Die Ausgeschlossenen

Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen

„Wir müssen uns beweisen. Beweisen, dass wir die deutsche Gesellschaft nicht negativ beeinflussen, dass die Förderung von Menschen anderer Hautfarbe ein Mehrwert sein kann, dass wir gleichwertig sind, dass wir nicht defizitär sind Es scheint wie eine Art instrumenteller Umfang, der uns immer darauf reduziert, was wir leisten, ob wir uns genug anstrengen, ob wir genug sind, ob unsere Qualifikationen gleichwertig und ausreichend sind, ob unsere ‚kulturellen Merkmale‘ uns dennoch in einem System wie diesem funktionieren lassen, ob unsere Religion uns nicht schon automatisch ausgrenzt und anders macht.“ (Souad Lambroubal, Alltagsrassismus: weit mehr als nur die Frage nach der Herkunft, in: Andreas Zick, Beate Küpper, Hg.; Die geforderte Mitte – Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/2021, Bonn, Dietz, 2021)  

Menschen mit einer arabischen oder türkischen Herkunftsgeschichte erleben in Deutschland und in anderen europäischen Staaten oft genug, dass sie beweisen müssen, dass sie keine Antisemit*innen sind. Andererseits ist es recht einfach, muslimisch, arabisch oder türkisch gelesenen Menschen Antisemitismus zuzuschreiben. Für Deutsche – ich sollte schreiben Deutsch-Deutsche – und Christ*innen bedeutet dies, dass sie mit einem solchen Vorwurf vermeiden können, sich mit ihrer eigenen, der deutschen beziehungsweise christlichen Geschichte des Antisemitismus auseinanderzusetzen. Erstaunen mag, dass Menschen aus dem Iran in Deutschland nur selten Antisemitismus unterstellt wird, obwohl der Iran zumindest verbal einen höchst aggressiven Antisemitismus voller Vernichtungsdrohungen pflegt. Wenn von „Muslim*innen“ die Rede ist, geht es in Deutschland eben eher um Menschen mit arabischer oder türkischer Familiengeschichte. Vielleicht ist der Eindruck richtig, dass es sich mit der Zuschreibung des Antisemitismus zu dieser Gruppe auch um eine Spielart von Klassismus handelt, denn aus dem Iran nach Deutschland geflüchtete beziehungsweise eingewanderte Menschen wohnen in der Regel in den sogenannten „besseren“ Stadtteilen .

Für das Verständnis des als „muslimisch“ identifizierten Antisemitismus in Deutschland und in anderen westlichen Staaten sind die antisemitischen Stereotype türkischer, arabischer und iranischer Propaganda gleichermaßen relevant. Schließlich stellt sich die Frage, ob es einen nachweisbaren Bezug des Antisemitismus zum Islam als Religion gibt. Oder ist nicht alles, was wir bei Muslim*innen an antisemitischen Einstellungen vermuten, lediglich eine Spielart des Rassismus der Mehrheitsgesellschaft, eine Ausprägung von angenommenen „kulturellen Merkmalen“, die essentialistisch gelesen und kolportiert werden?

Schwache Empirie – unscharfe Begriffe

Matthias Küntzel verweist in seinem Buch „Nazis und der Nahe Osten – Wie der islamische Antisemitismus entstand“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2019) auf das Unbehagen in der Antisemitismusforschung, Begriffe wie „Islamischer Antisemitismus“ oder „Muslimischer Antisemitismus“ zu verwenden. Michael Kiefer spricht, beispielsweise in „Antisemitismus und Migration“ (Berlin, Aktion Courage e.V., 2017), alternativ von „islamisiertem Antisemitismus“. Ich neige eher dazu, von einem muslimisch oder islamisch konnotierten oder gegebenenfalls auch – noch etwas distanzierter – von muslimisch oder islamisch gelesenen Antisemitismus zu sprechen.

Der Begriff der „Islamisierung“ bedarf meines Erachtens einer näheren Erläuterung, denn die „Islamisierung“ des Antisemitismus kann von zwei Seiten ausgehen. Es könnte sich um eine nachträgliche Begründung für einen latent vorhandenen Antisemitismus muslimisch gelesener Menschen handeln, ebenso aber um eine Zuschreibung durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Angehörigen der muslimischen Minderheit. Vermutlich wirken beide Lesarten. Aber was wissen wir wirklich über Muslim*innen und Antisemitismus, oder bewegen wir uns vorwiegend in einem Feld von empirisch unbewiesenen Annahmen?

Michael Kiefer weist in „Antisemitismus und Migration“ darauf hin, dass „es nach wie vor an empirischen Datenbeständen fehle, die verallgemeinerungsfähige Aussagen über Antisemitismus unter Muslimen zuließen.“ Diese schwache Empirie führt dazu, dass Streit entstehen konnte, ob es überhaupt sachgerecht wäre, Muslim*innen wegen Antisemitismus anzuklagen. In der Tat – so Matthias Küntzel – „zeigt die bislang umfangreichste Befragung von 16.395 Juden aus zwölf EU-Staaten, deren Resultate die Grundrechte-Agentur der Europäischen Union im Dezember 2018 veröffentlichte (…), dass für 30 Prozent der Befragten die schwerwiegendste antisemitische Belästigung von ‚jemandem mit extremistisch muslimischer Orientierung‘ ausgegangen ist. In Deutschland stimmten gar 41 Prozent der Juden dieser Aussage zu.“

Die Markierung beziehungsweise Verfolgung von muslimischen Täter*innen spiegelt sich diese Bedrohungssituation nicht. Matthias Küntzel stellt eine schwer nachvollziehbare Beißhemmung demokratischer Kräfte gegenüber extremistisch auftretenden Migrant*innen und Muslim*innen fest: „Als zum Beispiel das Berliner Abgeordnetenhaus am 26. April 2018 die Angriffe auf Juden in Berlin verurteilen wollte, weigerten sich SPD, CDU, Grüne und Linke, migrantische Täterschaften auch nur anzudeuten. Bei so viel ‚Dummstellen‘ konnte sich die AfD profilieren.“ Es wurde noch schlimmer: die AFD stellte einen Antrag zum Verbot der Hisbollah, den alle anderen Parteien ablehnten. Matthias Küntzel: „Die Hisbollah gegen die AfD in Schutz zu nehmen – das ist schon eine reife Leistung.“ Das Wuppertaler Gerichtsurteil, demzufolge der Anschlag von drei jungen Männern mit palästinensischer Familiengeschichte auf die Synagoge nichts mit Antisemitismus zu tun gehabt hätte, gehört ebenfalls in diesen Kontext. Dem ist nur ein Satz hinzuzufügen: wir brauchen dringend empirische Untersuchungen. Im Grunde ist es eine ähnliche Lage wie bei der Debatte um die geforderte Untersuchung zum „Racial Profiling“ bei der Polizei. Wer sich solchen Untersuchungen verweigert, nährt geradezu den Verdacht, es solle etwas verheimlicht werden.

Michael Kiefer bietet in „Migration und Antisemitismus“ einen Forschungsbericht. Die beiden vom Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus in Auftrag gegebenen Studien waren ein erster Schritt, doch sie beseitigen dieses Defizit nicht. Befragt wurden in der ersten Studie 18 in Deutschland tätige Imame, in der zweiten 25 Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Während sich die Imame durchweg kritisch äußerten, reproduzierten die Geflüchteten, nicht zuletzt aufgrund der in ihren Herkunftsländern erfahrenen Bildungsinhalte, „ein vergleichsweise hohes Maß an antisemitischen Einstellungen“. Die 2013 erschienene Studie von Jürgen Mansel und Viktoria Spaiser „Ausgrenzungsdynamiken – In welchen Lebenslagen Jugendliche Fremdgruppen abwerten“ (Weinheim / Basel, Beltz, 2013) „gibt erstmals umfassend Auskunft über abwertende Einstellungen bei in Deutschland lebenden Jugendlichen aus unterschiedlichen Sozialisationskontexten.“ Grundlage dieser Studie waren 24 Gruppendiskussionen und 42 Interviews. Ein Ergebnis: israelbezogene Varianten des Antisemitismus traten bei den muslimischen Jugendlichen in einem erheblich höheren Maße auf als bei anderen Gruppen. Andererseits: „Deutsche Jugendliche ohne Migrationshintergrund hingegen äußern eher einen geschichtsrelativierenden Antisemitismus.“ Eine Antwort auf die Frage, was es mit einem spezifisch muslimischen Antisemitismus auf sich habe, finden wir nicht, auch nicht in der 2012 vorgelegten Studie von Günther Jikeli („Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa“, Essen 2012). Günther Jikeli (zitiert nach Michael Kiefer): „Die Vehemenz und das Ausmaß von Antisemitismus unter den interviewten Jugendlichen ist insgesamt jedoch erschreckend, auch wenn einzelne keinerlei Anzeichen von antisemitischen Einstellungen zeigten, beziehungsweise sich vereinzelt sogar aktiv gegen Judenhass stellten.“

Zur historischen Einordnung: Die Studien von Jürgen Mansel, Viktoria Spaiser und Günther Jikeli erschienen vor 2014, vor der Aktion „Protective Edge“, mit der Israel in der Zeit vom 8. Juli bis zum 26. August 2014 auf Bombardements aus dem Gaza-Streifen reagierte, aber nach den Debatten um die sogenannte „Gaza-Flotille“ im Jahr 2010. Wie aktuelle Entwicklungen und Ereignisse Einstellungen beeinflussen und gegebenenfalls verfestigen, ist eine weitere Frage, die mit der bisherigen schwachen empirischen Grundlage nicht beantwortet werden kann.

Es gibt zu viele offene Fragen: Welche Rolle spielen Religion, Diskriminierungserfahrungen, Schulbildung, Populärkultur für das Bild von Jüdinnen*Juden bei muslimischen Jugendlichen heute? Welche Rolle spielen die diversen Debatten um Antisemitismus, um BDS, um israelische Politik bei der Entwicklung von Einstellungen bei muslimischen Jugendlichen in Deutschland? Auf all diese Fragen haben wir keine empirisch belegbaren Antworten, sodass wir vielleicht erst einmal nach einer geeigneten Methodik fragen sollten, mit der sich das Denken und Handeln muslimischer Jugendlicher in Deutschland und in anderen europäischen Ländern beschreiben und erklären ließe.

Ein „Macht- und Deutungskampf“

Eine Analyse der in dieser schwierigen Debatte angewandten Methoden ist mehr als angebracht. David Ranan leistet eine solche Analyse in seinem Buch „Muslimischer Antisemitismus – Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?“ (Bonn, Dietz, 2018). Der Untertitel könnte als Suggestivfrage verstanden werden. Ich gehe zunächst einmal davon aus, dass diese Suggestivfrage angesichts vieler ebenso suggestiv geführter Debatten die Verkaufszahlen positiv beeinflussen soll. David Ranan beantwortet die Frage negativ, allerdings ohne die von muslimisch konnotiertem Antisemitismus ausgehende „Bedrohung“ zu relativieren. Mehr als ein Drittel seines Buches widmet er der Frage, wie die allgemeine Verwirrung der Begriffe, die auch durch bisherige Forschungsansätze befördert werde, aufgelöst werden könnte.

In seiner Einleitung schreibt David Ranan, dass es um einen „theologischen und politischen Macht- und Deutungskampf“, auch in der muslimischen Welt gehe: „Beides, sowohl die kriegerischen Auseinandersetzungen in der muslimischen Welt als auch Judenhass und Holocaust, werden mit vielen Emotionen diskutiert. Bei dem Thema muslimischer Antisemitismus werden nun beide hochexplosiven Topoi in einen Topf geworfen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema läuft so ab, dass auf jüdischer Seite im Hintergrund wie im Vordergrund Angst herrscht. Auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft gibt es ein großes Unbehagen – sowohl in der Beziehung zu Juden als auch zu Muslimen, zu deren Verhalten und den Sorgen, die damit verbunden sind. Schließlich auf muslimischer Seite herrscht im Allgemeinen Unverständnis über die Antisemitismusbeschuldigung – obwohl zu konstatieren ist, dass auch muslimische Stimmen hörbar sind, allerdings nicht viele, die sich über muslimischen Antisemitismus als Problem kritisch äußern.“

Historische Schlüsselereignisse verfestigen Einstellungen und schaffen Traumata, weit über den Augenblick des Geschehens hinaus in der kollektiven Erinnerung, ganz im Sinne der These der „Langen Dauer“, der „Longue Durée“ von Fernand Braudel (1902-1985). Zu den bis heute nachwirkenden Traumata gehören in der muslimischen Welt die sogenannten „Kreuzzüge“ ebenso wie die Jahre 1492 („Andalusiensyndrom“), 1948 und 1967, in deutschen und österreichischen Diskursen das Jahr 1683, das sich weltweit im vom damaligen US-Präsidenten ausgerufenen „Krieg gegen den Terror“ als Reaktion auf den 9. September 2001 sowie in Deutschland wiederum in der Vehemenz der Debatten nach der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 und der darauf folgenden „Kölner Sylvesternacht“ zu wiederholen scheint.

Vielleicht überspanne ich den historischen Bogen, wenn ich die Rezeption des arabischen Widerstands und des Widerstands der Balkanländer gegen die osmanische Herrschaft im 19. und im frühen 20. Jahrhundert miteinander vergleiche. Vielleicht hat die penetrante pro-muslimische und gleichzeitig antiisraelische bis antisemitische Rhetorik des türkischen Präsidenten auch etwas damit zu tun, dass er eine Einheit der Muslim*innen türkischer wie arabischer Provenienz behaupten möchte, die es so eigentlich nie gab. Um diese Einheit zu behaupten, muss er den osmanischen Imperialismus der Vergangenheit leugnen. Solange es gegen einen gemeinsamen Feind geht, als den er Israel identifiziert hat, könnte diese Strategie Erfolg haben. Die westliche Rezeption nimmt dies gerne auf und benennt den Islam als eine türkische wie arabische Politik verbindende gemeinsame Grundlage des Antisemitismus, im Ergebnis: Bekämpfung von Antisemitismus durch Bekämpfung des Islam.

Verwirrende Narrative

In diesen Kontext gehört die Frage zum Verhältnis von sogenannter „Israelkritik“ und „Antisemitismus“. Mit „Israelkritik“ hätten wir einen miteinander konkurrierende Welten verbindenden Begriff, der zu dekonstruieren wäre. Ob sich dieses Gewirr verschiedener Gefühle entwirren ließe, ist wenig wahrscheinlich, zumal niemand weiß, in welche Richtung sich die diversen Debatten entwickeln werden. Ebenso auffällig ist die Bezeichnung von manchen Autor*innen und Expert*innen, die sich mit diversen antidemokratischen und frauenfeindlichen Erscheinungsformen des Islam befassen, als „Islamkritiker*innen“. Möglicherweise ist es an der Zeit, auch die Begrifflichkeit sogenannter „Islamkritik“ zu dekonstruieren. Umso verdienstvoller ist David Ranans Versuch, die zugehörigen Debatten zu beschreiben. Seine Studie ist in weiten Teilen im besten und im doppelten Sinne des Wortes ein Essay.

David Ranan hat „70 Interviews mit in Deutschland und England lebenden jungen Muslimen geführt, die noch studieren oder schon ihren Abschluss gemacht haben“. Sein Ziel: „Meine Interviewpartner sollten nicht das Bild der gesamten muslimischen Community widerspiegeln. Mein Wunsch war es, Narrative kennenzulernen statt Slogans und Substanz statt Schlagwörter, die so oft die Medien, den Diskurs und damit auch die öffentliche Meinung dominieren.“ Es liegt in der Natur der Sache, das natürlich auch solche „Slogans“ und „Schlagwörter“ diese „Narrative“ beeinflussen und prägen.

David Ranan benennt die „Narrative“, die zur Bewertung der Interviews bedacht werden müssten. Dazu gehört auch die Frage, ob möglicherweise die Konzentration diverser Medien auf muslimischen Antisemitismus von christlichem oder rechtem Antisemitismus als „Ersatzkommunikation“ ablenken solle. Noch komplizierter wird es, wenn – und dies ist so gut wie unvermeidlich – der sogenannte „Nah-Ost-Konflikt“ hineinspielt. So entstanden mit der Zeit „neue Narrative: So wurde ein palästinensisches Volk und eine palästinensische Nationalgeschichte ersonnen. Und auf israelischer Seite wird an einem muslimischen Antisemitismus gearbeitet. Mehr noch: In einer Welt, in der Rassismus, Kolonialismus und Antisemitismus negativ konnotiert sind, probieren Muslime, Israel und das ganze Konzept des jüdischen Landes als Kolonialprojekt und als rassistisch zu deuten und zu färben. Dagegen bemüht sich Israel, die Muslime als antisemitisch zu brandmarken.“

Die Verwirrung wird offenkundig, wenn wir uns mit David Ranan die Fragen anschauen, die in diversen Umfragen und Forschungen verwandt werden, um dem Antisemitismus auf die Spur zu kommen. Als wenig hilfreich benennt David Ranan sogenannte „Double-Barrel“-Fragen. Als Beispiel nennt er: „Wir sollten unter unsere Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen, bei den anderen sind genauso schlimme Dinge vorgekommen.“ Das sind zwei Fragen in einer. Ein anderes Beispiel: direkte Fragen, ob jemand etwas gegen Juden habe, helfen nicht weiter, weil es „politisch unkorrekt (…) geworden ist, sich antisemitisch zu äußern“. Solche Fragen provozieren geradezu eine ausweichende Antwort.

Suggestivfragen erschweren die Analyse. „Das Item ‚Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser‘ soll ‚eine unmittelbare Assoziation an den Holocaust‘ herstellen.“ David Ranan fragt, was die Befragten unter einem „Vernichtungskrieg“ verstehen könnten. Ich erlaube mir zu ergänzen, dass manche Befragte die Shoah für eine ausschließlich kriegerische Handlung halten dürften und damit Begründungen der Nationalsozialist*innen aufgreifen, wahrscheinlich ohne sich dessen bewusst zu sein. Der genannten Frage stimmten 2004 in der Bielefelder Mitte-Studie 68,4 Prozent zu, 2014 40 Prozent. Ob diese sinkenden Werte etwas mit gestiegener historischer Bildung zu tun haben, mag bezweifelt werden. David Ranan: „Wenn bei nahezu der Hälfte der untersuchten Bevölkerung antisemitische Einstellungen beobachtet werden, müssen die Messgeräte untersucht werden.“ Damit sagt David Ranan nicht, dass es diese antisemitischen Einstellungen nicht gäbe, aber er formuliert Ansätze einer fundierten Methodenkritik, um sie belegen zu können. Wer sich einer solchen Methodenkritik entzieht, provoziert Relativierungen. Vielleicht helfen Interviews wie die, die David Ranan durchführte, der Sache auf den Grund zu gehen. Vielleicht sind traditionelle quantitative Instrumente in der Tat zu ungenau. David Ranan stimmt Samuel Salzborn zu, der beispielsweise der Leipziger „Mitte-Studie“ von 2016 (sie firmiert inzwischen unter der Bezeichnung „Autoritarismus-Studie“) ein verkürztes Antisemitismusverständnis vorwarf.

Antisemitisches Grundrauschen – kaum Faktenkenntnisse

Zwischen Islam und Antisemitismus gibt es an der Oberfläche scheinbar eindeutige Korrelationen, die sich in diversen Interviews immer wieder bestätigen. Es gibt so etwas wie ein antijüdisches und antisemitisches Grundrauschen, unabhängig vom Umfang der Faktenkenntnisse. David Ranan findet „in den Gesprächen und Interviews, die ich geführt habe, mehrmals Äußerungen zu jüdischem Geld, jüdischer Macht und sogar einigen weltverschwörerischen Mythen“. Vor allem findet sich viel Unkenntnis über das, was die befragten Studierenden kritisieren: „Wirklich gute Kenntnisse über die US-amerikanische Politik hatte fast keiner meiner Interviewpartner. Nichtsdestotrotz sprachen sie mit großer Überzeugung von der jüdischen Macht über die amerikanische Politik und die Weltpolitik.“

Genaue Kenntnisse gehör(t)en offenbar nicht zum Bildungsauftrag der Institutionen, die die Befragten besuchen beziehungsweise besucht hatten: „Bemerkenswerter als die Ignoranz gegenüber dem Holocaust unter Muslimen ist die Tatsache, dass auch wenn und obwohl sich viele Muslime mit dem Schicksal ihrer palästinensischen Brüder identifizieren, selbst gebildete Muslime viel Unwissen erkennen lassen, wenn es um diese Geschichte geht.“ An anderer Stelle: „Dafür, dass das Israel-Palästina-Thema so zentral in den Aussagen meiner Interviewpartner war, kannten sie sich in der Geschichte und Entwicklung dieses Konflikts nicht besonders gut aus. (…) Ein für dieses Thema relevantes Phänomen ist die weit verbreitete und fast allgemeine Begriffsverwechslung zwischen Juden, Zionisten und Israelis. Beinah keiner der Interviewpartner war in der Lage, den Begriff Zionist oder Zionismus richtig zu erklären.“

Wie relevant sind diese mit permanentem mystifizierendem und wahlweise antijüdischem, antiisraelischem oder antizionistischem Hintergrundrauschen verbundenen Unkenntnisse? Sie belegen zumindest Anschlussfähigkeit für radikalisierende und radikale Ideengebäude. David Ranan sieht im radikalen Islam insbesondere die Bereitschaft zur Gewalt und die Begründungszusammenhänge antiisraelischer Äußerungen mit der Religion. Es gibt „etwas ‚Muslimisches‘“, etwas „Islamverbundenes“. Andererseits begründet aber keine*r von David Ranans Interviewpartner*innen antiisraelische Äußerungen mit dem Koran.

Es geht offenbar nicht um Religion, sondern um ein diffuses Gefühl der Bedrohung, das sich in der Mischung von Stereotypen unterschiedlicher Herkunft manifestiert: „Die Ideologie, die entwickelt wurde, um dem Niedergang der arabisch-muslimischen Welt durch die militärische wie auch wirtschaftliche Dominanz des Westens etwas entgegenzusetzen, ist teilweise gewalttätig. Zudem hat diese Ideologie den Zionismus als Speerspitze und treibende Kraft des Westens – und seinen Erfolg, nämlich auf muslimischem Land einen nicht-muslimischen Staat zu errichten, als totalen Affront gewertet und ihm den Krieg bis zum Sieg erklärt. Zu diesem Zweck wurde unter anderem auf Vorurteile und Verschwörungstheorien christlich-europäischer Antisemiten zurückgegriffen.“ Wer jedoch diese Verbindung auflösen möchte, sollte sich – so David Ranan – davor hüten, „solche Aussagen einfach mit dem Antisemitismusvorwurf zu belegen.“ Das reicht nicht aus, zumal der Antisemitismusvorwurf nicht nur „sowohl von Israel als auch von einigen jüdischen Organisationen instrumentalisiert“ werden kann, sondern auch weil er politischen Parteien Gelegenheit gibt, sich – wie in Deutschland die AfD oder in Österreich die FPÖ – als die „‚wenigen politischen Garanten jüdischen Lebens auch in Zeiten illegaler antisemitischer Migration nach Deutschland‘“ zu inszenieren.

David Ranans Fazit: „Nur ehrlich, differenziert und exakt kann der wahre Antisemitismus vermessen und bekämpft werden.“ Forscher*innen müssen ihre bisherigen Methoden überdenken: „Beim Antisemitismus messen wir Meinungen und Einstellungen. Dabei sind nicht Vorurteile, sondern Taten, Gewalttaten, das wirklich Gefährliche. Wenn per Zauberstab über Nacht allen Muslimen ihre antijüdischen Vorurteile genommen wären, würden sich diejenigen, die dazu neigen, ihre Meinungen gewalttätig zu äußern, eben andere Objekte suchen.“ Dies dürfte nicht schwerfallen, denn es gibt ohnehin eine Neigung, beispielsweise antisemitische und antifeministische Inhalte miteinander zu verknüpfen oder je nach Gelegenheit den einen Inhalt gegen den anderen auszutauschen.

Anders gesagt: Wenn ein Mensch einen anderen Menschen beleidigt, angreift, verletzt, ist es nicht erforderlich, ihn*sie zu beschuldigen, er*sie habe dies getan, weil er*sie Antisemit*in sei. Es muss reichen, ihn*zu verurteilen, weil er*sie jemanden beleidigt, angegriffen, verletzt hat. Das heißt aber wiederum auch nicht, dass die Gründe, beispielsweise antisemitische Gründe, die zu der jeweiligen Tat führten, keine Rolle spielten. Sie müssen selbstverständlich benannt werden. Dies nur vorsorglich, falls jemand meinen sollte, David Ranans Buch für eine Bagatellisierung von Antisemitismus-Vorwürfen instrumentalisieren zu können. Im Gegenteil: das Unwissen, das er bei jungen gebildeten Muslim*innen feststellt, hat auch viel damit zu tun, dass es bisher keine verlässliche Methodik gibt, die Einstellungen und Motive von Muslim*innen zu erforschen. Es bleibt alles diffus. Aber vielleicht bietet eine historische und literarische Analyse der benannten Traumata vergangener Zeiten eine Chance, dem muslimisch gelesenen beziehungsweise konnotierten Antisemitismus auf die Spur zu kommen.

Ein diffuses Wir-Gefühl

David Ranan hat in seinen Interviews keine Verbindungen zwischen Religion und Antisemitismus feststellen können. Stefan E. Hößl hat sich in seiner Dissertation „Antisemitismus unter ‚muslimischen Jugendlichen‘ – Empirische Perspektiven auf Antisemitismus im Zusammenhang mit Religiösem im Denken und Wahrnehmen Jugendlicher“ (Wiesbaden, Springer Nature, 2020) explizit mit der Frage auseinandergesetzt, welche Bezüge es zwischen Religion und Antisemitismus geben könnte. Beide Bücher sollten daher im Zusammenhang gelesen und diskutiert werden, David Ranan belegt historisches Unwissen. Ob historische Bildung hilft, antisemitische Einstellungen zu beseitigen, ist eine andere Frage. Mir geht es in diesem Kontext darum, das Wissen über die Motive von muslimisch konnotiertem Antisemitismus zu analysieren.

Stefan E. Hößl bietet drei Kapitel zum Forschungsstand, zum Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen, zur Religion in ihrem Denken sowie allgemein zum Antisemitismus. Im sechsten und siebten Kapitel beschreibt er seine Untersuchungsergebnisse. Er führte zwischen November 2011 und Oktober 2013 22 Interviews mit Jugendlichen im Alter von 17 bis 20 Jahren. Besonders eindrucksvoll ist das sechste Kapitel, in dem er seine Interviews mit sechs ausgewählten muslimischen Jugendlichen vorstellt. Es geht ihm um die „Konzeptualisierung ‚der Muslime‘ im dynamischen Spannungsfeld zwischen Dramatisierungen religiöser Identifizierungen, Gruppismus, antimuslimischem Rassismus und muslimischen Selbstverortungen.“

Ein Ergebnis: Antisemitismus kann aus religiösen Einstellungen abgeleitet werden, doch die pauschale Schlussfolgerung, dass Islam und Antisemitismus einander notwendig bedingen, ist unzulässig. Stefan E. Hößl stellt hingegen fest, dass „antisemitische Positionierung stets mit Differenzkonstruktionen verbunden“ ist und ethnische, religiöse und soziale Kategorien ständig miteinander vermischt werden. Wenn die von ihm befragten jungen Muslim*innen über sich sprechen, dominieren Diskriminierungserfahrungen. Seine Analyse gibt – ganz unabhängig vom Thema Antisemitismus – somit auch viele Aufschlüsse über die Bedeutung von Religion und Diskriminierungserfahrungen für die Identitätsbildung junger Muslim*innen in der Diaspora.

Ein Wir-Gefühl der jungen Muslim*innen ergibt sich aus erlebter Diskriminierung, die dann aber mit der Religion, der zugeschriebenen Herkunft verbunden wird. Die befragten Jugendlichen berichten von den Aufstiegserwartungen ihrer Eltern, von hart arbeitenden Vätern, von Eltern ohne Deutschkenntnisse, von moralischen Vorgaben in der Familie, erleben Religion als eine Art Fortsetzung der Familie. Muslim*innen aber werden – so ist ihr Eindruck – in der Welt mehr oder weniger systematisch ausgegrenzt, verfolgt, getötet. Aus dieser Perspektive wird auch das Geschehen in und um Israel beziehungsweise Palästina bewertet, da die Palästinenser*innen als muslimische Geschwister verstanden werden, denen Solidarität gebührt. „Über die Kategorie ‚muslimisch‘ wird hier ein gemeinschaftsbezogenes ‚wir‘ gestiftet. ‚Wer Muslim ist, ist Teil der muslimischen Gemeinschaft‘ scheint insofern als ordnender und strukturierender Determinismus (…) auf.“

Eine der Gesprächspartner*innen, Jahrgang 1994, berichtet, dass ihre Eltern „traurig“ seien, wenn sie im Fernsehen etwas über Israel und Palästina sehen. „Israel verbleibt hier als einziger handlungsaktiver Akteur benannt, der tötet, während Muslim*innen als handlungsinaktive und als passive Opfer des Tötens erscheinen.“ Sie sind „Opfer einer unsichtbaren Macht, die darauf abziele, Muslim*innen in unterschiedlichen Regionen der Welt zu ermorden“, die dann als jüdisch identifiziert wird. Diese junge Frau hat erleben müssen, dass sie als „Deutsche mit Kopftuch“ diskriminiert wird. Sie besuchte vier Jahre wegen eines Sprachfehlers eine Sonderschule und lernte in einem muslimischen Bildungsverein eine Frau kennen, die dort arbeitet, weil sie wegen ihres Kopftuchs nicht in einer Schule unterrichten darf.

Identitätsangebot Palästina

Anlass der Untersuchungen von Stefan E. Hößl war die Frage, ob es „Zusammenhänge zwischen Antisemitismus und Religiösem bei jenen Jugendlichen gibt, die sich als Muslim*innen definieren“. Seine Schlussfolgerung ist vorsichtig: „Deutlich wird dabei, wie die religiösen Orientierungen (…) über die Kontamination eines als homogen, ideell und als solidarische Hilfsgemeinschaft entworfenen Gemeinschaftsbildung eine Nichtanpassung für dualistische Freund-/Feind-Bestimmungen und Antisemitismus erzeugen.“ Möglicherweise wächst die Bedeutung von Religion als Identitätsmerkmal durch die Erfahrung von Exklusion. Finden sich die Jugendlichen dann wiederum unter anderen Jugendlichen wieder, die ähnliche Erfahrungen haben, kann eine gemeinsame Einstellung wie der Antisemitismus wachsen, die das Erlebnis der Diskriminierung kompensiert?

Es entsteht dann so etwas wie eine in Teilen auch antisemitisch definierte Gruppenidentität, sodass „das eigene Muslim-Sein insbesondere dahingehend bei der Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikts zum Tragen kommt, als dass er dort auf das Notleiden von Menschen fokussiert – so wie er angibt, es auch in seiner Gemeinde wahrzunehmen.“ Der junge Mann, der die zuletzt referierten Auffassungen vertritt, ist Gymnasiast. Es lassen sich auch keine Unterschiede in den Einstellungen nach Bildungsstand feststellen, allenfalls im Sprachgebrauch. Ein 1993 geborener junger Mann, auch Gymnasiast mit gutem Notendurchschnitt, der sich aber als „Problemkind“ bezeichnet, entdeckt die Religion als Grundlage für ein fest gefügtes Weltbild. „Die Auseinandersetzung mit Religion wird von Bilal, der Bezug auf Sichtweisen seines Vaters nimmt, als etwas charakterisiert, was insofern eine Zentralität erlangen kann, dass andere Aspekte des Lebens in den Hintergrund treten.“ Allerdings gibt es Ausweichmöglichkeiten. Der junge Mann vergleicht Religion und Nation als Identitätsmerkmale. In Bezug auf die Palästinenser*innen lassen sich beide Merkmale einfach verknüpfen. Religion und Nation, dazu das Gefühl der Exklusion bewirken eine zumindest potenziell antisemitisch begründete Identität.

Geschlossene antisemitische Weltbilder entdeckt Stefan E. Hößl jedoch nicht, sondern stellt fest, „dass Antisemitismus fragmentarisch – und eben nicht als mehr oder weniger geschlossene Weltanschauung – zum Tragen kommt“. Es gibt Offenheit für Dialog, friedliche Lösungen, beispielsweise in Anerkennung des Judentums als „Buchreligion“. Das ist die eine Seite, die andere ist die Einschätzung der Juden beziehungsweise des Staates Israel als Verursacher von Leid bei den als Muslim*innen wahrgenommen Palästinenser*innen, mit deren Opfer-Status sich die jungen Muslim*innen in Deutschland wiederum identifizieren. Für einige wird die Unterstützung der Palästinenser*innen „religiös-normative Pflicht“.

Aus der Untersuchung Stefan E. Hößls schließe ich, dass Religion nicht unbedingt als Ursache von Antisemitismus bei Muslim*innen fungiert, wohl aber vorhandene antisemitische Motive und Einstellungen verstärken kann. Der Nah-Ost-Konflikt triggert antiisraelische und schließlich antisemitische Stereotype, die durch die Erfahrung von Diskriminierung und Ohnmacht im alltäglichen Leben wie im Verhältnis zum weltpolitischen Geschehen bedingt mit der Zeit den gesamten Diskurs dominieren. Es gibt Vergleiche zwischen dem Geschehen in Afghanistan und Israel, dem Verhalten der USA und Deutschlands in diesen Regionen. Näheres wissen die Gesprächspartner*innen eigentlich nicht, vieles ist Hörensagen, einer der Gesprächspartner ist davon überzeugt, dass die USA – er bezieht sich auf Barack Obama – von einem „Rat der Juden“ gesteuert werde, die Synagoge ein „Judenzentrum“ wäre, der ehemalige iranische Regierungschef Ahmadineschād mit Atombomben Grenzen zeigen wolle. Ein Gesprächspartner verwechselt Palästina und Pakistan. Ein Einzelfall?

Es gibt auch andere Ansichten. Eine 1994 geborene junge Frau betrachtet den Nah-Ost-Konflikt als einen Konflikt zwischen Erwachsenen, die nicht darüber nachdenken, was dies für Kinder, für junge Menschen bedeutet. Sie spricht von einer „Gewaltspirale“, sie lässt an keiner Stelle antisemitische „Grundhaltungen“ erkennen. Diese junge Frau ist sozusagen das Gegenbild zu einem jungen Mann, in dessen „Augen das eigene Muslim-Sein insbesondere dahingehend bei der Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikts zum Tragen kommt, als dass er dort auf das Notleiden von Menschen fokussiert – so wie er angibt, es auch in seiner Gemeinde wahrzunehmen.“ Letztlich scheint das Ausmaß des Gefühls, von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu werden, darüber zu entscheiden, wie stark Identifikationsmöglichkeiten in anderen Communities gesucht und angenommen werden, zu denen dann schließlich die palästinensische Community gehört.

Intersektionelle Wirkungen

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat eine Studie mit dem Titel „Muslimisch sein im Sicherheitsdiskurs“ gefördert. Die Autor*innen, Iman Attia, Ozan Zakariya Keskincılıç und Büşra Okcu haben sie 2021 im Bielefelder transcript-Verlag veröffentlicht. Der Untertitel: „Eine rekonstruktive Studie über den Umgang mit dem Bedrohungsszenario“. Die Studie dokumentiert die Ergebnisse von Gesprächen mit 24 Muslim*innen. Sie kommt zu folgendem Ergebnis: „Der hegemoniale Sicherheitsdiskurs konstruiert ‚Muslim*innen‘ aufgrund ihrer (zugeschriebenen) Religion, Kultur und / oder Herkunft als Bedrohung und nimmt sie ins Visier strafrechtlicher Maßnahmen, interdisziplinärer Forschung sowie pädagogischer und politischer Programme. (Als) Muslim*innen (Markierte) werden beobachtet, vermessen und diszipliniert, der Sicherheitsdiskurs zielt auf ihr Verhalten, ihre Wahrnehmung und ihre Bewegung im öffentlichen Raum, mit dem Ziel, sie (in-)direkt unter der Figur der ‚deutschen Leitkultur‘ zu führen.“

Mit dem „Sicherheitsdiskurs“ wird das Grundgefühl der Diskriminierung verschärft. So entsteht „ein Klima der Verdächtigung und Grenzziehung, das auch das Verhältnis innerhalb der Community berührt. Die Diskussionsteilnehmer*innen berichten davon, zu sicherheitsrelevanten Themen und Fragen Rede und Antwort stehen und sich von ‚bösen‘ Muslim‘innen distanzieren und zu ‚liberalen‘, ‚konservativen‘ und anderen Abstufungen von Muslimischsein positionieren zu müssen.“ Der psychische und soziale Druck ist erheblich. Aus diesem Druck entsteht „in der Dynamik der Gespräche selbst eine gelebte Praxis der Solidarisierung und des Widerstands gegen allzu große Vereinnahmung durch die Dominanzgesellschaft“.

Ich verwende lieber den Begriff der Mehrheitsgesellschaft, weil nicht jede Mehrheit gleichzeitig auch dominant sein muss. In diesem Kontext ist der Begriff der „Dominanzgesellschaft“, verbunden mit dem Begriff der „Leitkultur“, jedoch gerechtfertigt. Es geht um sprachliche, emotionale und soziale Gewalt. Muslim*innen haben das Gefühl, sie stünden „unter Generalverdacht (…), sodass sie häufig mehr mit ihrer Verteidigung und Außenwahrnehmung beschäftigt sind als mit ihren community-internen Interessen und ihrem allgemeinen, gesellschaftlichen Engagement. Sie bemängeln die Intransparenz sicherheitspolitischer Apparate und Begriffsinstrumente und fordern, dass auch ihren Sicherheitsbedürfnissen und Schutzinteressen angesichts des antimuslimischen Rassismus Rechnung getragen wird.“

Diese Ergebnisse unterstreichen die Ergebnisse von David Ranan und Stefan E. Hößl. Ehtnische, religiöse und soziale Elemente vermischen sich und sorgen schließlich für ein Konstrukt mit der Bezeichnung „Islam“. Jede*r Muslim*in muss sich zu diesem Konstrukt verhalten, und letztlich geschieht das, was bei solchen Zuschreibungen immer geschieht: irgendwann glauben die Adressat*innen dieses Diskurses selbst, dass sie so sind wie die Mehrheitsgesellschaft sie sieht. Ihnen bleibt keine Alternative außer „sichtbar bleiben als Ausgeschlossenes, sodass es das Innen weiterhin konstituieren kann.“

Dies alles entschuldigt keinen einzigen An- und Übergriff auf Jüdinnen*Juden, keine antisemitische Äußerung, keine israelfeindliche Hetze, aber es erklärt, warum sich in der muslimischen Community so viele Menschen, vor allem auch junge Menschen finden, die sich in dem Leid von Palästinenser*innen, die sie überhaupt nicht kennen, spiegeln. Es ist kein Zufall, dass unter den Teilnehmenden an den sogenannten Al-Quds-Demonstrationen viele junge Muslim*innen sind, die schon in der dritten oder vierten Generation in Deutschland leben. Die „internationale Solidarität“ der antikolonialen Befreiungsgruppen der 1960er und 1970er Jahre hat neue Anhänger*innen gefunden. Heute dominiert so etwas wie eine „internationale muslimische Solidarität“. Die religiöse Begründung des muslimisch konnotierten Antisemitismus erscheint eher nachgeschoben, dürfte wegen der Diskriminierungserfahrung und der Sehnsucht nach einer Geborgenheit gebenden Familie intersektionell wirken.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2021, alle Internetzugriffe zuletzt am 4.8.2021.)