Die andere Zeitenwende
Zum Tod von Elizabeth Alexandra Mary Windsor
„Dies ist also das schreckliche Jahrhundert, von dem die Schrift so deutlich spricht. Es ist das eherne Zeitalter, das alle Dinge bricht und bändigt. Die sieben Engel haben ihre Phiolen über der Erde ausgeschüttet, und sie enthielten Blasphemie, Schrecken, Massaker, Ungerechtigkeit, Verrat. Wir haben gesehen und sehen immer noch, wie sich Königreich gegen Königreich erhebt, Nation gegen Nation, Pest, Hungersnot, Erdbeben, schreckliche Fluten, Zeichen der Sonne und des Mondes und der Sterne; das Leiden der Nationen durch Stürme und donnernde Wellen.“ (Jean Nicolas de Parival 1654, zitiert nach Philipp Bloom. Die Welt aus den Angeln, 2017 bei Hanser erschienen)
Madeleine Albright, Inge Deutschkron, Peter Brook, Michail Gorbatschow, Elizabeth Alexandra Mary Windsor, bekannter als Queen Elizabeth II, Zeitzeug*innen, die die Welt mit ihrem außerordentlichen Können, ihrer Weitsicht und ihrer Lebenserfahrung bereichert und verändert haben, sind in diesem Jahr verstorben. Sie haben klar benannt, was der Fall ist, haben ihre Möglichkeiten genutzt, um Menschen zu berühren und Dinge nicht so zu lassen, wie sie sind. Sie haben sich eingemischt, das war im wahrsten Sinne des Wortes ihr Beruf. Sie waren authentisch, in dem was sie taten – und auch, in dem was sie nicht taten. Diese Menschen vereint in ihrer Unterschiedlichkeit, dass sie für eine Zeit standen, ja Ikonen dieser Zeit waren, die jetzt Vergangenheit ist. Die letzten Tage angesichts des Todes von Queen Elizabeth II führen das deutlich vor Augen.
Wir sind verunsichert. Unsere Vorstellung von Weltordnung und die Hoffnung auf eine gute und gewaltfreie Zukunft für uns und nachfolgenden Generationen – falls wir sie je hatten – erweist sich endgültig als Utopie. Es ist Krieg, nicht nur in Europa. Und: die seit Jahren angekündigte Klimakrise ist eine Bedrohung, die nicht nur in Bildern von zu weiten Teilen überfluteten Gebieten Asiens und brennender Wälder und Sandstürmen in anderen Teilen der Erde konsumiert werden kann. Mehr als je vorher wurden wir in diesem Jahr Zeug*innen, wie Flüsse austrockneten, spürten die Versäumnisse der vergangenen Jahre, eine ernsthafte Energiewende hin zu erneuerbaren Energien zuwege zu bringen. Wir lesen in einigen Zeitungen, dass der Kipppunkt des Klimas spätestens 2030 erreicht sei. Danach sei nichts mehr
Die wirtschaftliche Abhängigkeit schuf und schafft, verstärkte und verstärkt die Entwicklung von Feindbildern. spricht in seinem Buch „Retrotopia“ (deutsche Übersetzung erschien 2017 bei Suhrkamp) von der umfassenden Globalisierung unserer Lebenszusammenhänge, die außer Kontrolle geraten sei. Philipp Blom beschreibt in „Die Welt aus den Angeln“ wie Klimaveränderungen und Naturereignisse zu weltanschaulichen Verwerfungen, Rückzug in Nationalstaaterei und Tribalismus und Ausgrenzung und Verfolgung des als „anders“ Empfundenen führt.
Gesellschaftliche Veränderungen von für unmöglich gehaltenem Ausmaß zeitigen den Backlash, von dem alle, die sich nicht patriarchalen weißen heterosexuellen Strukturen beugen, oft genug verbunden mit Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus und anderen Erscheinungsformen der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer) betroffen sind: Wade vs. Roe, zunehmende Hasskriminalität, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Missachtung und Brechen von internationalen Verträgen und Vereinbarungen. Es passiert jetzt mit einer Selbstverständlichkeit, vor der Hannah Arendt und Madeleine Albright diejenigen gewarnt haben, die sich im Glauben gewogen haben, „das“ kann nicht mehr passieren, im Indikativ formuliert, nicht im Konjunktiv!
Nicht nur Großbritannien scheint der Kompass abhanden gekommen zu sein. Was Wunder, dass nun allenthalben William Shakespeare (1564 – 1616) zitiert wird, auch in diesem Text.
Im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert standen alle Zeichen auf Veränderung. Königin Elisabeth I war gestorben, ihre Nachfolge zwar gesichert, aber nicht sicher. Technischen Innovationen wie der Erfindung von Maschinen wie William Lees Strickmaschine, aus heutiger Sicht keine große Sache, bedeuteten eine große Gefahr für die bestehenden Machtverhältnisse. Königin Elisabeth I und ihr Nachfolger James I verweigerten Lee das Patent aus Sorge, dass seine Erfindung viele kleine Betriebe der Handstricker in den Ruin treiben könnte und damit die ohnehin volatile Situation durch einen Aufstand weiter Bevölkerungsgruppen weitere politische Instabilität hervorrufen und die Position der Regierenden gefährden könne. Wer mehr erfahren möchte, lese Daron Acemoğlu und James Robinson, Warum Nationen scheitern – Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (die deutsche Übersetzung erschien 2013 bei Fischer). Es war die Zeit wissenschaftlicher Entdeckungen, z.B. eines Isaac Newton, und der Erschließung neuer Wirtschaftsräume und Handelswege – neue Möglichkeiten, die alte Gewissheiten ins Wanken brachten.
Shakespeare hat dem Volk aufs Maul und in die Seele geschaut. Seine Dramen sind zeitlos, weil sie – plus que ça change, plus c’est la même chose – die menschliche Grundkonstitution zeigen, die immer gleichen Unzulänglichkeiten, Ängste, Eitelkeiten, Machtspiele und Verzweiflung und Zweifel an den Zeitläuften, die uns heute wie den Menschen damals sofort verständlich werden…
Die schnellen Medien, Abbilder heutiger „Realität“, sind auf kurze Aufmerksamkeitsspannen und scheinbar reine „Information“ ausgelegt. Das hat seinen Sinn. Shakespeare ging es um das Menschsein. Und der „Mensch an sich“ ist langsam im Denken und Fühlen, begreift oft nicht, lässt sich nur zu gerne täuschen.
Verwundert – Faszination, Ablehnung und Unverständnis mögen sich die Waage halten – beobachten wir gerade die ungewohnten und umständlichen Riten und Zeremonien, mit denen ein Land ein Staatsoberhaupt oder eine Staat und Gesellschaft prägende Persönlichkeit zu Grabe trägt und im Falle von Queen Elizabeth II den Nachfolger inauguriert oder ihr Erbe – wie im Falle Michail Gorbatschows – ignoriert. Religionswissenschaftlich und kulturhistorisch erleben wir grade die zeremonielle Begleitung einer fundamentalen Transition, ähnlich einem Initiationsritus: „Der Vorhang ist gefallen, und alle Fragen offen.“ (Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan), „History Will Teach You Nothing?“ (Sting 1987 in Nothing Like The Sun)
Wir sind verunsichert. Wir müssen unsere bisherigen Denkgewohnheiten, unsere politischen, ökonomischen und ökologischen Parameter und unsere epistemischen Überzeugungen auf ihre Gültigkeit hinterfragen. Es gilt die Frage, ob der „Traum von einer Sache“, von der Marx an Ruge schrieb, als humanistische Utopie beflügelt oder zur menschenfeindlichen Dystopie mutiert. Der Rückgriff auf die, die uns vorausgegangen sind, hilft. Hannah Arendt lesen hilft. Und das zu sagen sei in diesem Zusammenhang gestattet: Kultur, Theater, Musik, Tanz, Bildende Kunst ist mehr als nur gesellschaftliches Beiwerk, das ist der Kern. Ich erlaube mir die Vermutung, King Charles III verspricht dies zu leben.
Beate Blatz, Köln
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2022, Internetlinks wurden am 26. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)