Die DDR und die Migration

Im Gespräch mit der ehemaligen Staatssekretärin Almuth Berger

„Ich weiß noch, dass ich damals mit dem Titel der Staatssekretärin relativ wenig anfangen konnte. Ich habe mir auch gar nicht klargemacht, was das für eine wichtige Stelle in der bundesdeutschen Politik war. Da hatten wir vorher nichts mit zu tun. für mich war die Funktion der Ausländerbeauftragten das eigentlich Wichtige dabei. Und wie gesagt, das musste dann sehr schnell gehen.“ (Almuth Berger im Gespräch mit Katarina Kunter, in: Katharina Kunter / Johannes Paulmann, Hg., Die unbekannten Politikverhandler im Umbruch Europas, Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht, 2023).

Im Januar 1990 kam es zur Einrichtung des Amtes einer Ausländerbeauftragten beim Ministerrat der DDR, damals noch in der „Regierung der nationalen Verantwortung“, die von Hans Modrow geleitet wurde, dann auch in der einzigen demokratisch gewählten Regierung der DDR unter dem Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Ausländerbeauftragte war die Evangelische Pfarrerin Almuth Berger, die sich in der Oppositionsgruppe „Demokratie Jetzt“ engagierte und Pfarrerin an der Bartholomäusgemeinde in Berlin-Friedrichshain war. Almuth Berger arbeitete nach dem 3. Oktober 1990 als Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg. Das zitierte Buch „Die unbekannten Politikverhandler“ wurde im Demokratischen Salon unter dem Titel „Eine unerzählte Geschichte“ vorgestellt.

Von der evangelischen Pfarrerin zur Ausländerbeauftragten

Norbert Reichel: Unser Gespräch findet am 13. August 2024 statt, 43 Jahre nach dem Mauerbau. Wie haben Sie den 13. August 1961 erlebt?

Almuth Berger: Das ist für mich ein unvergesslicher Tag. Ich hatte gerade Abitur gemacht und war mit anderen Abiturienten auf einer sogenannten Schüler-Rüstzeit– ein kirchliches Freizeitangebot. Wir waren an der Ostsee, hatten damals natürlich keine Radios, Handys gab es noch nicht. Wir wussten überhaupt nichts vom politischen Geschehen rund um uns herum. Es war ein Sonntag und wir waren in der wunderschönen Kirche in Ahrenshoop. Der Pfarrer machte ein paar Bemerkungen, über die wir uns sehr wunderten und die wir nicht verstanden. Er sagte etwas von schlimmen Ereignissen in Berlin. Wir haben ihn dann nach dem Gottesdienst bestürmt und so von dem Mauerbau erfahren. Wir waren entsetzt. Unter uns waren viele Berliner und wir waren sehr verunsichert, weil wir nichts wussten, ob wir unsere Angehörigen wiedersehen würden. Meine Eltern waren gerade in Westdeutschland in Urlaub, meine Brüder in West-Berlin. Wir wären am liebsten alle gleich nach Hause gefahren. Der Leiter der Freizeit beruhigte uns und wir sind ein paar Tage später nach Hause gefahren. Unsere Familienangehörigen hatten alle aus dem Westen zurückkommen dürfen.

Das war eine sehr aufregende Zeit. Wir hatten alle Pläne, wir wollten Vorlesungen an den Universitäten in West-Berlin hören. Alles Träume, die wir begraben mussten. Ich wollte immer nach Afrika. Das war alles mit einem Schlag nicht mehr möglich. Insofern hat sich mir dieser Tag sehr eingeprägt. Ich habe dann mit dem Theologie-Studium angefangen.

Norbert Reichel: Aber Sie konnten das Theologie-Studium ohne Probleme absolvieren?

Almuth Berger, Foto: Der wahre Jakob. Wikimedia Commons.

Almuth Berger: Das war möglich. Ich habe mir im Laufe der Zeit gesagt, es wäre auch sinnvoll, Theologie zu studieren und dann in der DDR zu arbeiten. Man setzt sich mit seinen Träumen auseinander und sieht, was möglich ist. Später habe ich immer gesagt: Es war mein Traum, nach Afrika zu gehen, aber dieser Traum ist ganz anders wahrgeworden, die Afrikaner sind zu mir gekommen. Ich hatte später viele Kontakte mit Menschen aus afrikanischen Ländern.

Norbert Reichel: Bevor wir dieses Thema weiter ausführen: Wie wurde eine evangelische Pfarrerin zur Ausländerbeauftragten?

Almuth Berger: Es begann schon in der Regierung Modrow, der sogenannten „Regierung der Nationalen Verantwortung“. Es gab acht Minister ohne Geschäftsbereich, die in den Ministerrat geholt wurden, mitentschieden, mitgesprochen haben. Und es gab den Zentralen Runden Tisch, in dem es eine Arbeitsgruppe „Ausländer“ gab. Ich war damals in der am 12. September 1989 gegründeten Gruppe „Demokratie Jetzt“ aktiv, die in der Bartholomäus-Gemeinde entstanden war. Ich wurde von dieser Gruppe wegen meiner Erfahrungen mit den Vertragsarbeitern in die Arbeitsgruppe „Ausländer“ delegiert. Mein Mann wurde zum Moderator gewählt. Er war damals Direktor des Ökumenisch-Missionarischen Zentrums im Haus der Berliner Mission. Es gab in der Kirche viele Pfarrer und Mitarbeiter, die sich schon um Menschen aus dem Ausland kümmerten. Das Ökumenisch-Missionarische Zentrum hatte eine eigene Stelle für die Ausländerseelsorge geschaffen, eine Zeitschrift gegründet, „Nah und Fern“, alles Dinge, die es in der DDR offiziell nicht gab. Die Zeitschrift wurde nur „Für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ veröffentlicht, sie wurde mit einfachen Mitteln vervielfältigt und dann aber in vielen Kirchengemeinden der DDR verteilt und gelesen.

Schon 1988 hatten wir eine Stelle für die Begegnung von Aus- und Inländern gegründet, die Cabana. Wir sagten, wir brauchen einen Platz, wo sich Menschen aus verschiedenen Kulturen ohne Aufsicht und ohne staatliche Beaufsichtigung begegnen können. Die Gründung erfolgte trotz der Missbilligung des Stadtbezirks. Ich wurde am Tag der Eröffnung einbestellt. Mir wurde gesagt, das wäre nicht unsere Aufgabe. Meine Antwort: Zur Eröffnung ist eingeladen, soll ich jetzt einen Zettel aufhängen, auf dem steht, dass der Bezirk das missbilligt? Das wollten sie natürlich auch nicht. Die Cabana wurde gegründet und gut besucht, wöchentlich traf sich dort eine bunte Mischung von Menschen, die in Berlin und im Umfeld lebten, aus Mosambik und Südafrika aus Nicaragua, aus Syrien und Palästina, aus China, aus Polen. Es kamen auch Deutsche, die an Kontakten interessiert waren.. Eine Cabana wurde mit demselben Namen auch an anderen Orten gegründet. Die Mosambikaner waren sehr reisefreudig und haben sich dann auch an den anderen Orten, zum Beispiel in Dresden, in Gotha oder in Freiberg in der Cabana getroffen.    

Aufgrund dieser Erfahrungen wurde ich in die Arbeitsgruppe „Ausländer“ am Zentralen Runden Tisch delegiert. Ein Ergebnis des Runden Tisches war die Forderung nach einer Anlaufstelle für Menschen aus anderen Ländern in der DDR, eben eine Ausländerbeauftragte, wie man das damals nannte. Die Regierung sagte, wir machen das, erbat aber einen Personalvorschlag. Ich wurde vorgeschlagen und habe dann innerhalb einer Woche die Kanzel mit dem Ministerrat getauscht. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Ich wusste kaum, was da auf mich zukam. „Ausländerbeauftragte“ ist ja kein Beruf, den man erlernen kann, aber ich habe festgestellt, dass eine Ausbildung als Pfarrerin und Erfahrungen mit Menschen nicht die schlechteste Voraussetzung sind.

Norbert Reichel: Ein wichtiger Punkt Ihrer Arbeit als Ausländerbeauftragte beruht auf dem einstimmigen Beschluss der demokratisch gewählten Volkskammer vom 12. April 1990, Jüdinnen und Juden aus der damaligen Sowjetunion die Einwanderung in Deutschland zu erlauben.

Almuth Berger: Das war in der Tat eine wichtige Erklärung aller Fraktionen der Volkskammer in der DDR. Heute wird die Geschichte anders erzählt. Es heißt, der Bundesinnenminister, damals Wolfgang Schäuble, habe 1991 ermöglicht, dass Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion nach Deutschland kommen konnten. Das stimmt so einfach nicht. Die Anfänge lagen in der DDR. Ab Anfang 1990 und dann verstärkt durch die Volkskammererklärung kamen Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion, die vor rechtsextremen Ausschreitungen und einer „Pogrom“ – Stimmung flohen, auch in die DDR. Noch wenige Jahre zuvor wäre es undenkbar gewesen, dass Juden ausgerechnet nach Deutschland auswandern wollten. Aber es war aufmerksam registriert worden, welche Veränderungen in der DDR – auch im Verhältnis zu der kleinen Zahl von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern – vorgegangen waren. Aus der SU kamen sie damals mit einem Touristenvisum, zeigte ihre Pässe vor, in denen stand, dass sie Juden waren und wurden aufgenommen.

Der Ministerpräsident beauftragte mich mit der Vorlage für eine gesetzliche Regelung als Grundlage für die Aufnahme, Unterbringung, sowie für Möglichkeiten einer Integration. Das war schwierig, denn es durfte manches nicht vorkommen, zum Beispiel dass Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion vor Antisemitismus oder vor Gewalt fliehen mussten. Aber der am 11.7.1990 vom Ministerrat dann verabschiedete Beschluss, bot die Grundlage zum Handeln: wir konnten ein Büro einrichten, in dem sich die Ankommenden melden konnten und ihnen geholfen wurde, ein Hilfsfond wurde eingerichtet, die kleinen noch bestehenden Gemeinden und der Jüdische Kulturverein bemühten sich um die Unterstützung der neu Ankommenden. Nach dem Ende der DDR gab es erst einmal einen Stopp und viele waren sehr verunsichert.

In der Bundesrepublik gab es keine adäquate gesetzliche Regelung für die Aufnahme, wie sie in der DDR praktiziert wurde.    Die Innenministerkonferenz hat sich dann Anfang 1991 auf die Regelung verständigt, das bestehende „Kontingentflüchtlingsgesetz“ auf die jüdischen Flüchtlinge anzuwenden. . Es kamen schließlich etwa 200.000 Menschen, die heute viele jüdischen Gemeinden in Deutschland prägen. Leider gibt es immer noch ungelöste Fragen, beispielsweise die Anerkennung von Rentenansprüchen.  

Mosambik kommt nach Berlin

Norbert Reichel: Nach dem Mauerbau konnten Sie nicht nach Afrika reisen, aber Menschen aus Afrika kamen zu Ihnen.

Almuth Berger: Die ersten Kontakte waren Studierende aus Mosambik in den 1970er Jahren in Magdeburg. Es gab dort noch nicht so enge persönliche Kontakte, aber es gab einige Studenten, die kamen spät abends zu uns. Sie trauten sich nicht, am Tage in ein Pfarrhaus zu gehen, weil sie dann womöglich beobachtet worden wären. Sie haben uns von ihren Plänen und Sorgen erzählt. .

In dieser Zeit wurde  die „Schule der Freundschaft“ in Staßfurt gebaut, in der Kinder aus Mosambik unterrichtet wurden. Diese Kinder waren jahrelang von ihren Eltern und ihren Familien getrennt. Die Eltern haben das als eine Chance für ihre Kinder gesehen. Aber es ist noch eine ganz besondere Problematik mit dieser „Schule der Freundschaft“, zu der sich viel sagen ließe, nur so viel: Es ist später deutlich geworden, wie problematisch diese Art von Entwicklungspolitik ist, wenn man Kinder für viele Jahre von ihren Eltern trennt,  wenn man auf die Notwendigkeiten und Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt, denen diese Kinder  später in ihrem Heimatland begegnen, wenn man die Lehrpläne nicht daran anpasst, auch Berufe anbietet, die sie in Mosambik gar nicht ausüben konnten. Die Kinder hatten nur wenig Kontakt mit der deutschen Bevölkerung. Diese verhielt sich in diesem kleinen Ort gegenüber den Kindern mit einigen Ausnahmen eher ablehnend. Als die Kinder 1988 wieder zurückgeschickt wurden,  hatten sie dort ein ganz schwieriges Schicksal. Sie wurden vom Flugplatz direkt in die Armee geschickt, durften nicht einmal nach Hause. Die Berichte von zurückgekehrten Kindern sind erschütternd zu lesen. Es gibt ein Buch von Francisca Raposo, einer Schülerin, die ihre Erlebnisse aufgeschrieben und mit Hilfe einer deutschen Journalistin veröffentlicht hat. Ihr Buch wurde im November 2023 unter dem Titel „Von Mosambik in die DDR“ im Mitteldeutschen Verlag veröffentlicht. Dort kann man zum Beispiel nachlesen, wie hart es für sie war, vom Flugplatz weg in die Armee geschickt zu werden.

Norbert Reichel: Die Menschen aus Mosambik haben Sie in Ihrem weiteren Leben immer begleitet.

Almuth Berger: Das war für mich eine wichtige und auch sehr schöne Erfahrung, als ich Pastorin an der Bartholomäus-Gemeinde war.

Im Missionarischen Zentrum war eine Pfarrersfamilie aus Mosambik zur Weiterbildung in einer Predigerschule aufgenommen worden. Ich gehörte zu der Gruppe, die sich um diese Familie gekümmert hatte, ihnen geholfen hat, die Anfänge in einer ihnen unbekannten Stadt und Kultur zu bewältigen. Sie kamen mit drei kleinen Kindern.

Die Vertragsarbeiter aus Mosambik hatten davon gehört. Es gab unter ihnen viele Christen, die unabhängigen afrikanischen Kirchen angehörten. Die waren sehr daran interessiert, ihren Glauben auch zu leben. Im Wohnheim durften sie das nicht. Sie kamen und sagten, sie wollten jetzt Gottesdienst feiern. Der mosambikanische Pfarrer sagte jedoch, er habe keine Zeit, müsse Deutsch lernen, zur Weiterbildung, du bist hier die Pastorin, du musst das machen. Meinen Einwand, dass ich kein Portugiesisch konnte und die jungen Leute noch sehr wenig Deutsch sprachen, ließ er nicht gelten. Er sagte, das wird schon gehen. Von da an haben die jungen Mosambikaner jeden Sonntag Gottesdienst gefeiert. Ich war dabei, habe auch, soweit es mir möglich war, mitgesungen. Eigentlich machten sie das alles ganz alleine. Sie brauchten gar keinen Pfarrer. Sie wollten aber gern ein Stück Gemeinsamkeit herstellen. Ich sollte einen Text lesen, ein Gebet sprechen, einen Segen spenden.

Es war eine sehr schöne Erfahrung. Es kamen auch andere Leute aus der Gemeinde dazu, man lernte sich kennen, es entstand eine feste Gemeindegruppe, die auch zu den Gottesdiensten der deutschen Gemeinde kam, aber eben auch Platz für die eigenen Gottesdienste hatte. Das war für sie wichtig, weil sie so in ihrer Sprache, ihrer Kultur, ihrer Art feiern konnten.

Norbert Reichel: Alles in Portugiesisch oder auch in anderen Sprachen? Mosambik ist meines Wissens ein vielsprachiges Land.

Almuth Berger: Zum Teil auch in ihren Muttersprachen. Im Wesentlichen jedoch in Portugiesisch. Die Leute aus dem Norden verstanden die Leute aus dem Süden kaum, . daher einigten sie sich auf Portugiesisch. Das Ökumenische Zentrum stellte einen Portugiesisch-Lehrer ein, der mit einer ganzen Gruppe von uns Deutschen Portugiesisch lernte. Das war eine wichtige Geste unsererseits: wir wollen euch ein wenig entgegenkommen. Wir haben das nie perfekt gelernt, aber wir konnten uns verständigen.

Das hat mir sehr geholfen, als ich später an staatlichen Verhandlungen in Mosambik teilnahm. Wir hatten einen sehr guten Dolmetscher, aber ich konnte wenigstens halbwegs verstehen, worüber gesprochen wurde. Ich war das erste Mal mit einer kirchlichen Delegation im Jahr 1989 in Mosambik. Die Kirchen in der DDR hatten Verbindungen nach Mosambik, vor allem zur Frauenarbeit und dem Nationalen Christenrat, einem Zusammenschluss vieler unterschiedlicher Kirchen in Mosambik. Das sind oft Kirchen, die aus amerikanischer Missionsarbeit entstanden, inzwischen aber einheimische afrikanische Kirchen geworden sind mit sehr eigenen Traditionen . Es gab auch einige, die nicht im Nationalen Christenrat organisiert waren. Ich hatte die Chance, mit der Delegation mitzufahren und dort auch Familien von Vertragsarbeitern oder auch Vertragsarbeiter zu besuchen, die wieder zurück nach Mosambik gefahren waren.

Die Vertragsarbeiter und die Deutsche Einheit

Norbert Reichel: Mit dem Erfolg der Friedlichen Revolution und der Deutschen Einheit erlebten Sie eine ganz andere Seite im Verhältnis zwischen Deutschland und Mosambik. Ich kann mich selbst daran erinnern, dass ich 1990 als Referent im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft regelmäßig mit dem Flugzeug vom Militärflughafen Köln-Wahn nach Berlin-Schönefeld flog und beim Rückflug in Schönefeld Hunderte von Afrikanern – aus Mosambik, aus Angola – sah, die auf den Flug in ihre Heimat warteten, weil sie in der DDR keine Zukunft mehr hatten.

Almuth Berger:  Die Verträge waren zur Zeit der DDR geschlossen worden und völkerrechtlich bindend. Bereits vor dem Tag der Einheit änderte sich die gesamte Wirtschaftsform. Die Betriebe konnten nicht mehr nach sozialistischer Planwirtschaft arbeiten, sondern mussten sich in der freien Marktwirtschaft zurechtfinden. Viele Betriebe mussten Leute entlassen. Es gab viele Arbeitslose. Es gab Betriebe, die bankrottgingen und in einer schwierigen Situation waren, wenn sie Arbeitskräfte aus den Verträgen hatten, die sie nicht so einfach entlassen konnten. Das führte dazu, dass Betriebe 1990 einfach Leute in ein Flugzeug setzten und nach Hause schickten. Manche Vertragsarbeiter gingen in die Bundesrepublik und beantragten dort Asyl. Es gab eine große Verunsicherung. Es gab auch heftige Attacken aus der Bevölkerung gegen Betriebe, die noch ausländische Arbeitnehmer hatten. Es wurde verlangt, ihr dürft auf keinen Fall ausländische Arbeiter behalten und Deutsche entlassen. Dann fließt Blut! Die Betriebsleiter haben Drohbriefe bekommen. Ich habe welche gesehen. Es war beängstigend, daher haben viele Hals über Kopf die Leute nach Hause geschickt.

Uns war klar, wir mussten die Verträge ändern, damit nicht noch mehr Unrecht geschieht. Das ging alles sehr überstürzt, aber im Mai 1990 – da war ich schon Ausländerbeauftragte beim Ministerrat der DDR – waren wir in Vietnam, in Mosambik, in Angola, um diese Verträge zu ändern, damit einerseits Betriebe die Möglichkeit zur Kündigung hatten. Andererseits war es mir ein wichtiges Anliegen, Arbeitern, wenn sie wollten, die Chance zu geben, in der DDR zu bleiben. Außerhalb der Verträge, damit sie eine Arbeitserlaubnis bekamen und schauen konnten, ob sie eine Arbeit finden und sich so eine Existenz in der DDR aufbauen konnten. Das war ursprünglich nicht vorgesehen, wir haben sehr dafür gekämpft und es ist dann auch gelungen. Diejenigen, die nach Hause zurückkehrten, sollten eine kleine Abfindung von 3.000 Mark der DDR (nach der Währungsunion dann auch DM) erhalten neben einigen anderen Regelungen in Bezug auf die Beendigung der Arbeit und der Heimreise, die vom Betrieb zu leisten waren . Obwohl wir versucht haben, die Informationen auch in vietnamesisch und portugiesisch möglichst breit zu streuen, haben viele Mosambikaner, Angolaner, Vietnamesen  davon nichts erfahren und eine Reihe von Betrieben haben sich an diese Verordnungen nicht gehalten. Aber es war eben eine sehr schwierige Zeit, in der vieles nicht mehr funktionierte.

Norbert Reichel: Und jetzt haben wir die Situation, dass in Mosambik viele Menschen noch auf ihr Geld warten.

Almuth Berger: Das sind nicht die 3.000 Mark, von denen ich eben sprach. Die sind ausgezahlt worden, nicht an alle, manche haben sie noch eingeklagt. Aber die Mosambikaner waren verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz ihres Lohnes als „Transferleistungen“ abzugeben. Ihnen wurde gesagt, dass dieses Geld auf ein Konto in Mosambik eingezahlt würde und sie das Geld dann nach ihrer Rückkehr ausbezahlt bekämen. Was sie nicht wussten, was wir alle nicht wussten, war, dass dieses Geld niemals nach Mosambik geflossen ist, sondern von der DDR mit den Staatsschulden von Mosambik verrechnet wurde. Die Arbeiter hatten mit ihrem privaten Geld Staatsschulden abgezahlt. Dieses Unrecht hatten Mosambik und die DDR von Anfang an so geplant und verhandelt – das haben wir später anhand der Unterlagen herausgefunden. Es gab zu Beginn noch einige, die  ausgezahlt wurden, aber als dann 1990 so viele zurückkehrten, zahlte Mosambik nicht mehr aus. Deshalb demonstrieren viele Mosambikaner in Mosambik bis heute dafür, dass sie ihr Geld bekommen. Wir haben  eine deutsch – mosambikanische Gruppe in Deutschland, die sich dafür einsetzt. Wir wollen, dass dieses Unrecht, das den Leuten geschehen ist, öffentlich benannt und anerkannt wird, und dass zumindest eine pauschale Entschädigung ausgezahlt wird.

Norbert Reichel: Wenn man in den Suchmaschinen des Internets „Rückzahlungen für Mosambikaner“ eingibt, erhält man eine Fülle von Berichten, auch in der deutschen Presse, beispielsweise im Deutschlandfunk. Aber wie verhält sich die Bundesregierung?

Almuth Berger: Die Bundesregierung sagt, das wäre nicht ihre Zuständigkeit. Dafür wäre Mosambik zuständig, sie hätte nichts mehr damit zu tun. Wir sagen, das ist nicht richtig, denn die Bundesregierung ist auch die Nachfolgerin der DDR-Regierung. Und es gibt auch andere Gruppen, denen Unrecht von der DDR-Regierung angetan wurde und die entschädigt werden. Wir kämpfen deshalb dafür, dass die Gruppe der mosambikanischen Vertragsarbeiter genauso anerkannt und entschädigt wird wie andere Opfergruppen.

Norbert Reichel: Ein Thema ist auch die Auszahlung von Rentenansprüchen.

Almuth Berger: Auch das  ist ganz schwierig. Wir haben damals, als wir mit der Arbeit angefangen haben, ein juristisches Gutachten über die Rentenansprüche anfertigen lassen. Die mosambikanischen Arbeiter haben genau wie alle anderen Arbeiter in der DDR Sozialversicherungsbeiträge bezahlt. Die Rentenansprüche sollten ebenfalls nach Mosambik geschickt werden. Diese wurden jedoch ebenfalls zur Deckung der Schulden verwendet. In Mosambik gab es damals auch keine Rentenversicherung. Juristen haben mit großer Mühe herausgefunden, dass man diese Rentenansprüche auch heute noch ausgleichen müsste. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erkennt dies jedoch nicht an. Es ist ein sehr schwieriger Kampf, ein Bohren von sehr harten Brettern.

Norbert Reichel: Wie viele Menschen sind betroffen?

Almuth Berger: Zum Ende der DDR waren etwa 17.000 Mosambikaner in der DDR. Es gab allerdings im Verlauf der Zeit mehr Verträge, sodass insgesamt etwa 21.000 Mosambikaner betroffen sein dürften. Es sind aber auch schon eine Reihe Leute gestorben.

Norbert Reichel: Jemand, der 1990 35 Jahre alt war, wäre jetzt 69 Jahre alt.

Almuth Berger: Die Lebenserwartung in Mosambik ist wesentlich niedriger als hier in Deutschland. Sie liegt bei Männern bei etwa 55 Jahren, bei Frauen etwa acht Jahre höher. Viele sagen, wir wollen gar nichts mehr für uns haben, sondern für unsere Kinder.

Norbert Reichel: Das war auch Thema der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestags zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Almuth Berger: Hans-Joachim Döring hat im Auftrag der Enquete-Kommission die Beziehungen zwischen der DDR und Mosambik und Äthiopien untersucht. Das Gutachten heißt „Es geht um unsere Existenz“. Gemeinsam mit Birgit Neumann-Becker hat er dann ein Buch herausgegeben, das auf einer Tagung in Magdeburg beruht und den Titel „Für Respekt und Anerkennung“ trägt. Es erschien 2020 beim Mitteldeutschen Verlag, zuvor auch schon 1999 bei Ch. Links. Das bei Ch. Links erschienene Buch ist auf der Seite des Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrums frei im Netz verfügbar.

RAA’en und mobile Beratungsstellen – eine Erfolgsgeschichte

Norbert Reichel: In Ihrer Zeit als Ausländerbeauftragte beim Ministerrat und anschließend als Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg haben Sie sich mit der Einrichtung der RAA’en in Berlin und in Brandenburg verdient gemacht.

Almuth Berger: Das war eine ganz wichtige Sache. Ich war die erste der Ausländerbeauftragten in den neuen Ländern, blieb aber nicht die einzige. Wir hatten sehr früh Kontakt mit der Freudenberg-Stiftung. Diese Stiftung hatte in Nordrhein-Westfalen schon in den 1970er Jahren die Errichtung von Regionalen Arbeitsstellen für Ausländerarbeit und Schule (RAA) unterstützt, in denen es vor allem um die Integration von ausländischen Schülerinnen und Schülern ging, damals vor allem von Kindern von Gastarbeitern. Der damalige Geschäftsführer der Stiftung, Christian Petry, meinte, das wäre doch etwas für die neuen Bundesländer. Wir sollten es auf die dortige Situation neu zuschneiden. Das war durchaus schwierig. Türkische Schülerinnen und Schüler hatten wir nicht, es ging vor allem darum, dass wir für Demokratie und gegen Rechtsextremismus und – wie man damals sagte – Fremdenfeindlichkeit vorgehen wollten. Es kam zu einem Bund-Länder-Modellprojekt, finanziert vom damaligen Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in Berlin und Brandenburg.

Norbert Reichel: Mit Ihrer Erlaubnis ein kleiner historischer Einschub. Die RAA’en in Nordrhein-Westfalen entstanden in einem EU-Programm zum Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf, dem sogenannten ersten „Transition-Programm“. Heute gibt es sie als Kommunale Integrationszentren – mit erweiterten Aufgaben – in fast allen nordrheinwestfälischen Kreisen und kreisfreien Städten. Ich durfte selbst von 1991 bis 1994 im Bundesbildungsministerium dazu beitragen, dass RAA’en schrittweise in allen neuen Bundesländern eingeführt wurden. Als ich dann nach Nordrhein-Westfalen wechselte, habe ich in den Jahren 2011 bis 2018 am Auf- und Ausbau der Kommunalen Integrationszentren mitgewirkt. All dies beruhte in den Anfängen auch auf Ideen und Initiative der Freudenberg-Stiftung und insbesondere von Christian Petry. Ich erwähne dies, weil es meines Erachtens gut zeigt, wie sich eine Idee vervielfältigen und aus einem Projekt eine nachhaltige Infrastruktur entstehen kann.

Almuth Berger: Ich hatte als Ausländerbeauftragte die Federführung für die RAA Brandenburg. Das Bildungs- und das Sozialministerium des Landes Brandenburg haben sich beteiligt. In dem Projekt arbeiteten eine abgeordnete Lehrkraft und eine Fachkraft aus einem anderen Bereich, Sozialarbeit, Kunst zum Beispiel, zusammen. Sie gingen in Schulen, bei uns auch stärker in die Kommunen, und initiierten dort Projekte, neue Modelle. Daraus hat sich eine großartige Arbeit entwickelt, die auch heute noch existiert und sich auf alle neuen Bundesländer ausgeweitet hat. Nach Ende des Projektes, das heißt nach drei Jahren, hat Brandenburg das Projekt ohne Bundesmittel weiter finanziert, immer in der genannten Besetzung. Dazu konnten wir weitere Kräfte, zum Beispiel in ABM-Maßnahmen gewinnen. Inzwischen gibt es eine institutionelle Förderung von Land und Kommunen, sodass die Grundausstattung nicht mehr jedes Jahr neu beantragt werden muss.

Das Projekt gibt es inzwischen in Brandenburg an sechs Standorten. Wir haben mit einem zweiten Projekt zusammengearbeitet, das wir ins Leben gerufen hatten, die Mobilen Beratungsstellen (MBT). 1991 gab es in Wittenberge einen Überfall auf namibische Jugendliche, die dort eine Lehre absolvierten. In der Stadt wusste kaum jemand, dass es sie gab, aber sie wurden von deutschen rechtsextremen Jugendlichen angegriffen. Einer wurde vom Balkon gestoßen und schwer verletzt. Es gab großes Erschrecken in der Stadt. Die Stadt war aufgestört. Die Kirche reagierte sofort und war sehr hilfreich. Wir sagten, wir brauchen Leute, die in solchen Kommunen einige Zeit lang leben, um dort Projekte für Verständigung und für das Leben in der Demokratie, das Leben mit Menschen aus anderen Kulturen   zu unterstützen. Das fing mit einem Sozialarbeiter an, der aus Nordrhein-Westfalen kam. Es entwickelten sich dann mehrere mobile Teams, die eine Kommune eine Zeit lang begleiteten.

In Wittenberge hat der Sozialarbeiter zum Beispiel Fußballspiele zwischen Asylbewerbern und deutschen Jugendlichen organisiert. Er hat Gespräche zwischen den Geflüchteten und der Bevölkerung in Wittenberger in Gang gebracht. Inzwischen gibt es diese Mobilen Beratungsdienste unter dem neuen Namen demos – Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenarbeit. Sie arbeiten eng mit den RAA’en zusammen.

Norbert Reichel: In Entstehung und Praxis ein ausgezeichnetes Beispiel für die Wirksamkeit einer umfassenden Kooperation von staatlichen, kommunalen und zivilgesellschaftlichen Akteuren.

Almuth Berger: Durchaus. Wir waren damals sehr froh, dass das Land Brandenburg das so stark unterstützte und nach wie vor unterstützt.

Norbert Reichel: Christian Petry sorgte auch für eine überregionale Vernetzung der RAA’en, in Ost und West.

Almuth Berger: Diese Vernetzung ist bis heute geblieben. Auf Christian Petry konnte man sich verlassen. Ich habe damals auch noch Hermann Freudenberg kennengelernt, ein sehr eindrucksvoller Mann, der viele solcher Initiativen unterstützte. Wir wurden nach Weinheim eingeladen. Das war für uns Ostdeutsche Anfang 1990 eine kleine Reise in ein Paradies.

Kontinuitäten und Zuspitzungen rechtsextremer Gewalt heute

Anetta Kahane bei einer Veranstaltung der Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die Grünen. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Es gibt viele solcher Initiativen, die auch aus der Wirtschaft, aus der Gesellschaft initiiert, gefördert werden, mit staatlicher Unterstützung. Diese – das muss man leider sagen – ist heute angesichts der Entwicklungen im Bundeshaushalt und in den Landeshaushalten zurzeit vielfach gefährdet. Dies in einer Zeit, die zu denken gibt. Sie erwähnten eben schon, dass es in der Bevölkerung der DDR oft große Vorbehalte gegen die Vertragsarbeiter aus Mosambik, aus Angola, aus Kuba, aus Vietnam, gegen ausländische Studierende gab. Nach 1990 gab es pogromartige Ereignisse, im Osten in Hoyerswerda und in Rostock-Lichtenhagen, im Westen in Mölln und Solingen, aber auch an anderen Orten. Die Amadeu Antonio Stiftung hat sich nach dem ersten Opfer rechtsextremer Gewalt benannt. Sie wurde 1998 von Anetta Kahane gegründet und lange Jahre geleitet. Ich habe sie 1990 als Leiterin der Berliner RAA kennengelernt. Die Zahl der tätlichen Angriffe, auf Menschen und auf Einrichtungen und Häuser, in denen sie sich aufhalten, hat inzwischen erheblich zugenommen. Die Morde des NSU waren nur die Spitze eines riesigen Eisbergs. Welche Kontinuitäten, welche Brüche sehen Sie in der Entwicklung von 1990 bis heute?

Almuth Berger: Ich denke, es gab in der DDR bereits eine ganze Reihe von rechtextremen und fremdenfeindlichen Einstellungen und Gesinnungen. Das wurde nie öffentlich diskutiert, weil es für die DDR-Führung ein Tabu war. Man verstand sich als ein Land, in dem Völkerfreundschaft und internationale Solidarität gepflegt wird, Fremdenfeindlichkeit oder – wie man damals sagte – Ausländerfeindlichkeit gibt es nicht. Das war das Mantra, das ständig wiederholt wurde.

Auch wenn  die Täter, wenn solche Dinge bekannt wurden, hart bestraft wurden: – Es gab keinerlei öffentliche Auseinandersetzungen mit diesem Thema. In der Bevölkerung gab es natürlich – wie auch in Westdeutschland – eine ganze Reihe von Menschen mit solchen Einstellungen. Die sind nicht alle gleich mit dem Baseballschläger losgerannt, wurden nicht selbst gewalttätig. Aber es gab eine Reihe Menschen, die so dachten und die es oft auch so sagten. Zu Beginn der 1990er Jahre wurden rechtsextreme oder fremdenfeindliche Angriffe immer als Einzelfälle von Jugendlichen abgetan. Wir haben in Brandenburg oft darüber diskutiert, dass auch in der Regierung keine Zustimmung dazu zu bekommen war, dass es nicht nur ein Jugendproblem war, sondern in der Mitte der Gesellschaft stattfand. Ministerpräsident Stolpe hat irgendwann sehr ehrlich zugegeben, dass er das damals unterschätzt und sich geirrt habe. Er habe gedacht, einzelne Jugendliche bekäme man in den Griff.

Aber es kam dann in Brandenburg zu der Bereitschaft, all diese Projekte, die RAA’en, die Mobilen Beratungsstellen auszubauen. Darüber hinaus wurde ein Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gegründet. Es gibt ein Handlungskonzept Tolerantes Brandenburg, mit dem sich die Regierung und alle Ministerien verpflichtet haben, gegen Rassismus und Gewalt vorzugehen. Das hatte schon große Auswirkungen. Natürlich heißt das nicht, dass man alles „in den Griff“ bekommen hätte. Aber die Regierung hat die Anstrengungen für Demokratie und Toleranz immer unterstützt.

 Rechtsextremen Einstellungen gab es schon zu DDR-Zeiten. Das wird von manchen Leuten heftig bestritten. Einen solchen Streit haben wir zuletzt auch wieder in den Zeitungen ausgetragen. Manche behaupten, das wäre alles vom Westen in den Osten hineingetragen worden. Aber das stimmt einfach nicht. Ich denke, dass sich mit der Öffnung der Grenzen bei manchen so etwas wie ein Ventil öffnete, dass man sich traute, Dinge öffentlich zu sagen, die man sich vorher nicht getraut hatte zu sagen. Viele Dinge wurden irgendwie normaler, sodass man es jetzt offen ausspricht.

Inzwischen ist eine Entwicklung eingetreten, in der rechtextremes Gedankengut, Antisemitismus und die Ablehnung von Migrationspolitik – so muss man es sagen – in einem anderen Maß in der Bevölkerung öffentlich werden. Das ist besonders krass seit dem 7. Oktober mit dem Angriff der Hamas auf Israel zu merken. Damit kam noch einmal eine Verschärfung hinein.

Norbert Reichel: Manche nehmen die Angriffe auf Jüdinnen und Juden als Vorwand, gegen alle vorzugehen, die sie für Muslime, für Araber oder für Türken halten. Antisemitismus wird instrumentalisiert. Dazu kommt, dass das, was sich früher als ausländer- oder fremdenfeindlich äußerte, sich immer mehr in eine völkische Richtung entwickelt. Alle müssen weiß sein, alle sollen Christen sein, obwohl – so sagte es mir einmal Henning Flad von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtextremismus – diejenigen, die jeden Montag mit PEGIDA demonstrierten, alles andere als treue Kirchgänger wären. Auch das Christentum wird hier instrumentalisiert, auch in den Demonstrationen gegen andere Lebensformen. Kürzlich erlebten wir wieder die Übergriffe gegen queere Menschen bei Veranstaltungen des Christopher Street Day in Bautzen und Leipzig. Und Haushaltsmittel für Jugendarbeit, für Kulturprojekte sind – wie gesagt gefährdet.

Almuth Berger: Es ist beklemmend. Man entmutigt Menschen, die großes Engagement an den Tag legen. Wenn die aufgeben, wäre das eine ganz schlimme Sache. Das schafft man nicht alles ehrenamtlich, dazu brauchen wir staatliche und kommunale Förderung.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2024, Internetzugriffe zuletzt am 19. Oktober 2024. Titelbild: Foto: Ralph Hirschberger. Bundesarchiv 183-1989-1109-014. Wikimedia Commons.)