Die Dritte Generation Ostdeutschland
Ein Gespräch mit Dr. Judith Christine Enders
„Die vage Idee von der Erziehung nimmt sich des Gefühls der Unwissenheit jedoch recht summarisch mit einem Schlagwort an, überantwortet den ganzen Komplex einem Einzelbereich des kulturellen Lebens und entledigt sich damit der Anstrengung des politischen Denkens. Sie erfüllt außerdem in den meisten Fällen den Zweck, die eigene Unwissenheit auf andere zu projizieren um selbst informiert zu erscheinen.“ (Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, 1950)
Dr. Judith Christine Enders ist 1976 in Altenburg geboren. Sie ist eine der Gründer*innen der Initiative „Dritte Generation Ostdeutschland“ und des daraus entstandenen Vereins „Perspektive3 e.V.“ Sie ist Diplompolitologin und hat über ein wirtschaftswissenschaftliches Thema promoviert. Sie lehrte am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und der Rutgers University, State University of New Jersey und der Universität Erfurt. Sie ist Dozentin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin.
Zu ihren inhaltlichen Schwerpunkten gehören neben den Themen der Initiative „Dritte Generation Ostdeutschland“ Bildung für nachhaltige Entwicklung, politische Theorie sowie feministische Studien und Mütterlichkeitsforschung. Sie beteiligt sich am europäischen Projekt „Transition Dialogue – Mapping a Generation“ und war Mitglied der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, die ihren Bericht im Dezember 2020 vorgelegt hat.
Im Ch. Links Verlag erschien 2016 das von Judith C. Enders gemeinsam mit Mandy Schulze und Bianca Ely herausgegebene Buch „Wie war das für euch? Die Dritte Generation Ost im Gespräch mit ihren Eltern“.
Am 1. Februar 2021 hatte ich Gelegenheit mit Judith C. Enders zu sprechen.
Wer ist die Dritte Generation Ost?
Norbert Reichel: Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Dritte Generation“? Sie sind 1976 geboren, waren zum Zeitpunkt des Mauerfalls 13 Jahre alt.
Judith Enders: Die „Dritte Generation Ostdeutschland“ ist ein Konstrukt, das sich zum 20. Jahrestag des Mauerfalls eine kleine Gruppe überlegt hat. Wir waren acht Aktivist*innen, alle etwa Ende 20, Anfang 30. Wir hatten festgestellt, dass immer dann, wenn von Mauerfall und Wiedervereinigung die Rede war, nur ältere Herren gefragt wurden, meistens drei Westdeutsche und Herr Thierse, die sich im Fernsehen darüber austauschten, wie das alles so war. Es fehlten die weiblichen und die jüngeren Stimmen. Wir wollten darüber sprechen, was für unsere Generation die Zusammenführung der beiden deutschen Staaten und die dann folgende Transformationszeit bedeutete. Das war unser Gründungsimpuls.
Ich war 1989 13 Jahre alt. Wir waren in einer Zeit der Adoleszenz, des Aufwachsens, der ersten Orientierungen in der Schule, manche schon im Beruf in diese Phase der Transformation hineingeschliddert. Als Generation haben wir es von allen Bürger*innen der DDR vielleicht sogar am besten getroffen. Wir konnten uns vielleicht leichter an die neuen Bedingungen der Nach-Wende-Zeit gewöhnen. Das ist die eine Seite. Die andere: Wir dachten, unsere Stimme fehlt in den Debatten über Ost und West. Deshalb haben wir uns 2010 zusammengetan und im Jahr 2013 den Verein „Perspektive3 e.V.“ gegründet. Wir sind die Generation, die auch in Zukunft die Geschicke dieser Gesellschaft mitgestalten will. Wir wollten Vielfalt in die Debatte hineinbringen.
Norbert Reichel: Sie nannten Herrn Thierse. Er war vielleicht ein Typus für diese Herren, von denen Sie sprachen. Ich habe das so ähnlich wahrgenommen wie Sie. Aber wo sehen Sie die zentralen Unterschiede im Erlebnis der DDR durch Ihre Generation und durch die Generation der Herren in den Talkshows?
Judith Enders: Wir unterscheiden zwischen unserer Generation, der Elterngeneration und der Großelterngeneration. Diese hat noch den Krieg als Kind oder Erwachsene erlebt und musste dann die Aufbaujahre durchmachen. Dann kam die Generation unserer Eltern, die in der DDR geboren wurden, dort aufwuchsen, ihr Leben im Beruf, in der Familie versuchten zu gestalten und 1989 an ganz ungeahnte Grenzen gestoßen sind. Sie mussten ein ganzes Leben neu definieren und das war ein beispielloser Bruch.
Wir waren die jüngste Generation Ostdeutscher. An uns ist der Umbruch auch nicht spurlos vorübergegangen, aber trotzdem haben bei uns die Chancen überwogen. Deswegen haben wir vielleicht die letzten 30 Jahre nicht nur durch die Brille der Scham, der Schuld, der Resignation betrachtet, sondern auch auf die konstruktiven Elemente geschaut. Dabei vergessen wir natürlich nicht, dass die Zeit um 1989/1990 für alle Ostdeutschen ein biographischer Bruch war, den wahrscheinlich niemand nachvollziehen kann, der es nicht miterlebt hat. Es war ein freudiges Ereignis, aber es bedeutete im persönlichen Leben, für die Familie auch viele Einschnitte.
Norbert Reichel: Welche Öffentlichkeit suchen Sie mit Ihren Impulsen und welche Öffentlichkeit erreichen Sie?
Judith Enders: Die Arbeit in der Kommission der Bundesregierung spricht natürlich andere Kreise an als die Arbeit in einem ehrenamtlichen Verein. Aber das bedingt sich auch gegenseitig. Der Verein ist digital unterwegs. Wir erstellen über ein Zeitzeug*innenportal Materialien für Geschichtslehrkräfte, die ihren Schüler*innen etwas über Ostdeutschland erzählen möchten. Wir machen Kunstausstellungen, produzieren Bücher im Lesebuchformat, die biographische Geschichten erzählen, machen niedrigschwellige Angebote, die aber gleichzeitig eine soziokulturelle Dimension haben. Dazu gehört auch die Beteiligung an politischen Debatten.
Wir achten auf eine möglichst große Bandbreite, um Themen der Transformation und des Austauschs, des Dialogs zu etablieren. Unsere Erfahrung: es ist leichter, die emotionale Schwelle über kulturelle und künstlerische Erfahrungen zu überwinden, während die kognitive Schwelle relativ hoch ist. Dieser Ansatz reichte durch meine Mitgliedschaft in der Kommission der Bundesregierung auch in den politischen Raum hinein. Das sind somit zwei verschiedene Ebenen, den offiziellen politischen Raum sowie den Raum derjenigen Menschen, die zu diesem politischen Raum keinen unmittelbaren Zugang haben.
Es geht mir darum, auch innere Hürden zu überwinden, die viele haben. Nicht alle Menschen in Ostdeutschland waren Oppositionelle. Viele waren Mitläufer*innen. Und so gibt es oft Scham- und Schuldgefühle, denn es gab natürlich auch Leute, die das System so wie es war akzeptiert und gestützt haben. Das heißt natürlich nicht, dass diese ihre Position nicht verändert hätten. Unser Ziel ist es, alle zu Wort kommen zu lassen.
Norbert Reichel: Sie waren Mitglied der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“. Wie haben Ihre Kolleg*innen in der Kommission auf Ihren Ansatz reagiert?
Judith Enders: Die Kommission war sehr divers zusammengesetzt. Es waren 22 Mitglieder, darunter aktive Politiker*innen wie Ministerpräsident*innen oder Bundestagsabgeordnete, Menschen aus der Zivilgesellschaft, aus Gewerkschaften, aus der Wissenschaft. Diese Diversität erzeugte sehr konstruktive Debatten, wobei wir Argumente in ihrer Vielfalt, durchaus in einem dialektischen Sinne, austauschten. Ich finde, der Bericht ist sehr lesenswert und enthält weitreichende Empfehlungen, die zeigen, wie sich die nächsten 30 Jahre positiv entwickeln könnten. Es gab Kontroversen, aber es war nie unangenehm.
30 Jahre nach dem Elitenaustausch
Norbert Reichel: Wir erleben zurzeit eine sehr emotional geführte Debatte, in der darüber gestritten wird, was in den 30 Jahren seit dem Mauerfall an Gutem und an Schlechtem passiert ist. Es gibt berechtigte Kritik, dass beispielsweise Ostdeutsche in Führungspositionen von Ministerien, Wirtschaft, Hochschulen unterrepräsentiert sind. Dort finden sich vorwiegend Westdeutsche, viele, die in den 1990er Jahren die neu geschaffenen oder frei gewordenen Stellen besetzten, während die alten Eliten der DDR weitgehend verschwanden und neue Eliten aus Ostdeutschland noch nicht vorhanden waren. Besonders heftig hat Sascha-Ilko Kowalczuk diese Kritik in seinem Buch „Die Übernahme“ (München, C.H. Beck, 2019) formuliert. Detlef Pollack formuliert sie in „Das unzufriedene Volk“ (Bielefeld, transcript, 2019) deutlich zurückhaltender, aber es ist irgendwie die Frage, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Teilen Sie diese Kritik oder glauben Sie, dass sich das mit der Zeit erledigt?
Judith Enders: Ich teile diese Kritik grundsätzlich vollumfänglich. Doch ist es auch so, dass wenn man einen solchen Diskurs nur auf dem Bild des „Jammerossis“ aufbaut, die Leute es nicht mehr hören und auch nicht mehr wahrnehmen können. Deshalb haben wir eine andere Strategie. Wir sehen es als die jüngere Generation als unsere Aufgabe und als unsere Chance an, diese Kritik konstruktiv aufzugreifen und damit mehr Gehör zu finden. Wir setzen auf den persönlichen Diskurs und den persönlichen Austausch. Das ist vielleicht die einzige Diskursform, der zu mehr Verständnis führen könnte. Vielleicht fangen wir am besten in der eigenen Familie, im eigenen Umfeld an.
Ich war mit Ilko-Sascha Kowalczuk und Raj Kollmorgen eine*r der Wissenschafler*innen in der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“. Wir waren uns in der Analyse einig: Es ist auch beschämend, wie sich der Elitentransfer vollzogen hat. Viele haben gedacht, das wäre eine Übergangsphase, in der Menschen aus dem „Westen“ kämen und beim Aufbau hülfen und es würde sich dann in den kommenden Jahren schon wieder zurechtruckeln. Das hat es aber nicht getan. Da müssen wir schon gegensteuern, sonst gehen auch bestimmte kulturelle Spezifika Ostdeutschlands verloren, die für die Zukunft nützlich wären.
Mein Credo ist, dass das Erlebnis der Transformation aus ostdeutscher, sicherlich auch aus westdeutscher Sicht, helfen kann, zukünftige Transformationen, auch im globalen Maßstab besser zu bewältigen: ich denke an Klimakrise, Migrationskrise, Coronakrise, jegliche Form europäischer Integrationskrise oder Krise der Arbeitsgesellschaft. Ich bin sicher, dass in den Erfahrungen der Transformationskrise der frühen 1990er Jahre viele Chancen liegen, auch Erkenntnisse und Reflexionen, die für die gesamtdeutsche Entwicklung positiv sind und die dann in eine gewisse Durchmischung der Führungskräfte münden könnten.
Norbert Reichel: Ich rechne einmal 30 Jahre zurück und denke an die Menschen, die damals aus dem „Westen“ in den Osten kamen. Viele waren in ihren 30ern, in ihren 40zigern und werden jetzt oder in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Da hat Ihre Generation doch eine ganze Menge Chancen.
Judith Enders: Ja, deshalb thematisieren wir das auch immer wieder in den Debatten. Es ist einerseits zutiefst menschlich, dass Menschen für ihre Nachfolge gerne Menschen aussuchen, die ihnen ähnlich sind. Das ist eine alte Kritik der Frauenbewegung, dass Männer immer nur Männer befördern. Die berühmten „Thomasse“ befördern immer nur andere Männer, die Thomas heißen. Diejenigen, die damals mit der „Buschzulage“ in den Osten gekommen sind, oft mit der Vermutung, dass sie im „Westen“ nicht solche Aufstiegschancen hätten, waren so etwas wie die zweite Reihe des „Westens“.
Es gab andererseits natürlich auch Überzeugungstäter*innen, die tatsächlich etwas aufbauen wollten und nicht nur an ihre Karriere dachten. Es ist verständlich, wenn diese Menschen dann Leute für ihre Nachfolge vorsehen, die ihnen ähnlicher sind. Da ist mehr Vertrauen, weniger Fremdeln. Sie möchten nicht unbedingt ein Risiko wagen, das von ihnen Geschaffene bewahren, und das ist dann vielleicht ein Motiv, doch keinen Ostdeutschen für die Nachfolge zu fördern. Das sind unbewusste Vorlieben, über die öffentlich gesprochen werden muss. Es müssen auch Menschen, die einem nicht so ähnlich sind, eine Chance bekommen. Das fängt mit der Sprache an und geht über Freizeitverhalten bis hin zu Vorlieben in Literatur und Kunst. Es gibt immer noch viele Unterschiede in der kulturellen Identität, die sich oft sehr subtil zeigen. Mein Appell an diejenigen, die jetzt in den Ruhestand gehen, wäre der, dass sie es als Chance sehen sollten, einmal andere zu befördern als die ihnen ähnlichen Personen, und dies nicht als Bedrohung des eigenen Werkes ansehen.
Über den „Osten“ reden
Norbert Reichel: Wenn im „Westen“ über den „Osten“ geredet wird, wird fast immer auf die Wahlergebnisse hingewiesen, auf eine Partei, die sich „Alternative“ nennt und in allen Bundesländern des Ostens Wahlergebnisse über 20 Prozent erhält. Detlef Pollack hat in „Das unzufriedene Volk“ die These formuliert, dass dieses Wahlverhalten etwas sein könnte, das – ich nenne es jetzt mal so – eine Art sekundärer Krankheitsmotivation ist. Irgendwie hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass man*frau möglichst provokativ auftreten muss, Krawall machen muss, um überhaupt Gehör zu finden. Wer lange genug eindringlich behauptet, dass es ihm*ihr schlecht geht, erhält Aufmerksamkeit. So wie das 1989 war.
Judith Enders: Ich würde das nicht so pathologisieren, aber diese Erfahrung, dass man*frau durch aktives Dagegensein etwas erreichen kann, kann ich mir als Grund vorstellen. Da spielt die Erinnerung an 1989 schon eine Rolle. Ich möchte aber auch nicht sagen, dass die Leute sich nicht nur benachteiligt fühlen, nein, die Leute sind benachteiligt. Als Politologin schaue ich lieber auf die Machtverhältnisse, wie wir das bei den Führungspositionen schon getan haben. Die Menschen haben einige Benachteiligungen, sie bekommen nicht den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit, nicht die gleichen Renten – da gibt es einige Baustellen.
Gleichzeitig heißt das natürlich nicht, dass man*frau sich der AfD anschließen muss. Aber die AfD hat es sehr geschickt verstanden, die Gefühlswelten, die sich da auftun, für sich zu nutzen. Sie haben auch lange zurückliegende Anknüpfungspunkte genutzt, nicht verarbeitete Themen der Zeit des Nationalsozialismus oder auch der Weimarer Republik. Ich möchte das aber nicht nur auf den Osten beziehen, sondern auch auf den Westen, denn die Eliten der AfD kommen fast alle aus dem Westen. Da sind Traditionen des autoritären Charakters im Sinne von Adorno oder von Hannah Arendt, auch transgenerationale Konflikte. Wenn man*frau pathologisieren möchte, dann auch im Westen. Diese Partei – und verschiedene Vorläufer – haben auch im Westen oft genug Wahlergebnisse an die 20 Prozent erzielen können.
Es gibt im Osten vielleicht einen weniger schamhaften Umgang mit rechten und rechtsextremen Positionen. Das wird nicht so hinter vorgehaltener Hand geäußert, sondern ganz offen. Im Westen wird das vielleicht mal am Stammtisch besprochen, aber nicht öffentlich. Es gibt ja ohnehin die These, dass etwa 20 Prozent der Menschen in Deutschland antisemitische Positionen vertreten.
Norbert Reichel: Das belegen die Mitte- bzw. Autoritarismus-Studien aus Bielefeld und Leipzig schon seit langer Zeit. Das sind relativ stabile Werte. Aber auch hier gilt: durchweg werden extremistische, antisemitische, antiziganistische, rassistische und sexistische Parolen offener ausgesprochen als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. Nicht nur im Osten.
Judith Enders: Es gibt auch so eine gewisse Bequemlichkeit im Westen, mit dem Finger auf den Osten zu zeigen, wenn es um Einstellungen geht, die eigentlich als nicht akzeptabel gelten. Die Menschen im Westen entlasten sich damit selbst. Ich glaube aber, dass rechte und rechtsextreme Positionen ein Problem der gesamten Gesellschaft sind, wenn demokratiefeindliche Positionen sagbar und auch tragbar werden, in den Kommunen, im Land und auch auf Bundesebene. Es ist wichtig, dass sich eine Gesellschaft aktiv damit auseinandersetzt, auch die Zivilgesellschaft.
Wenn wir diesbezüglich nur auf den Osten schauen, werden wir der Sache nicht gerecht. Es gibt aus meiner Sicht auch ein Nord-Süd-Phänomen in Deutschland. Ebenso auch eine gewisse Skepsis gegenüber „preußischen Traditionen“ eine kritische Haltung gegenüber Berlin im Süden und im Westen, all das gehört dazu. Es ist zu einfach, immer nur auf die Transformationserfahrungen im Osten zu schauen. Es sind viel komplexere Entwicklungen, Traditionen und Zusammenhänge, die betrachtet werden müssen.
Norbert Reichel: Entsprechende Wahlergebnisse gab es schon immer wieder, beispielsweise in Baden-Württemberg, wo rechtsextreme Parteien wie die „Republikaner“ in der Vergangenheit gute Ergebnisse einfuhren. Die AfD hat ihre besten West-Ergebnisse ebenfalls in Baden-Württemberg, aber auch im nördlichen Ruhrgebiet, das eine ähnliche Geschichte der Deindustrialisierung hat wie viele Regionen des Ostens. In den Räten von Ruhrgebietsstädten hat die AfD fast durchweg zweistellige Ergebnisse erzielen können.
Judith Enders: Da bin ich auch ein wenig ratlos, auch wegen des hohen Migrationsanteils und der SPD-Traditionen.
Norbert Reichel: Das ist vielleicht eine ähnliche Entwicklung wie bei Anhänger*innen der Linken. Die Linke beziehungsweise die PDS war ja lange in Ostdeutschland die Protestpartei. Jetzt sind viele Wähler*innen zur AfD abgewandert. Es gibt Studien, die belegen, dass Anhänger*innen der Linken einen relativ autoritären Erziehungsstil befürworten. Das war und ist bei traditionellen SPD-Anhänger*innen im Ruhrgebiet nicht anders. Die Ruhrgebiets-SPD war nie ein besonders liberaler Verein.
Sie haben eben zwei interessante Punkte genannt: Das eine, dass nicht pathologisiert werden sollte, das andere, dass man*frau es sich im Westen ein wenig bequem macht. Stellen Sie bei Debatten und Diskussionen häufiger fest, dass es solche Verallgemeinerungen gibt wie „der Osten“, „die Ostdeutschen“ – mit bestimmtem Artikel?
Judith Enders: Diese Erfahrung mache ich in der Tat. Es gibt immer „die Ostdeutschen“, etwa 17 Millionen Menschen. Ich sage dann etwas provokativ: „die Westdeutschen“gibt es im Sprachgebrauch eher nicht Das sind Konstruktionen, die Ostdeutschen gibt es so auch nicht. Sie sind unterschiedlich in ihren Lebenserfahrungen, Einstellungen, in ihrem Alltag. Es gibt sogar Unterschiede in der Sprache. Was hat schon jemand aus Sachsensprachlich mit jemandem aus Rostock zu tun, der über den s-pitzen S-tein s-tolpert? Ebensowenig wie jemand aus Bayern mit jemandem aus Hannover. Aber es gibt trotzdem dieses Wort von „den Ostdeutschen“, und da fängt es schon an, mit der Konstruktion einer Identität, die es so nicht gibt. Wie gesagt: niemand spricht von „den Westdeutschen“, von „den Ostdeutschen“ schon Darauf bauen sich dann alle möglichen Vorurteile, Verallgemeinerungen, Zuschreibungen auf, auch quer durch die Generationen. Wie oft musste ich mir anhören, du kommst aus dem Osten, aber so siehst du gar nicht aus und so sprichst du auch gar nicht.
Norbert Reichel: Im „Westen“ dachten die Leute immer, im „Osten“ sächseln die alle. Es gibt ja die schöne Szene in dem Film „Die Polizistin“ von Andreas Dresen, in der der von Axel Prahl gespielte Rostocker Polizist sagt, alles südlich von Rostock wären für ihn Sachsen. Axel Prahl kommt aus Schleswig-Holstein, sodass diese Szene von der Figur und vom Schauspieler betrachtet einen schönen doppelten Hintersinn erhält.
Judith Enders: Sie fragten nach den Diskussionen. Es ist schon so, dass man*frau als Ostdeutsche*r immer etwas länger ausholen muss, um sich zu erklären. Dass das nach 30 Jahren immer noch notwendig ist, ist schon ein kulturelles Armutszeugnis. Vielleicht ein Mangel an Interesse, ein Mangel an Dialogbereitschaft.
Norbert Reichel: Die lange Dauer von Einstellungen und Stereotypen, darauf ziehen sich viele gerne zurück. Alles braucht seine Zeit, heißt es dann, und ist nichts anderes als eine Entschuldigung fürs Nichtstun. Ich denke beispielsweise daran, wie lange es dauerte, bis Gewalt in der Ehe oder Gewalt gegen die Kinder verboten wurde. Körperstrafen gegen Kinder wurden in Deutschland erst im Jahr 2000 verboten.
Judith Enders: In der DDR waren die schon seit 1949 verboten. Da haben sich vielleicht nicht alle dran gehalten, aber das sollte auch erwähnt werden, wenn wir über „den Osten“ sprechen. Vergewaltigung in der Ehe war in der DDR nie erlaubt. Auch der Begriff Fräulein wurde schon 1951 abgeschafft, im Westen erst nach langen Debatten 1971.
Norbert Reichel: Das waren in der Bundesrepublik Deutschland, im alten „Westen“, hoch kontroverse Debatten.
Judith Enders: Da gibt es noch einige Dinge, z.B. das liberale Abtreibungsrecht in der DDR oder auch das Umweltgesetzbuch, das sehr fortschrittlich war oder das Gesetz zur Obsoleszenz von Gerätschaften Das wurde zwar nicht immer umgesetzt, aber die Grundlagen waren moderner als in Westdeutschland. Aber es wird immer nur über die negativen Dinge in der DDR gesprochen. Die progressiven Dinge werden nicht erwähnt, sie dürfen halt nicht sein, obwohl Gesamtdeutschland einiges aus der DDR hätte übernehmen können.
Norbert Reichel: Im „Westen“ gab es Anfang der 1970er Jahre einen sehr fortschrittlichen Entwurf der Umweltgesetzgebung durch den damaligen Innenminister Hans-Dietrich Genscher. Der sozialdemokratische Bundeskanzler hat es kassiert. Es gab auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Bemühungen um ein Umweltgesetzbuch, die Sigmar Gabriel in seiner Zeit als Umweltminister im Jahr 2009 für gescheitert erklärte.
Judith Enders: Es ist auch absurd, dass der Palast der Republik abgerissen werden musste, obwohl das eine Ikone moderner Baukunst war. Und warum musste da jetzt wieder dieses alte Schloss hin?
Norbert Reichel: Hohenzollern-Schloss und Potsdamer Garnisonskirche.
Judith Enders: Das drückt symbolisch schon etwas aus. Wir bräuchten lange kulturelle Debatten, damit es in Zukunft nicht bei diesen langweiligen Klischeeschlössern bleibt.
Norbert Reichel: Ich bin ja ganz froh, dass im Osten viele Straßennamen geblieben sind, dass es zum Beispiel noch viele Clara-Zetkin-Straßen gibt.
Judith Enders: In kleineren Städten, in den großen Städten eher selten. Da wo die Leute aus dem Osten wohnen und die aus dem Westen nicht hinkommen.
Norbert Reichel: Wir gehen am Prenzlauer Berg immer gerne in ein Café, eigentlich eine Bäckerei mit ein paar Tischen innen drin und vor der Tür, Ecke Schönhauser Allee – Erich-Weinert-Straße. Im „Westen“ weiß wahrscheinlich kaum jemand, wer Erich Weinert war.
Judith Enders: Das betrifft viele Antifaschist*innen, die auch Kommunist*innen waren. Auch Leute, die sich für Kinderrechte eingesetzt haben, wie beispielsweise Alice Salomon oder Käthe und Karl Kollwitz.
Norbert Reichel: Ich fand schade, dass man im rheinischen Viertel rund um das deutsch-russische, vormals deutsch-sowjetische Museum in Berlin-Karlshorst die Namen der kommunistischen Widerstandskämpfer gegen die Nazis durch die alten rheinischen Bezeichnungen ersetzt hat. Immerhin gibt es noch die Herbert-Baum-Straße in Weißensee auf dem Weg zum jüdischen Friedhof. Das wissen im „Westen“ auch nur wenige, wer Herbert Baum war.
Judith Enders: Es ist ja auch eine gemeinsame Geschichte, vor 1949, im Guten wie im Schlechten.
Umbrüche im Bildungssystem
Norbert Reichel: Wir kommen zu einem kritischen Punkt. Kürzlich sprach ich mit Ines Geipel und mit Markus Meckel. Ein Thema war, dass es keine gesamtdeutsche Geschichte gibt. Viele tun so, als habe die DDR gar nicht stattgefunden, als wäre sie so eine Art Betriebsunfall gewesen, der schnell vergessen werden sollte.
Judith Enders: Zumindest ist das so im Geschichtsunterricht.
Norbert Reichel: Wie haben Sie denn die Zeit 1989 /1990 empfunden. Was hat sich da für Sie als Schülerin verändert?
Judith Enders: Eigentlich war das ein positives Erlebnis. Da waren wir in der Pubertät und die Autorität des Staates bzw. der Lehrer*innen wurde abgeschafft. Wir konnten mitbestimmen, wir konnten sagen, was wir wollten. Wir konnten sagen, welche Inhalte wir gut finden, gemeinsam mit den Pädagog*innen die Lerninhalte entwickeln, gemeinsam mit den Lernenden lehren, so wie es eigentlich in pädagogischen Lehrbüchern steht. Die alten Lehrpläne waren natürlich noch da, aber da wackelte alles. Die Lehrpläne aus dem Westen waren noch nicht etabliert. Wir hatten etwa ein Jahr die Schule, wie wir sie wollten, so etwas wie eine Freie Schule.
Norbert Reichel: Auf welcher Schule waren Sie?
Judith Enders: In Wittstock in Brandenburg. Das hat mir gut gefallen, doch dann kamen die ersten Pädagog*innen aus dem Westen, die den Ostlehrer*innen erzählen sollten, wie sie es machen sollten. Die Lehrer*innen für Staatsbürgerkunde hatten entweder noch ein anderes Fach oder sie waren dann keine Lehrer*innen mehr, weil sie extrem parteitreu waren oder Stasi-Kontakte hatten. Einige sind geblieben, wo andere blieben, weiß ich nicht.
Der Fachunterricht in der DDR war ja nicht der schlechteste. Der Sprachunterricht konnte vielleicht nicht mithalten, aber Naturwissenschaften, Mathematik! Meine Erfahrungen waren da ausgezeichnet. Wir waren da dem Westen auch durchaus überlegen.
Norbert Reichel: Das kann ich bestätigen. Auch die Aussiedler*innen, die aus Polen oder der Sowjetunion kamen, waren in Mathematik und Naturwissenschaften sehr gut ausgebildet, in den Sprachen weniger. Aber sie konnten Russisch.
Judith Enders: Und die klassische deutsche Literatur war in der DDR gut vertreten. Aufklärung, Sturm und Drang – das waren Schwerpunkte. Das habe ich erfahren, als ich in der 11. Klasse in Marburg auf einem Elitegymnasium war. Die dachten, ich wäre die Defizitäre aus dem Osten, aber das war im Hinblick auf die naturwissenschaftlichen Kenntnisse anders herum. Ich hatte die bessere literarische Bildung. Das Einzige, was schwerer war, war Englisch, weil ich Russisch gelernt hatte. Ich habe mich aber dann in den Englisch-Leistungskurs gesetzt, mutig wie wir waren, wie beim Mauerfall, ich habe mir gesagt, das kann ich lernen!
Aber es war auch interessant zu erleben, wie vorurteilsbelastet das westliche Schulsystem mit seiner Dreigliedrigkeit war. Ich kam aus der Polytechnischen Oberschule und konnte überhaupt nicht verstehen, warum die Schüler*innen nach clever und weniger clever, nach bürgerlichem Elternhaus oder Arbeiterschicht oder migrantisch oder was auch immer eingeteilt wurden. Diese Ungerechtigkeit, diese soziale Segregation waren mir unverständlich.
Norbert Reichel: Von der CDU im „Westen“ kam damals immer der Spruch von den praktisch und den theoretisch Begabten. Ich habe immer gesagt, dass ich beim Zahnarzt sehr froh bin, dass der praktisch begabt ist.
Judith Enders: Da kam mir vor wie im Kaiserreich, wie hundert Jahre zurückversetzt. Ich habe von der Schule profitiert, weil ich eine gute Schülerin war, habe aber auch gesehen, dass viele, die im Osten neben mir gesessen hatten, nie eine Chance bekommen hätten. Auch die Sprüche, die kamen, wenn ich mich als jemand aus dem „Osten“ geoutet habe, waren schon merkwürdig. So etwa: „Ich habe noch nie einen Ossi gesehen, darf ich mal anfassen?“ Eigentlich unglaublich, eine Frechheit.
Norbert Reichel: Das ist rassistisch.
Judith Enders: Ja, genau. Man*frau macht Migrations- und Rassismuserfahrungen in einem Land, in dem man*frau das nie für möglich gehalten hätte, wo alle die gleiche Sprache sprachen. Naika Foroutan und Jana Hensel haben das in ihrem Buch „Die Gesellschaft der anderen“ (Berlin, Aufbau Verlag, 2020) dargelegt. Es kam noch hinzu, dass ich berlinert habe. Das war zwar eher brandenburgisch, aber das hat in Marburg niemand gemerkt. Das war dann so etwas wie der Berlin-Mythos aus den 1920er Jahren: wer aus Berlin kommt, ist doch irgendwie interessant. Das war wahrscheinlich ein Vorteil. Ich habe das Bildungssystem als sehr elitär und konservativ empfunden. Es war mir sehr unangenehm.
Norbert Reichel: Die Frage der Dreigliedrigkeit beziehungsweise der Einrichtung von Gesamtschulen wurde im „Westen“ ja in der Form von Religionskriegen ausgefochten. Auch beim Thema Ganztagsschule war das so. Lange Zeit wurden Ganztagsschulen im „Westen“ als Weg in sozialistische Erziehung wie in der DDR diffamiert. Das hat sich erst in den 2000er Jahren geändert.
Judith Enders: Die Schule in Marburg war eine Ganztagsschule, aber auch sehr elitär. Nur in der Mittagszeit gingen die Schüler*innen nach Hause und Mutti kochte. Ich hatte das Problem, dass ich dann nicht wusste, was ich in der Lücke machen sollte. Meine Mutter war im Dienst. Die hat nicht gekocht. Das machten die Ostfrauen nicht. Ich bin in die Mensa gegangen. Meine frühere Schule im Osten hatte Schulspeisung für alle.
Norbert Reichel: Das war im „Westen“ anders und gibt es so auch heute noch in Debatten über den Ganztag in der Schule.
Judith Enders: Vielleicht haben die Westfrauen dann doch von den Ostfrauen profitiert, die darauf bestanden, bestimmte Dinge zu behalten. Das hat vielleicht der westdeutschen Gesellschaft einen kleinen Schub gegeben.
Norbert Reichel: Hat es auch, nur war die Motivation dann eine andere. Der Ausbau der Ganztagsschulen begann nach der ersten PISA-Studie. Dann machten alle Parteien ihren Frieden mit der Ganztagsschule. Die AfD ist natürlich gegen Ganztagsschule, aber das sind meines Erachtens Rückzugsgefechte.
Judith Enders: Die ökonomische Motivation.
Norbert Reichel: Sie sprachen eben von den Freiheiten im Jahr 1990. 1994 kamen Sie nach Berlin zurück und haben dort Abitur gemacht.
Judith Enders: Länger als ein Jahr habe ich es in Marburg nicht ausgehalten. Aber die Rückkehr war schon ein Kulturschock. Da wurde das gesamte Westberliner Schulsystem übergestülpt. Da musste man*frau sich als Schüler*in schon Dinge anhören, die waren nicht erträglich. Die Abiturnoten der Ostlehrer*innen wurden von den Westlehrer*innen überprüft und da wurden dann noch ein paar Punkte abgezogen. Das würde ich heute als diskriminierend bezeichnen.
Norbert Reichel: Wie war es dann an der Universität?
Judith Enders: Ich habe an der FU Politik studiert. An der Humboldt-Universität gab es das Fach damals noch nicht, und das OSI war das größte politikwissenschaftliche Institut Europas. Aber auch da ist mir aufgefallen, dass es eine gewisse Blindheit gegenüber den Ereignissen von 1989 gab. Es gab Studierendeninitiativen, aber in der Lehre gab es bei der Einführung in die Geschichte der Bundesrepublik nichts zur DDR. Die FU blieb die FU wie sie war, das OSI wie es war, eine durchaus gemütliche linke Ecke, aber es blieb wie es war, während sich die HU von Grund auf umkrempeln musste.
Das Curriculum am OSI war damals sehr gut. Heute ist ja nicht mehr viel davon übriggeblieben, weil alles weggespart wurde. Das war eine tolle Ausbildung, aber die ostdeutsche Perspektive fehlte völlig. Der Bologna-Prozess hat den Abbau dann noch beschleunigt. Das ist heute sehr verschult. Freie Lehre, freies Studieren – das gibt es nicht mehr.
Die emanzipierte Ostfrau – ein Mythos?
Norbert Reichel: Ich möchte gerne noch zwei Themen mit Ihnen ansprechen, das Thema Frauen und das Thema politische Bildung. Im Westen hielt sich ja der Mythos der emanzipierten Ostfrauen, die es viel leichter gehabt hätten. Anna Kaminsky hat in ihrem Buch dieser Annahme widersprochen.
Judith Enders: Es gibt einen Unterschied je nach Altersgruppe. Der wichtigste Unterschied ist der, dass wir jungen Ostfrauen Mütter hatten, die schon Gleichberechtigung, im Eherecht, im Recht auf körperlicher Selbstbestimmung, im Verbot von Gewalt gegen Kinder und Frauen, im Beruf, durch Kinderbetreuung erlebten. Die ostdeutsche Gesellschaft war da schon emanzipativer gestimmt. Die Schattenseite war natürlich die Doppelbelastung der Frauen im Beruf und im Haushalt. Frauen waren gleichberechtigt, aber das hieß nicht, dass sich die Männer gleichberechtigt um den Haushalt gekümmert hätten.
Wir als jüngere Frauen haben unsere emanzipierten Mütter vor Augen gehabt, ein anderes Modell von Frauen gab es nicht. Wenn ich dann mit Frauen aus dem Westen spreche, wenn es um die Themen Heirat und Kinder geht, merke ich heute noch Unterschiede. Ich habe den Eindruck, dass die ostdeutschen Frauen weniger auf das traditionelle Kleinfamilienmodell einschwenken wollen, dass Erwerbsarbeit eine größere Rolle spielt, Teilzeit nicht so positiv besetzt ist und dass Selbstbestimmtheit wichtig ist, dass Familie ohne Ehe eine Option ist. Auf jeden Fall ist ein größerer Anspruch auf Autonomie und Selbstständigkeit da. Für ein Hausfrauenmodell fehlten einfach die Vorbilder. Das gilt auch für Frauen in Führungspositionen. Meine Mutter war Chefin in einem Krankenhaus, meine Eltern waren beide Mediziner*in und nicht sie die Krankenschwester und er der Arzt. Im Westen gibt es da schon noch Unterschiede, vor allem auf dem Land.
Dank OSI-Ausbildung bin ich ja so etwas wie eine gelernte theoretische Feministin und da muss ich sagen, dass wir danach fragen müssen, wie viel war Emanzipation, wie viel ökonomische Notwendigkeit. Wie viel galt das Ideal in der DDR, wie viel wurde davon umgesetzt? Und diese Fragen haben auch mit meiner Ausbildung im Osten zu tun. Das, was Friedrich Engels, Rosa Luxemburg oder August Bebel dazu gesagt haben, war dort Thema. Im Westen war das eben kein Thema.
Norbert Reichel: Ich wage die These, dass die Theorie mit der Zeit die Praxis überholt hat. Da hat irgendwie das Bewusstsein den Anspruch geweckt, dass auch das Sein entsprechend verändert wird, in Verkehrung der berühmten Feuerbachthese.
Judith Enders: Bei meinen Recherchen habe ich mir noch einmal einen Film aus der DDR angeschaut, in dem dokumentiert war, wie anstrengend Hausarbeit im Vergleich zu Industriearbeit war. Da wurden Puls und Blutdruck gemessen. Das Fazit war, dass Hausarbeit genauso anstrengend ist wie Arbeit auf dem Bau. Männer schätzen das aber nicht so ein. Es gab aber auch den moralischen Aufruf, dass Männer ihre Frauen im Haushalt unterstützen sollten.
Norbert Reichel: Das Wort „unterstützen“ ist schon verräterisch. Kampagnen gab es nun genug, aber sie wirkten in der Praxis erst einmal nicht. Das wird in dem Film „Gundermann“ von Andreas Dresen deutlich, als die Familie die Waschmaschine bekommt. Da wird eigentlich sehr deutlich, wie die Machtverhältnisse in der Familie sind. Gundermann könnte man*frau durchaus als Macho bezeichnen, der die Arbeiten, die im Haus anfallen, seiner Frau Conny überlässt. Die Waschmaschine ist dann eine Entlastung, aber die Technik ist noch eine andere Sache. Connys Hilflosigkeit vor der Technik spricht Bände über Rollenverteilung.
Judith Enders: 5000 Jahre Patriarchat verschwinden auch nicht so einfach. Was meine Generation betrifft: die Zeit, in der die Familiengründung stattfindet, ist noch einmal problematisch. Da werden gesellschaftliche Zwänge noch einmal relevant, Arbeitsteilung, Vollzeit und Teilzeit, Ehegattensplitting, Erziehungsfragen – all das spielt eine Rolle. Der Druck auf Frauen, wer die nicht entlohnten Arbeiten im Haushalt und in der Kinderbetreuung übernimmt, ist hoch. Viele fallen dann wieder in die Muster ihrer Eltern zurück. Da gibt es Unterschiede zwischen Osten und Westen, weil eben andere Vorbilder vorliegen. Das gilt auch für Frauen in der Politik, beispielsweise für Frau Lieberknecht, auch Frau Merkel, einige Ministerinnen in den ostdeutschen Bundesländern, Bundestagsabgeordnete – die sind schon etwas aufmüpfiger als manche Frauen aus der West-CDU.
Norbert Reichel: Vielleicht geschieht in der Politik auch manches früher als in anderen Bereichen. Das hat vielleicht auch etwas mit den Quoten zu tun, dass Frauen in der Politik früher in Führungspositionen gelangt sind als in anderen Bereichen. In vielen Wirtschaftsunternehmen sieht es ja nach wie vor recht einseitig männlich aus.
Judith Enders: Ich bin mal gespannt, wie sich das in der CDU entwickelt, wenn Frau Merkel nicht mehr im Amt ist. Ob da so viele Frauen nachrücken oder es einen Backlash gibt? Ich sehe da nicht so viele Frauen, eher noch ostdeutsche als westdeutsche.
Politische Bildung, ganz praktisch
Norbert Reichel: Vielleicht noch einige Sätze zur politischen Bildung. Ich erzähle Ihnen ein Erlebnis aus Bonn. Vor etwa zwei Jahren nahm ich an einer Veranstaltung der Bonner Bundestagsabgeordneten der Grünen teil, die regelmäßig in einem „Berliner Salon“ berichtete, was in Berlin diskutiert wurde. Ein Thema waren die anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Es ging natürlich um das Abschneiden der AfD. Ein älterer Kollege im Publikum meinte, es gäbe im Osten ja kaum politische Bildung, in Sachsen nur eine Unterrichtsstunde. Da dürften wir uns nicht wundern. Ich habe eingeworfen, dass viele Menschen im Osten von politischer Bildung nichts mehr hören wollten, denn davon hätten sie vor 1989 genug gehabt. Politische Bildung stehe eben immer unter dem Verdacht, da solle indoktriniert werden. Wie schätzen Sie das ein?
Judith Enders: Als Politikwissenschaftlerin bin ich ein wenig voreingenommen gegenüber der politischen Bildung. Meine persönliche Erfahrung ist die, dass wir als dritte Generation für gute politische Bildung empfänglich waren. Damit meine ich nicht Fragen, wie das Wahlsystem funktioniert, das auch. Aber es geht um Fragen, wie man*frau sich organisiert, einen Verein gründet, wie man*frau seine*ihre eigenen oder Gruppeninteressen formuliert und wie man*frau sie durchsetzt. Ich habe als Jugendliche in Ferienlagern Kinder betreut. Da gab es einen kleinen Ausbildungskurs, und diese Kurse habe ich als politische Bildung empfunden. Ich habe gelernt, wie man*frau mit einer Gruppe Gleichgesinnter zusammenarbeitet, um ein gemeinsames Projekt zu organisieren. was es heißt, mit Kindern zu arbeiten.
Dazu kommt dann Selbstorganisation im Betrieb, an den Hochschulen, zum Beispiel in den Hochschulasten. Dort lässt sich im Kleinen lernen, wie Politik im Großen funktioniert, und wer diese Gelegenheit wahrnimmt, hat politische Bildung. Es geht darum, Interessen zu formulieren, Gleichgesinnte zu finden und für die Umsetzung einen demokratischen Prozess zu wählen. Das kann man*frau nur durch Handeln lernen. Gerade in der Jugendphase ist das wichtig, so zu lernen, wie Politik funktioniert, in einer Partei, in einer Jugendgruppe, bei der Feuerwehr, auch bei Bundestreffen, beispielsweise einem Bundesjugendfeuerwehrtreffen oder was es da alles gibt. Da hat die ältere Generation im Osten noch etwas nachzuholen, nämlich, dass man*frau nicht wartet, bis der Bürgermeister auf die Idee kommt, etwas zu tun, sondern dass man*frau sich selbst engagiert und organisiert oder vielleicht auch selbst zur Bürgermeister*in wählen lässt.
Das kann niemand theoretisch lernen, das geht nur über Erfahrungswissen. Und da gibt es bei der älteren Generation ein grundlegendes Problem: in der DDR wurde Engagement sanktioniert, war gefährlich, für einen selbst, für die Familie, es gab Sippenhaft, es bestand die Gefahr, in den Knast zu kommen. Das war im Westen anders: dort konnte man*frau mit Engagement auch seine Ziele durchsetzen. Das zu verstehen, ist ein wichtiger Unterschied zwischen Ost und West. Viele ältere Ostdeutsche hatten nie die Gelegenheit das zu erfahren. Es nützt wenig, das in politischer Bildung zu predigen, das muss man*frau erfahren, erleben. Es gab natürlich in der DDR auch so etwas wie einen Gruppenrat. Ich war Mitglied in einem solchen Gremium, aber da ging es nicht um Engagement, sondern darum vorgegebene Parolen zu verkünden.
Politische Bildung mangelt im Westen inzwischen auch. Da wurde viel eingespart. Das gilt auch für die Bildung bei Zugewanderten. Diejenigen, die nicht aus einem demokratischen Staat kommen – und das sind ja die meisten – müssen auch erfahren können, was Engagement bedeutet und wie es möglich ist. Woher sollen sie wissen, wie es geht. Das kann aber kein Bildungskonzept von oben sein. Das hilft nichts, von oben vorzutragen, wie das funktioniert. Das erwirbt niemand durch Theorie, nur durch Praxis. Da komme ich auch zu meinem Arbeitsgebiet BNE (Bildung für nachhaltige Entwicklung). Das können ganz praktische Projekte sein, beispielsweise Verbesserung der Bedingungen an einer Badestelle im Dorf. Es muss jemand machen, und es muss jemand bezahlen. Nur so funktioniert politische Bildung. Alles, was Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung anbieten, ist gut, aber zu diesen Veranstaltungen gehen in der Regel Menschen, die ohnehin wissen, wie es geht. Bei solchen Veranstaltungen bestätigen sich die Teilnehmenden gegenseitig, aber wenn sie auf die sozialen Verhältnisse in Berlin-Hellersdorf stoßen, sind sie hilflos.
Norbert Reichel: Ich kenne stundenlange Debatten, in denen diskutiert wird, wie man*frau diese Menschen in Berlin-Hellersdorf und anderswo erreicht, aber niemand kommt auf die Idee, dass es vielleicht gut wäre dahin zu gehen.
Judith Enders: Dann müssten sie sich auch mal anhören, was die da sagen, auch wenn es vielleicht erst einmal unangenehm ist. Aber wir müssen diejenigen erreichen, die skeptisch sind, denen die handlungsleitenden Erfahrungen fehlen, auch ein positiv besetzter emotionaler Zugang zur Politik. Es ist wichtig zu erfahren, dass Engagement nicht nur lästig ist und Arbeit macht, sondern dass es Freude macht, etwas zu gestalten. Ich bin da leidenschaftlich, denn das ist ein Trauerspiel in Deutschland. Es gibt viele engagierte Menschen, die bekommen dann mal für ein Projekt 5.000 EUR, und dann ist das Projekt vorbei und das war es dann. Da fehlen jede Wertschätzung und jede Verlässlichkeit.
Norbert Reichel: Wie bewerten Sie die Chancen zu mehr Partizipation, mehr demokratischer Praxis in Ihrer Generation?
Judith Enders: Wir haben es in der dritten Generation vielleicht etwas leichter. Wir haben damals erlebt, wie unsere Eltern dastanden und nicht wussten wie es weitergehen sollte. Wir mussten im Jugendalter Entscheidungen treffen, die vielleicht im Jugendalter sonst nicht angestanden hätten. Wir entwickelten eine gewisse Forschheit, Herausforderungen entgegenzutreten. Das ist unsere Chance.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2021, Internetlinks wurden am 15. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)