Wer sich für Freiheit und Demokratie an seinem Ort einsetzt, gehört unterstützt – und gerade wir, die wir in kommunistischen Zeiten gelebt haben, wissen wir wichtig es ist. So möchte ich uns zurufen (einen Spruch von Karl Marx umformulierend): „Demokraten aller Länder, vereinigt euch!“ Für diese Unterstützung müssen wir aber, sowohl in Deutschland selbst wie auf EU-Ebene, unsere Strukturen noch tüchtig ausbauen.

Ich möchte schließen mit einem Punkt, der mich betroffen macht. Ich finde es erschreckend, wie heute Russen oft allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit für die russische Aggression in der Ukraine und die dort stattfindenden Verbrechen in Mithaftung genommen werden. Angesichts der Erfahrung vieler Deutscher, die Gegner Hitlers waren und sich und andere retten wollten und in anderen Ländern zurückgewiesen wurden, sollten wir hier nicht mitmachen. Verweigertes Exil und Visum hat viele deutsche Hitlergegner das Leben gekostet und das kann heute auch mit Russen geschehen! Ich wünschte mir, dass Deutschland sich seiner Verantwortung bewusst ist – und wir uns dafür öffnen (und da ist einiges zu tun!), dass Deutschland zu einem Ort demokratischen Exils wird für Demokraten, die aus ihren Heimatländern fliehen mussten. Sie sollen bei uns nicht nur überleben, sondern politische Subjekte sein können, die hier weiter aktiv sind für Freiheit und Demokratie und die Solidarität der Demokraten.

Ich danke Ihnen!

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2022, Internetzugriffe zuletzt am 19. Oktober 2022)