Die Büchse der Pandora
Anastassia Pletoukhina über zehn Monate 7. Oktober
„Wir haben noch keinen Begriff davon und wir haben noch keinen Begriff dafür. Manche vergleichen das, was in jenem Morgengrauen des 7. Oktober losbrach, mit einem Pogrom aus früheren Zeiten, doch die Verbrechen der Hamas waren nicht die ungezügelte Ausschreibung eines aufgebrachten Mobs. Das war kein Exzess, bei dem durchbricht, was gerne als Volkszorn bezeichnet wird. Genauso verfehlt ist es, von Terroranschlägen zu reden, denn all diese Worte verschleiern den militärischen Charakter der Massaker. Die Untat war von langer Hand vorbereitet worden. (…) Die Bluttat folge einem ideologischen Programm.“ (Doron Rabinovici, Im Morgengrauen – Verbrechen und Auslöschung, in: Tania Martini, Klaus Bittermann, Hg., Nach dem 7. Oktober – Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen, Berlin, Edition Tiamat, 2024.)
Tania Martin und Klaus Bittermann haben 25 Texte zusammengestellt, Texte, die in verschiedenen Zeitungen erschienen – einige davon wurden auch im Demokratischen Salon in dem ein oder anderen Newsletter vorgestellt – und einige Originalbeiträge, die die Konsequenzen des 7. Oktober in unserer Gesellschaft und in der Politik dokumentieren. Was ist da eigentlich geschehen? Nicht dies ist die entscheidende Frage, denn all das wissen wir, nicht zuletzt, weil die Terroristen der Hamas ihre Verbrechen selbst gefilmt, ins Netz gestellt und sogar den Angehörigen ihrer Opfer geschickt haben. Die entscheidende Frage hingegen lautet: Was geschah in den vergangenen zehn Monaten, was geschieht jetzt? Nicht zuletzt angesichts der andauernden anti-israelischen Proteste mit Besetzungen, Gewaltaufrufen und der Markierung zukünftiger Opfer mit einem umgedrehten roten Dreieck?
Anastassia Pletoukhina, die sich beruflich in der Jewish Agency for Israel und ehrenamtlich als Vorsitzende des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks engagiert, spricht davon, dass die „Büchse der Pandora geöffnet“ wurde. Jüdinnen und Juden werden bedroht, sie sind an keinem Ort der Welt mehr sicher. In ihrem Buch „Doing Judaism“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2023) hatte Anastassia Pletoukhina die Gefühlslage, den Alltag, die Akzeptanz wie auch die erlebten Bedrohungen des Jüdischseins unter jungen Jüdinnen:Juden in Deutschland dokumentiert. Das Buch war Anlass eines Gesprächs, das im Demokratischen Salon unter der Überschrift „Inklusiv, pluralistisch, demokratisch“ veröffentlicht wurde.
Anastassia Pletoukhina hat den Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 überlebt. Ihr Schlusswort als Nebenklägerin hielt sie am 18. Dezember 2020. Sie schloss mit den Worten: „Ich spreche für mich und sage: Ja, ich will hier in diesem Land bleiben. Ich stelle aber einige Bedingungen. Und sie lauten: Zuhören, Ernstnehmen, reflektieren, Fehler bekennen und im Sinne der Demokratie handeln. Doch in erster Linie den Menschen sehen und keine Angst vor dem Mitfühlen haben.“ Und heute? Zehn Monate nach dem 7. Oktober?
Der längste Tag …
Norbert Reichel: Der 7. Oktober bestimmt auch nunmehr fast zehn Monate danach unser Denken, Handeln und Leben. Es lässt sich eigentlich kein Gespräch über das Jüdischsein in Deutschland beginnen, ohne dieses Datum zu benennen und zu reflektieren. Wie hat der 7. Oktober Ihr Leben, in der Familie, bei Ihrer Arbeit in der Jewish Agency, in der Öffentlichkeit verändert?
Anastassia Pletoukhina: Zehn Monate! Ich sah am 21. Juni einen Post auf Instagram, der großen Widerhall gefunden hat: Es wäre nicht an diesem Tag der längste Tag, der längste Tag war der 7. Oktober 2023. Dieser Tag dauert immer noch an, weil die Geiseln immer noch nicht befreit sind. Das Wort „her“ trifft es nicht, denn es war nicht ein einzelnes Event, ein einzelnes Ereignis. Es dauert an, auf verschiedenen Ebenen. Auf einer Ebene die absolute Katastrophe des 7. Oktober. An diesem Tag war Schabbat, es war der zweite Tag von Sukkot, ein Tag, an dem wir normalerweise keine technischen Geräte benutzen und auch sonst keinen Zugang zu den Medien haben.
Mein Mann, das Baby und ich waren bei meinen Eltern. Es war der zweite Sukkot-Tag, an dem wir nicht in der Synagoge waren, sondern zu Hause. Mein Vater ist nicht jüdisch, er hatte die Nachricht überbracht, dass es den Anschlag, den Angriff auf Israel gab. Er hat sofort die Nachrichten angemacht und wir waren wie gefesselt. Wir konnten nicht hingucken. Es war absolut unglaublich, wir konnten es überhaupt nicht fassen, auch weil wir wie viele Israelis uns völlig sicher waren, dass diese Grenzen schottendicht sind. Es war fast undenkbar, wie es dazu kommen konnte, dass eine Base, sogar mehrere angegriffen werden konnten, dass ein Festival Ort eines Massakers wurde.
Wir haben keine direkten Verwandten in Israel, aber einige Freund:innen, die so etwas wie Wahlfamilie sind, dann trotz des Feiertags kontaktiert, obwohl es klar war, dass sie wahrscheinlich nicht betroffen waren, weil sie nicht in der betroffenen Region leben. Aber das heißt natürlich nichts, denn auch damals als wir in Halle waren, waren wir nicht alle, die wir in der Synagoge von Halle ausharren mussten, Mitglieder der dortigen Gemeinde. Wir haben nachgefragt, ob unsere Freunde in Sicherheit sind, ob die Terroristen weiter in das Land vordrangen. Wir haben wie gebannt die steigenden Zahlen der Opfer gesehen. Ich bin keine Israelin. Für mich ist es noch einmal eine andere Wahrnehmung. Wir haben Freunde, deren Familien kommen aus den Kibbuzim oder aus Kibbuzim der Nähe. Wir sind nicht Bürger:innen des Landes, wir sind trotzdem dem Land verbunden. Das ist noch einmal eine andere Betroffenheit.
Ich muss ehrlich sagen: Es war ein Moment, in dem ich mich wiederum – auch wenn sozusagen per proxi – so ungeschützt fühlte. Wir sind in Deutschland erheblich von Antisemitismus betroffen. Aber für uns war Israel eine sichere Festung. Da wären wir auf jeden Fall sicher. Ich weiß, dass diese Sicherheit sehr viel Steuergeld kostet. Israel ist ein Land wie jedes andere, und ich weiß, dass es auf den Schultern der israelischen Steuerzahler getragen wird. Trotzdem: Das Gefühl, dass wir in Israel sicher wären, war so sehr ins Schwanken gekommen, dass ich das Gefühl hatte, wir wären nur noch auf einem anderen Planeten sicher.
Dieses Gefühl dauert immer noch an, weil es kurze Zeit danach Aufrufe von verschiedenen terroristischen Organisationen zum Mord an allen Juden:Jüdinnen weltweit gab, dass es weiterhin Übergriffe auf Synagogen von Anhängern islamistischer Gruppierungen in Deutschland gab, weil es weiterhin Demonstrationen islamistischer Gruppierungen – Stichworte Essen und Hamburg – gab.
Weil wir merkten, dass wir als demokratischer Staat erst einmal einordnen müssen, was wir verbieten können, was nicht, wo die Grenze zwischen Meinungsäußerung und Aufruf zu Gewalt liegt. Auch die Übergriffe auf Studierende und all das, das heute an deutschen Hochschulen geschieht und immer noch andauert! Ich bin gespannt, ob die Studierenden in den Semesterferien zur Ruhe kommen. Aber das, was wir zurzeit an der HU und der FU in Berlin erleben, die offenen Briefe der Lehrenden…
Der Tag dauert immer noch an. Natürlich ist auch Krieg, aber unabhängig vom Krieg habe ich das Gefühl, dass eine Pandora-Box geöffnet wurde. Ich habe das Gefühl, dass unsere Sicherheit als Jüdinnen und Juden in der Welt zurzeit sehr stark schwankt. Auch die jüngsten Terroranschläge in Russland, in Machatschkala und Derbent, tragen dazu bei.
All diese Gleichzeitigkeiten
Norbert Reichel: Manchmal habe ich den Eindruck, dass viele Jüdinnen:Juden, aber auch viele nicht jüdische Menschen, zwischen zwei Bedrohungen leben. Auf der einen Seite die Hamas und all die antisemitischen und antiisraelischen Proteste, auf der anderen Seite die israelische Regierung, von der man nicht weiß, welche Prioritäten sie tatsächlich verfolgt, wie auch die Demonstrationen in Jerusalem und in Tel Aviv zeigen. Teilen Sie diesen Eindruck?
Anastassia Pletoukhina: Jein. Ich geh noch einmal ganz kurz zur ersten Frage zurück. Denn in den zehn Monaten ist doch viel passiert. Sie sprachen bereits meine Arbeit in der Jewish Agency an. Da ist es gerade zu spüren, was es bedeutet, für einen israelischen Träger zu arbeiten. Es ist natürlich mit einer besonderen Sichtbarkeit verbunden, einer besonderen Gefährdung. Wir haben jetzt einen Sicherheitsbeauftragten im Büro. Wir dürfen nicht mehr alle Tage in unser Büro in Wilmersdorf. Von außen ist nicht sichtbar, dass dort eine israelische Organisation arbeitet. Aber dennoch dürfen wir immer noch nur einen Tag ins Büro und arbeiten die anderen Tage im Home-Office, weil die Gefahr als so hoch eingestuft wird. Gleichzeitig habe ich gemerkt, wie schwer es ist, mit meinen Israelischen Kolleg:innen über das Ganze zu sprechen, über den Krieg zu sprechen, über den Anschlag zu sprechen. Wie wir darüber sprechen, das ist etwa der Modus, wie gesprochen wurde, als wir den Anschlag in Halle überlebt haben. Wir sind in der Diaspora zwar betroffen, aber anders. Die Bevölkerung in Israel, vor allem die Menschen, die in der Region leben, sind hochtraumatisiert, sie befinden sich in einem Überlebensmodus. Da ist eine bestimmte Distanz, da ist sehr viel Gefühl, Emotion. Damit versuchen wir jetzt zu arbeiten.
Wir hatten zum Beispiel im Januar 2024 in Potsdam eine Konferenz für junge engagierte Erwachsene, die wir schon ein Jahr zuvor geplant hatten. Wir hatten Themen gesetzt, wie wir beispielsweise auf die Demonstrationen gegen Netanjahu und seine Regierung eingehen, wie wir über gesellschaftliche Fragen sprechen, diese von verschiedenen Seiten beleuchten, die verschiedenen Auswirkungen und Perspektiven, darüber, wo wir jetzt stehen. Am 7. Oktober war dann klar, dass wir unseren Plan schon aufrechterhalten konnten, aber dass wir auf jeden Fall inhaltlich woanders hinmussten. Das haben wir gemacht: Wir haben zwei Überlebende des Anschlags – Anschlag ist zu wenig – des Massakers eingeladen, die berichteten. Eine war noch rechtzeitig vom Festival weggefahren, sie hatte dort viele Freund:innen verloren, die es nicht so schnell geschafft hatten, wegzukommen. Eine andere war Bewohnerin eines angegriffenen Kibbuz. Sie haben erzählt, wir haben das ganze Wochenende mit ihnen verbracht, wir haben in verschiedenen Formaten darüber gesprochen.
Das war unglaublich wichtig für uns hier in der Diaspora. Wir haben auch viele Israelis hier, die sozusagen zwischen zwei Ländern leben. Wir haben Menschen, die sich gar nicht mit Israel identifizieren, die Israel für wichtig erachten, aber persönlich wenig damit verbinden. Wir haben Menschen, die sehr verbunden sind mit Israel. Es gibt sehr sehr verschiedene Hintergründe der Verbundenheit mit Israel. Trotzdem die allen gemeinsame Frage: Was haben wir als deutsch-jüdische Community damit zu tun, wie werden wir auch von Israel gesehen? Was können wir sagen, was dürfen wir sagen, wie dürfen wir interagieren? Wie finden wir uns zusammen?
Ich erinnere mich auch an Halle, die Betroffenheit anderer war eine andere als unsere, die wir in der Synagoge überlebt hatten. Es war schwierig, auch die Betroffenheit von Angehörigen mitzutragen. Das hat etwas gedauert, bis es möglich war zu sagen, ich habe meinen Leidensdruck so weit aufgearbeitet, dass ich auch deinen sehen kann. Auf der anderen Seite die Frage: Wie können wir einander bestärken und einander Resilienz geben? Das haben wir auf verschiedenen Ebenen miteinander auf dieser Konferenz in Potsdam ausgearbeitet. Das war sehr heilsam.
Norbert Reichel: Gibt es eine Aufzeichnung der Konferenz?
Anastassia Pletoukhina: Nein, das war ein Safe Space. Es war nur intern, nur für die Community. Es war auch ungewöhnlich für die beiden Überlebenden. Sie sprechen mit und vor sehr vielen Leuten, in der Öffentlichkeit. Für sie war es etwas Besonderes, hier in einer exklusiv jüdischen Community zu sprechen.
Da kamen natürlich auch solche Fragen wie die nach deutscher Schuld. Eine der Überlebenden sagte, ihr braucht euch nicht schuldig zu fühlen. Sie sagte das auf Englisch: Free yourself from this guilt. Dieser Satz ist hier aber schon ganz anders besetzt, befreit Gaza von eurer deutschen Schuld. So kamen wir ins Gespräch, wie wird man hier, wie wird man in Israel darauf angesprochen? Sie war sehr überrascht, weil das überhaupt nicht auf ihrem Spektrum war, dass wir mit solchen Sachen konfrontiert sind. Das war ein Aha-Effekt, wie sehr wir miteinander verbunden werden und auch sind. Ein weiteres Anliegen war, so wie der Krieg fortschritt, auch, sich Gedanken darüber zu machen ohne zu urteilen. Sie sagten, wir stecken zwischen Hamas und Netanjahu. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir als deutsche Jüdinnen:Juden jetzt in der Situation stecken, dass wir eine Meinung dazu aussprechen können, …
Norbert Reichel: …können oder sollten?
Anastassia Pletoukhina: Ich persönlich würde sagen: können. Sollten? Das ist noch eine ganz andere Frage. Können. Wir sind ja nicht tagtäglich dort. Es gibt so viele Gleichzeitigkeiten, die wir von außen nur sehr schwer nachvollziehen können.
Ein Beispiel: Ich habe in der Jüdischen Allgemeinen vom 20. Juni 2024 den Artikel von Ayala Goldmann gelesen. Sie hat das sehr plastisch dargestellt.
Norbert Reichel: Titel des Essays war „Warum?“, Anmoderiert wurde er mit dem Satz: „Der Sohn meiner Freundin in Israel muss wieder als Soldat nach Gaza in einen Krieg, der nicht mehr zu gewinnen ist.“
Anastassia Pletoukhina: Sie spricht von ihrer Freundin, deren Sohn in Gaza dient, der auch tatsächlich an der Front ist, dem Ganzen ausgesetzt ist, der sagt, es gibt Soldat:innen, die ganz unterschiedlich agieren. All diese Gleichzeitigkeiten. Die sind von außen supersuperschwer nachzuvollziehen. Da bewegen wir uns zwischen der Frage: Ist denn Hamas ausgelöscht, wenn der Krieg vorbei ist? Oder wird der Krieg nur neue Anhänger und Terroristen für Hamas rekrutieren? Wird ein Ende des Krieges die Geiseln zurückbringen? All diese Gedanken sind da. Der Wunsch, der Traum, dass es „einfach aufhört“, ist schon da, mit jedem Angebot zum Waffenstillstand gibt es einen Schimmer Hoffnung, abgesehen davon, was an der libanesischen Grenze geschieht.
Wir schauen in und aus Deutschland nach Israel – das ist meine Meinung, das ist kein Statement der Jewish Agency – da ist meine Vorsicht, aber wir sollten jetzt nach dem westlichen Wertesystem urteilen, was passieren soll, was nicht. Wir stecken nicht in der Situation, wir sind nicht von Regionen umgeben, die zum Teil von terroristischen Gruppen regiert werden, die alle Autokratien sind. Wir können nicht erwarten, dass wir dieselbe Sprache sprechen. Wir sprechen nicht dieselbe Sprache. Woher sollen wir es wissen? Das ist meine Vorsicht, die ich immer in mir trage, um nicht zu voreilig zu sagen, so und so muss es sein. Deshalb fand ich den Artikel von Ayala so plastisch, weil sie eben nicht sagte, so und so muss es sein. Sie nannte die Herausforderungen, die da sind, die Wünsche, dass es aufhört, auch Empathie und Verständnis dafür, dass jetzt unglaublich viele unschuldige Menschen sterben, Israel aber nicht in der alleinigen Verantwortung für deren Sterben steht. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass diese Komplexität nicht aus den Augen verloren wird.
Jetzt wird sehr viel reduziert, jetzt wird gerade bei den Demonstrationen immer wieder gesagt, es ist doch ganz einfach. Nichts ist einfach, nichts ist schnell gelöst.
Rückkehr zu alten Mustern?
Norbert Reichel: Dazu gehört auch ein Blick auf die Medien. Wir wissen, wie palästinensische Terroristen vorgehen. Wenn aber jetzt ein einzelner israelischer Soldat oder eine kleine Gruppe israelischer Soldat:innen etwas tut, das nicht vom Kriegsrecht abgedeckt wird, wird dies in den Medien sofort aufgebauscht. Da war das Foto mit einem palästinensischen Gefangenen, der auf die Kühlerhaube eines Autos der IDF gebunden war, da waren die Berichte über ein Gefangenenlager, in dem palästinensische Gefangene in einer Halle auf Pritschen festgebunden waren, nackt mit Ausnahme einer Windel, die ihnen umgebunden war. Dies wird als typisch hingestellt, obwohl die israelische Justiz gegen solche Übergriffe vorgeht. Es wird ermittelt.
Ich hatte unmittelbar nach dem 7. Oktober den Eindruck, dass die Solidarität in Deutschland groß war. Ich habe versucht, die ersten beiden Wochen in den Medien mit meinem Essay „Das Pogrom“ zu dokumentieren. Damals machte ich mir keine Sorgen, inzwischen schon. Einfach, weil das Verhältnis nicht mehr stimmt. Ich frage mich, woran das liegt? Einfach nur daran, dass Netanjahu uneinsichtig erscheint und in Israel selbst stark kritisiert wird? Oder liegt es daran, dass man in Deutschland wieder zu alten Mustern zurückkehrt? Das war ja ein Muster in der Berichterstattung, zum Beispiel: „Drei Palästinenser getötet“ und erst mehrere Zeilen später so ganz am Rande, dass diese Palästinenser einen terroristischen Anschlag verübt hatten, bei dem Israelis getötet oder verletzt wurden. Die Kritik traf zuerst immer Israel und die IDF.
Anastassia Pletoukhina: Ich war über diese Solidarität zu Beginn sehr überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet, auch nicht damit, dass das so lange anhielt. Ich stimme Ihnen zu, es ist eine Rückkehr zu alten Mustern. Ich glaube auch, weil es jetzt nach außen so wirkt, als wenn die Machtverhältnisse wieder anders verteilt wären. Das ist auch in Israel so, dass sich die Demonstrationen gegen die Regierung wieder verstärken, mit der Forderung nach einem Waffenstillstand.
Es ist eine offene Frage, was mit der Regierung geschieht. Geht es um ihren Selbsterhalt? Die Stärke Israels ist gewissermaßen wieder hergestellt. So etwa: Wir haben erreicht, was wir erreicht haben, alles weitere wäre dann Mord. So ist es auch in den Medien: Wir haben ja in Deutschland und in anderen Ländern auch die andere Seite der Zivilgesellschaft, die weiter gegen Israel demonstriert und dem Antisemitismus weiteren Raum verschafft. Davon wird nicht genügend gedruckt. Wir haben auch eine starke Hemmung in der Regierung, jetzt gerade mit dem offenen Brief von etwa 300 Hochschuldozent:innen aus allen Hochschulen Berlins und weiteren wissenschaftlichen Organisationen. Das war für mich als einer dem Akademischen nahen Person ein totaler Widerspruch.
Einerseits sagten die Lehrenden, sie sprechen gegen die Polizeigewalt, weil das friedliche Proteste waren. Das ist der erste Punkt: Es waren zum Teil keine friedlichen Proteste, es gab Gewaltaufrufe, es gab gewalttätige Übergriffe gegen jüdische Studierende und Aktivist:innen, die sich für Israel stark gemacht haben, es gab Sachbeschädigung, sämtlich Vorfälle, die nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Auf der anderen Seite schrieben sie, als Lehrende gehe es ihnen um Dialog, sie müssten auf die Studierenden eingehen. Niemand von den Protestierenden wollte darauf eingehen. Ich bezweifele sehr deren Dialogbereitschaft. Die Hochschulleitungen waren zu verschiedenen Zeitpunkten auch damit gescheitert, sie wurden ausgebuht, Versuche, die israelische Seite ins Gespräch einzubeziehen, wurden von den Protestierenden torpediert.
Das hatte nichts mit Wissenschaftsfreiheit zu tun. Zwei Drittel der Beteiligten waren keine Studierenden, sie waren an den Hochschulen nicht immatrikuliert. Deshalb war dieser Brief so fernab von der Realität. Auch die Reaktion der Bildungsministerin, ihre Staatssekretärin vor die Hunde zu werfen, war alles andere als eine starke Reaktion.
Norbert Reichel: Sabine Döring ist eine Wissenschaftlerin mit sehr differenzierten Standpunkten, die in der Partei, für die sie als Staatssekretärin tätig war – nicht als Mitglied, denn sie ist nicht Mitglied dieser Partei –, nicht unbedingt beliebt sein dürfte. Sie sagt, individuelle Freiheit hat ihre Grenze, wo sie die Freiheit anderer einschränkt oder gar gefährdet. Am 10. Juli 2024 hat sie sich in der ZEIT aus meiner Sicht sehr differenziert zu dem Thema geäußert: „Wenn Meinungen dazu angetan sind, praktische Konsequenzen nach sich zu ziehen, und Menschen dadurch geschädigt werden, dann endet die Meinungsfreiheit. Aus meiner Sicht spielt dieser Unterschied auch bei der Wissenschaftsfreiheit eine Rolle. (…) Teilnehmer eines wissenschaftlichen Diskurses werden nicht erst dann geschädigt, wenn sie buchstäblich verprügelt werden.“
Es wäre eigentlich ganz einfach. Meinungsfreiheit und Koalitionsfreiheit haben eine klare Grenze, das ist das Strafrecht, im konkreten Fall wären von der Staatsanwaltschaft zu prüfen: Haus- und Landfriedensbruch, Volksverhetzung, Nötigung, Körperverletzungen und Sachbeschädigung. Mit Wissenschaftsfreiheit hat das nichts zu tun. Wo sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wissenschaftlichen Forschungen, denen zufolge ein Camp und eine Besetzung beziehungsweise Blockade erforderlich wären, um diesen Raum und Stimme zu geben? Ich denke eher, wenn der Auftrag im Hinblick auf den möglichen Rückzug von Fördermitteln – wie auch immer er aussah – innerhalb des Ministeriums nicht geprüft worden wäre, hätte die konservative Opposition, möglicherweise auch Angehörige aus Regierungsfraktionen, im Bundestag genau dies verlangt, um die Regierung in die Defensive zu bringen.
Das ist eine meines Erachtens ziemlich verheuchelte Debatte. Fakt bleibt, dass es die von Ihnen genannten Straftaten gab und ich hoffe, dass niemand unter den Dozent:innen, die den offenen Brief unterschrieben, sich sagen lassen möchte, sie unterstützten Straftaten. Aber die gesamte Presse – außer der Jüdischen Allgemeinen – fuhr jedoch genau auf diesen Punkt der Wissenschaftsfreiheit ab.
Meines Erachtens ist die Stimmung in der Bevölkerung sicherlich nicht unbedingt gekippt, aber sie scheint mir zu einer „Normalität“ zurückzukehren oder zurückkehren zu wollen, die es auch zuvor gar nicht gab.
Anastassia Pletoukhina: Zurückzukehren, das ist das eine, aber es wird auch weiterhin alles mitgeschleppt, das aus dieser Pandora-Box jetzt herausgekommen ist. Auch diese Gewaltbereitschaft, das Gefühl auf der gesellschaftlichen Ebene, immer zu wissen, wer die Guten, wer die Bösen sind, auch auf der politischen Ebene. Ich war Mitglied der Delegation des Bundespräsidenten bei seinem Besuch in Norwegen zum Jahrestag des Anschlags auf Utǿya. Utǿya war und ist auch heute noch ein Ferienlager der norwegischen sozialdemokratischen Partei.
Ich traf dort die Vorsitzende der Jugendorganisation der norwegischen sozialdemokratischen Partei, eine Überlebende des Massakers. Sie ist ein Star, sehr beliebt, viele sind sicherlich gekommen, um sie zu sehen. Sie war wohl wichtiger als der Ministerpräsident oder der Bundespräsident. Eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Wir sprachen auf einem Podium über unsere Erfahrungen, über Aufarbeitung und Resilienz. Zum 7. Oktober – das war ihre klare Linie – sagte sie, wir sind verbunden mit unseren Brüdern und Schwestern der Fatah. Das hatte sie zu einem Zeitpunkt gesagt, als die Fatah aufgerufen hatte, alle Jüdinnen und Juden zu ermorden. Ich habe die junge Sozialdemokratin darauf angesprochen. Sie hat sehr relativistisch geantwortet. Das war für mich ein sehr beunruhigendes Zeichen, das sich auch in der Anerkennung eines palästinensischen Staates durch Norwegens widerspiegelte. Das macht mir große Sorgen.
Ist Dialog noch möglich?
Norbert Reichel: Das sollte einem in der Tat Sorgen machen, aus mehreren Gründen: Die Fatah ist Mitglied der Sozialistischen Internationalen.
Anastassia Pletoukhina: Und sie hat eine Woche nach dem 7. Oktober dazu aufgerufen, Jagd auf Juden zu machen. Sie hat sich in keiner Weise von der Hamas distanziert.
Norbert Reichel: Die antisemitischen Äußerungen von Mahmud Abbas sind bekannt, auch wenn manche sie lieber ignorieren möchten.
Anastassia Pletoukhina: Das Problem liegt auch darin, dass die norwegische Regierung und einige andere Palästina jetzt zu diesem Zeitpunkt anerkennen, mit der jetzigen Führung. Ich finde das sehr beunruhigend.
Norbert Reichel: Ich frage mich, was dahintersteckt. In der taz vertrat Meron Mendel im einem Interview die Auffassung, dass Deutschland und die EU dem Beispiel Spaniens, Irlands, Sloweniens und Norwegens zur Anerkennung eines palästinensischen Staates folgen sollten. Er argumentierte, dass diese Anerkennung nicht auf das Konto der Hamas einzahle, auch wenn diese versuchen werde, es als ihren Erfolg darzustellen, sondern auf das der Palästinensischen Autonomiebehörde. Es gehe darum, Netanjahu zu signalisieren, dass es in Zukunft nur eine Lösung des Konflikts geben könne, wenn die Zwei-Staaten-Lösung umgesetzt werde, auch um so mit Unterstützung der USA und der EU und – so hofft er – den sunnitischen arabischen Staaten ein „Gegengewicht zu Iran und Russland (zu) schaffen“. Ob der Zeitpunkt jetzt richtig oder falsch ist, ist eine andere Frage. Nur was triggere ich mit einer solchen Anerkennung, was, wenn ich nichts tue? Eine Anerkennung zu diesem Zeitpunkt sieht schon fast wie der sprichwörtliche Rutschbahneffekt aus, aber egal, was ich tue oder nicht tue, es scheint immer falsch zu sein. Oder liege ich falsch?
Anastassia Pletoukhina (zögert): Nein (zögert). Weiß ich nicht. Für mich stellt sich immer die Frage, wer spricht über was und wie viel weiß er oder sie über das Ganze? Mir macht die Ebene der Regierungen Sorge, weil das Menschen sein sollten, die eigentlich genauer Bescheid wissen sollten.
Norbert Reichel: Eigentlich.
Anastassia Pletoukhina: Eigentlich. Ich denke, in einem gewissen Grade soll so die Wählerschaft gewonnen werden. Und das ist hochgefährlich, denn die Botschaft richtet sich nicht an die Palästinenser, sondern an die eigenen Wählerinnen und Wähler. Das ist fahrlässig, gefährlich.
Norbert Reichel: Ich hatte zuletzt ein Interview mit Shlomit Tripp veröffentlicht, in dem wir auch darüber gesprochen haben, ob und wie sich der interkulturelle Anspruch ihres Puppentheaters nach dem 7. Oktober noch verwirklichen ließe. Sie sagte, es sei extrem schwierig geworden, die türkische und die arabische Community seien so gut wie nicht mehr erreichbar. Dialog sei so gut wie nicht mehr möglich. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?
Anastassia Pletoukhina: Beruflich betrifft es mich tatsächlich weniger als im privaten Engagement. In der Jewish Agency gibt es weniger Dialogprojekte, sondern eher die Unterstützung von Initiativen, darunter natürlich auch das ein oder andere Dialogprojekt, aber das sind wenige. Aber durch das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk hatte ich immer schon guten Kontakt zum Avicenna-Studienwerk. Die Zusammensetzung von „Dialogperspektiven – Religionen und Weltanschauungen im Gespräch“ ist auch sehr stark von ELES-Alumni:Alumnae geprägt. Da habe ich mitbekommen, wie schwierig es ist.
Es war für Avicenna sehr schwierig, nach dem 7. Oktober die richtigen Worte zu finden, sich öffentlich zu äußern, weil es in der Community so viele verschiedene Perspektiven gebe, sodass es schwierig sei, Stellung zu nehmen. Von uns kam die Gegenfrage: Stellung nehmen zu was? Ist es schwierig dazu Stellung zu nehmen, dass Menschen ermordet wurden? Der Krieg in Gaza war damals noch gar nicht ausgebrochen. In diesem Zeitfenster gab es Anrufe, aber es gab keine öffentlichen Statements. Mit der zunehmenden Zeit wurde das immer schwieriger. Auch für die jüdischen Teilnehmenden der „Dialogperspektiven“ wurde es immer schwieriger, sich in die Räume zu begeben, weil sie sich überhaupt nicht mehr sichergefühlt haben. Wir standen auf verlorenem Posten. Wo endet die Meinungsfreiheit? Wo beginnt die Bedrohung des anderen, wo beginnt der Angriff auf den anderen Teil der Gruppe? Dialoge und Gespräche sind schwierig.
Um den 9. Oktober 2023 herum, zum Jahrestag des Anschlags von Halle, rief mich der Bundespräsident persönlich an und fragte, wie geht es Ihnen so? Zum Jahrestag von Halle und nach dem 7. Oktober. Wir sprachen darüber, dass es natürlich Hemmungen von bestimmten Vorständen von muslimischen Gemeinschaften gibt, sich klar zu äußern, das ist die eine Sache. Die andere Sache ist aber die, dass es offenbar so schwierig für sie ist aufzustehen und zu sagen: „Not in our name“, wir unterstützen das nicht, wir verurteilen diesen Terroranschlag auf friedliche Menschen.
Wenn sie Angst haben, das anzusprechen, stellt sich die Frage, aus wem sich die Gemeinschaft zusammensetzt? Wie stark sind die menschlichen, die demokratischen Werte in dieser Community? Ist es nicht eine Aufgabe der Führung, Zeichen zu setzen und eine Richtung zu zeigen, zu sagen, ja, wir erkennen unsere Diversität an, doch gleichzeitig sind wir hier in Deutschland mit dem Wertesystem so stark verwurzelt, dass wir keine Hemmungen haben dürfen, wir sind gegen die Ermordung der Menschen in Israel, wir sind gegen die Aufrufe zum Mord an Jüdinnen und Juden, nur weil sie jüdisch sind? Nicht in unserem Namen! Wenn das schon schwierig ist, das anzusprechen, haben wir dann nicht ein viel größeres Problem? Oder vielleicht ist das Problem gar nicht da und das Problem wird erst geschaffen, weil diese Stimmen weggeblieben sind?
(Anmerkungen: Veröffentlichung im Juli 2024, Internetzugriffe zuletzt am 4. Juli 2024. Das Titelbild zeigt ein Gemälde von Benzi Brofman, Foto: Hanay, Wikimedia Commons.)