Die Fremden
Im Treibhaus der Sprachbilder
Eine der zentralen Disziplinen von Sprach- und Literaturwissenschaft ist die Semantik. Worte bedeuten nicht nur das, was wir im Lexikon zu finden glauben. Sie lösen Assoziationen, Interpretationen und Konnotationen aus, die viel damit zu tun haben, was wir als Hörende oder Lesende in unserer eigenen Welt und mit unserer jeweilig persönlichen Vergangenheit und Gegenwart mit ihnen verbinden. Ludwig Wittgenstein formulierte dies sinngemäß so: „Die Bedeutung eines Wortes liegt im Gebrauch in der Sprache.“ (in: „Philosophische Untersuchungen“).
Auch und vielleicht gerade in der politischen Öffentlichkeit sollten Worte gut gewählt werden. Wir dürfen davon ausgehen, dass dies viele Politiker*innen tun, wenige reflektieren. Eine sehr reflektierte Ausnahme bietet Robert Habeck in seinem Buch „Wer wir sein könnten. Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht“. (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018). Nun ist Robert Habeck vom Fach. Er hat literarische Preise gewonnen oder wurde zumindest dafür nominiert.
Sprache kann gewalttätig klingen. Hans Bender (1919 – 2015), gemeinsam mit Walter Höllerer (1922 – 2003) Gründer der Zeitschrift „Akzente“ schrieb „Mein Gedicht ist mein Messer“ (so der Titel eines 1961 bei List erschienen Buches). Hans Bender meinte damit mitnichten die offene Gewalt gegen Menschen, die einer bestimmten Gruppe angehörten, pflegte aber gleichwohl diese martialisch klingende Metapher, um vielleicht die Ohnmacht von Literat*innen zu manifestieren, denen außer der Sprache keine Waffe zur Verfügung steht. Diese Analyse ist auf die Politik anwendbar. Gewaltaffine Sprache signalisiert vielleicht zunächst gefühlte Ohnmacht, die aber mit der Zeit durchaus Gewalttaten und Kriege provozieren kann. Bei manchen Gewalttaten wird nicht zu Unrecht die Urheberschaft gewaltaffiner Sprache vermutet.
Kübra Gümüşay (Sprache und Sein, Berlin, Hanser, 2020) zitiert Kurt Tucholsky mit dem Satz, „dass Sprache eine Waffe sei“, und formuliert das Gegenbild, Sprache bewusst als „Werkzeug“ zu verstehen: Sprache „kann uns in der Dunkelheit der Nacht die helle Reflexion des Mondlichtes sehen lassen. Sprache kann unsere Welt begrenzen – aber auch unendlich weit öffnen.“ Solche Bilder machen das „Werkzeug“ zum Ort poetischer Träume, die sich vielleicht auch auf die Politik oder allgemeiner formuliert die gesellschaftlichen Verhältnisse auswirken könnten. Für eine Gesellschaft von Bedeutung wird dann die Frage, welche Bilder sich mit der Zeit durchsetzen.
Viel Feind, doch Ehr?
Politische Parolen wirken. Astrid Séville demonstriert solche Wirkungen in „Der Sound der Macht – Eine Kritik der dissonanten Herrschaft“ (München, C.H. Beck, 2018) an vier Beispielen: „There is no alternative“, „Hausaufgaben machen“, „Wir sind das Volk“ und „Mut zur Wahrheit“.
Das Urheber*innenrecht für die Alternativlosigkeit hat nicht Angela Merkel, sondern Margaret Thatcher, deren Regierungsstil Astrid Séville als „plebiszitäre Präsidialdemokratie“ beschreibt, „in der jeder Akteur, der sich zwischen die Regierungschefin und das Wahlvolk zu stellen wagte, aggressiv als Feind markiert wurde.“ Die „TINA-Rhetorik“, die Bezeichnung der eigenen Politik als „alternativlos“, verlangt nach Akklamation. Widerspruch wird nicht geduldet, Opponierende haben eben einfach nicht begriffen, worum es geht und was zu tun ist. Ende der Durchsage.
Astrid Séville illustriert dies am Beispiel der „Null“, die in der Werbung wie in der Politik zu einem alternativlosen Wert an sich erhoben wurde. „Schon einmal signalisierte eine ‚Null‘ in Deutschland Aufbruchstimmung. Die ‚Stunde null‘ der frühen Bundesrepublik und die ‚schwarze Null‘ der deutschen Wirtschaftspolitik (…) spielen mit der Idee, dass eine ‚Null‘ erstrebenswert sei: Coca-Cola verkauft eine Coke Zero, wir kämpfen um ‚Nullemissionen‘ und rufen uns bestenfalls ‚null problemo‘ zu.“ Wie mutlos und wie unattraktiv eine solche Beschwörung der „Null“ sein kann, erleben wir gelegentlich im Fußball. Meines Wissens war ein ehemaliger Trainer des FC Schalke 04 der Urheber des Satzes „Die Null muss stehen“. Wer keine Gegentore zulässt, kann nicht verlieren, so weit richtig, aber gewonnen ist damit noch nichts.
Die Wortwahl von Margaret Thatcher war martialisch. Sie erklärte, „dass sie ein politisches Debattenklima bevorzuge, in der ‚kein Faustschlag zurückgehalten‘ werde.“ Kriegsmetaphern sowie Metaphern aus Sportarten mit hohem, aggressivem Körperkontakt spielen in den Reden von Politiker*innen mit einem solchen Politikverständnis eine zentrale Rolle. „Die stets adrett gekleidete Krämerstochter aus der Kleinstadt zündelte und polarisierte. Ihr konfrontativer Sound der Macht lässt Parallelen zur politischen Vulgärsprache Trumps erkennen. (…) Als die Bergleute ihren Arbeitskampf gegen die Schließung und Privatisierung von unrentabel gewordenen Zechen aufnahmen, sprach Thatcher postwendend vom ‚Feind im Inneren‘ (‚enemy within‘)“. Politische Auseinandersetzungen wurden nicht nur sprachlich zum „Bürgerkrieg“ erklärt.
Die „Alternativlosigkeit“ Angela Merkels klingt weniger martialisch. Angela Merkel ist keine aggressive Rednerin, sie „kann weder durch Pathos noch durch Ethos überzeugen. Merkels Politikstil soll die Gesellschaft entpolitisieren.“ Ob Angela Merkel bewusst „entpolitisieren“ will, wie Astrid Séville vermuten lässt, vermag ich nicht zu beurteilen. Für die Wirkung ihrer Politik trifft dies jedoch zu, Politik wird zu einer Art Handwerksbetrieb. Interessant wäre möglicherweise eine Analyse von Handwerksmetaphern in den politischen Debatten in Deutschland. Und in der Tat lautet einer der Vorwürfe gegen politische Entwürfe, dass diese „handwerkliche Fehler“ enthielten, ein anderer, dass Lieferfristen nicht eingehalten würden. Bevor die FDP 2013 aus dem Bundestag ausschied, war einer der Hauptvorwürfe gegen diese Partei, dass die Wähler*innen bei ihr 2009 Steuersenkungen bestellt hätten, die Partei in der Regierungsverantwortung jedoch nicht „geliefert“ habe.
Auch in der Schule hätte sich die FDP nicht angemessen verhalten. Nicht nur Politiker*innen dieser Partei lesen in Zeitungen und Internetforen, sie hätten ihre „Hausaufgaben“ nicht gemacht. Während Margaret Thatcher für die Zukunft ihres Landes eine Vision hatte, so umstritten sie auch immer war, erinnert die deutsche Politik in letzter Zeit nicht nur an einen unzuverlässigen Handwerksbetrieb, sondern auch an eine aufgeregte Schulklasse, in der die Politiker*innen mehr oder weniger gute, mehr oder weniger fleißige Schüler*innen sind, die ihre „Hausaufgaben“ erledigen müssten, auch wenn niemand genau weiß, was Ziel und Inhalt dieser Aufgaben sein könnte.
Die Politik als Schule folgt einem Lehrplan, den die Wähler*innen geschrieben haben und je nach aktueller Entwicklungen umschreiben können, und so verändern sich auch die „Hausaufgaben“ im laufenden Betrieb. Das unterscheidet die Gesellschaft nicht von manchen Lehrer*innen, die ebenso wenig wissen, warum sie welche Hausaufgaben aufgegeben haben, nur mit dem Unterschied, dass Lehrer*innen schon aus Zeitgründen nur selten kontrollieren, ob die Hausaufgaben gemacht wurden, während Wähler*innen dies sehr wohl tun, oft mit einem veränderten Verständnis dessen, das vor einiger Zeit aufgegeben, aber zu einem späteren Zeitpunkt kontrolliert werden sollte.
Während die scheinbar handwerklich gediegenen und von fleißigen Schüler*innen erzeugten deutschen Nullnummern eine alles in allem harmonische Gesellschaft vorgaukeln, lassen die Kampf- und Kriegsmetaphern der angelsächsischen Alternativlosigkeit eine Freund-Feind-Gesellschaft erscheinen. Das hat sich in Deutschland in den letzten Jahren jedoch geändert.
Der polarisierende Begriff schlechthin ist in Deutschland heute „Volk“. „Volk“ ist ein gefährlicher Begriff. Michael Wildt hat die historische Genese dieses Begriffs brillant analysiert, Thea Dorn beschreibt die Gefahr in ihrem Buch „Deutsch, nicht dumpf – Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“ (München, Albrecht Knaus, 2018, auch über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich). Es geht ihr weniger um den Begriff als um die Wirkungen, die verursacht, wer den Begriff verwendet: „Wer ‚Volk‘ ausschließlich auf die politische Dimension reduzieren will, riskiert es, den Gefühlshaushalt der Bürger zu überfordern, indem sie sich einzig als ‚Verfassungspatrioten‘ betrachten dürfen, und gleichzeitig zu unterfordern, indem er ihren Sehnsüchten nach einer Zusammengehörigkeit, die über die Verfassung hinausgeht, keine Heimat mehr bietet. Vagabundierende Volkssehnsüchte aber laufen Gefahr, ins Ethnisch-Rassische umzuschlagen.“
Diejenigen, die am lautesten darauf hinweisen, dass sie „das Volk“ vertreten, sind gleichzeitig diejenigen, die am lautesten sagen, wer ihrer Meinung nach nicht zum „Volk“ gehört. Astrid Séville: „Ego braucht Alter, Identität braucht Alterität. Die AfD braucht also zur Beschwörung der deutschen Identität eine Projektionsfläche für vermeintlich fremde, andere Identitäten.“ Carl Schmitt hätte seine Freude gehabt, denn so harmlos wie die Rivalitäten zwischen „Oberbayern und Franken, Badenern und Schwaben, Rheinländern und Westfalen“, die Astrid Séville als Beispiele anführt, ist das nicht mehr.
Für Carl Schmitt erfüllt sich Politik darin, dass klar ist, wer der Feind ist. Der Gegner wird im Namen der „Wahrheit“ niedergemacht. Astrid Séville: „Im Namen von Rede- und Meinungsfreiheit dürfen (…) stundenlang Holocaustleugner sprechen, es dürfen Korane verbrannt und es darf gegen Andersgläubige gehetzt werden. Hier fehlt die moderne und geschichtsgelehrige Vorstellung einer liberaldemokratischen Beschränkung der Freiheit – eben auch der eigenen Redefreiheit.“
Erschreckend sind nicht Sprachbilder an sich. Erschreckend ist, wie panisch selbst besonnene Politiker*innen auf mit Sprachbildern popularisierte Hetze reagieren. Angela Merkel, die eigentlich als die Ruhe in Person gilt, ließ sich dem Satz hinreißen „Multikulti ist gescheitert“. Damit erreichte sie natürlich nicht, dass die Kritiker*innen einer multikulturellen Gesellschaft, was auch immer das sein mag, Ruhe gaben, im Gegenteil: der Satz wirkte wie Öl ins Feuer. Die Hetzer*innen fühlten sich bestätigt. Auch die Alltagssprache adaptiert Sprachbilder der AfD und ihrer Freund*innen. Der Satz „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ wurde von einer Lebensmittelkette leicht variiert: „das wird man ja wohl noch sparen dürfen“. Das deutsche „Volk“ und sein Recht auf billiges Fleisch, sein Recht auf Hass auf alle, die ihm das verwehren.
Astrid Séville dekonstruiert die Einschätzung, es habe mal „ein harmonisches Miteinander christlichen und jüdischen Lebens in Abgrenzung zum Islam gegeben“ oder „eine liberale, säkulare abendländische Gesellschaft, in der Frauenrechte, Gleichberechtigung und Gleichheit vorgelebt worden wären.“ Und wenn ein Alexander Gauland die deutsche Geschichte abgesehen von einem kurzen zwölf Jahre umfassenden Zeitraum für die letzten 1.000 Jahre zur „Erfolgsgeschichte“ verklärt, hat er wahrscheinlich im Geschichtsunterricht nicht richtig aufgepasst oder vielleicht auch einfach alles vergessen. All diese geschichtsvergessenen Thesen kranken daran, dass als „Mut“ deklariert wird, was Leugnung der Wirklichkeit ist. Wer will schon feige sein. Dann haben Parolen wie der „Mut zur Erziehung“ in den 1980er und „Mut zur Wahrheit“ Konjunktur. Ziel und Inhalt von Erziehung oder von Wahrheit spielen dann keine Rolle mehr. Die Apologet*innen dieser Parolen pflegen – so Astrid Séville – eine „kindliche Freude daran, Tabus zu brechen“ und erklären Vogel-Strauß-Politik zum neuen „realistisch“.
Würde Willy Brandts Satz „mehr Demokratie wagen“ heute lauten: „mehr Gefühle wagen“? Wir haben Politiker*innen, die fordern, die Gerichte sollten mehr nach dem allgemeinen Rechtsempfinden urteilen, und das nicht nur in Ungarn und in der Türkei. Astrid Séville“: „Gefühlte Wahrheiten drohen im Gegensatz zu politischer Kärrnerarbeit, Kompromissfähigkeit und Anpassungsfähigkeit zur harten politischen Währung zu werden. Sollten also auch die Politiker des ‚Establishments‘ mehr Lügen und noch mehr Gefühle wagen? Wäre das heute die richtige Antwort auf die Preisfrage der Preußischen Akademie von 1780, nämlich ob es dem Volke nütze betrogen zu werden?“
Wer sind die „Fremden“?
Barbara John, 1981 bis 2003 „Ausländerbeauftragte“ des Berliner Senats, später unter anderem Ombudsfrau für die Opfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, verglich im Berliner Tagesspiegel den Begriff „Migrationshintergrund“ mit dem Begriff „Untermieter“ und ließ das Bild eines Menschen entstehen, der in der Hierarchie der Bewohner*innen eines Hauses eine untergeordnete Position einnimmt.
In der Tat ist „Migrationshintergrund“ ebenso wie vergleichbare Begriffe wie „Zuwanderungsgeschichte“, „internationale Familiengeschichte“ ein Zeichen unserer Hilflosigkeit, die Herkunft von Menschen zu bezeichnen, die noch nicht allzu lange dort leben, wo sie leben. Niemand käme heute noch auf die Idee, bei den Urenkel*innen der polnischen Bergleute im Ruhrgebiet von einem „Migrationshintergrund“ zu sprechen, doch sind die Kinder und Enkel*innen der sogenannten „Gastarbeiter*innen“ auch 60 Jahre nach deren Einwanderung immer noch „Menschen mit Migrationshintergrund“, selbst wenn sie bereits seit mehreren Generationen einen deutschen Pass besitzen. Das statistische Bundesamt setzt nach wie vor das Jahr 1949 als Grenzdatum. Diejenigen, die einen „Migrationshintergrund“ zugeschrieben wird, werden alleine dadurch immer mehr, dass dieses Datum in Stein gemeißelt bleibt.
Kübra Gümuşay unterscheidet die „Benannten“ von den „Unbenannten“ und schließt damit an den in Soziologie und Politologie gängigen Begriff des „Othering“ an. „Die Unbenannten wollen die Benannten verstehen – nicht als Einzelne, sondern im Kollektiv. Sie analysieren sie. Inspizieren sie. Kategorisieren sie. Katalogisieren sie. Versehen sie schließlich mit einem Kollektivnamen und einer Definition, die sie auf die Merkmale und Eigenschaften reduziert, die den Unbenannten an ihnen bemerkenswert erscheinen. Das ist der Moment, in dem aus Menschen Benannte werden. In dem Menschen entmenschlicht werden. (….) Individualität wird ihnen nicht zugestanden.“ Sie sind „Migrant*innen“, „Fremde“, gehören nicht dazu.
Julia Reuter (Geschlecht und Körper: Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bielefeld, transcript, 2011, siehe hierzu die Rezension von Larissa Schindler) hat „Othering“ mit „VerAnderung“ übersetzt, meines Erachtens eine sehr treffende Version. Eine weitere Version wäre der Begriff des „Priming“, der zeigt, wie auch die „Benannten“ eine ihnen zugeschriebene Identität übernehmen und sich entsprechend verhalten, sodass sich das ursprüngliche „Othering“ noch verstärkt. Das „Fremde“, die „Fremden“ – das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Konstrukt derjenigen, die den Begriff verwenden, um sich von anderen abzugrenzen und damit ihre eigene Identität zu bestätigen.
Nach den Morden vom 19. Februar 2020 in Hanau war überall zu lesen und zu hören: „Die Opfer waren keine Fremden“. Mich hat diese Aussage seltsam berührt, denn diejenigen, die diesen Satz formulierten, wollten mit Sicherheit nicht sagen, dass die Morde akzeptabel gewesen wären, wenn die Ermordeten „Fremde“ gewesen wären. Angesichts der Szenen an der griechisch-türkischen Grenze Anfang März 2020 stellen sich allerdings merkwürdige Gedanken ein. Eine ehemals prominente Vertreterin der AfD erntete Anfang Februar 2016 noch heftigen Widerspruch, als sie den Gebrauch von Schusswaffen an Grenzen gegen Flüchtende erwog. Schusswaffen gegen „Fremde“?
Der Satz, dass die Opfer keine „Fremden“ gewesen wären, ist empathisch gemeint. Aber gut gemeint ist nicht gut. Wie schwierig und wie gefährlich Worte, selbst empathisch gemeinte Worte, sein und wirken können, entlarvt die in Hermeskeil (Rheinland-Pfalz) geborene Autorin Shida Bazyar (2016 erschien bei Kiepenheuer & Witsch ihr erster Roman „Nachts wird es leise in Teheran“) in einem Artikel auf der Schriftstellerplattform „Freitext“. Nach den Morden in Hanau sprachen viele von „Rassismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“, doch gerade in dem Wort „Fremdenfeindlichkeit“ bestätigen sie die kruden Ansichten derjenigen, die von einem ausschließlich „weißen“ Deutschland träumen. Gesprochen wird – so Shida Bazyar – viel zu wenig mit, viel zu oft ausschließlich über die betroffenen Menschen, die – auch das ist ein Problem der allgemeinen Unfähigkeit unserer Sprache – „nicht weiß“ sind oder als „nicht weiß“ angesehen werden., die selbst von wohlwollenden Menschen offenbar als „fremd“ wahrgenommen werden und erst beachtet werden, wenn sie – auch dies eine Kollektivzuschreibung – „Opfer“ geworden sind. Dass diese Wahrnehmung selbst in den besten Familien dominiert, belegt die Antwort auf einen Kommentar zum zitierten Essay. Der Kommentator hatte im Hamburger Wahlkampf die SPD darauf hingewiesen, man möchte die Wähler*innen „mit Migrationshintergrund“ mehr und besser ansprechen und einbeziehen. Er erhielt die Antwort, dafür wären die Kandidat*innen und Abgeordneten „mit Migrationshintergrund“ zuständig.
Shida Bazyar fordert: „Wir wollen repräsentiert werden. Wir wollen kein Heimatministerium, das aus weißen Männern besteht. Wir wollen keine Talkshowrunden, in denen man über uns redet, aber niemanden von uns eingeladen hat. Wir wollen repräsentiert werden. Warum eigentlich? (…) Was sagt das aus, wenn ich eine Gedenkveranstaltung zu einem rassistischen Mord veranstalte, aber die Angehörigen dort nur eine Nebenrolle spielen? Es sagt vieles, es sagt aber auch: Eure Meinung ist nicht so viel wert, sie ist es gerade nicht wert, gehört zu werden.“ Nely Kiyak fragt in ihrer „Deutschstunde“ vom 27. Februar 2020 unter dem Titel „Die Leere nach den Schüssen“, warum eigentlich die Kanzlerin nicht in Hanau war.
Sprache schafft Wirklichkeit. Insofern ist es nicht banal, wenn jemand angesichts von „Rassismus“ von „Fremdenfeindlichkeit“ spricht. Sicherlich ist auch der Begriff des „Rassismus“ kein einfacher Begriff, denn – so Shida Bazyar – „Rassismus hat verschiedene Gesichter, (…) nicht nur das mordende, sondern auch das institutionelle, das strukturelle, das persönliche, aber der Mechanismus bleibt derselbe.“ Was dies alles bedeutet, lässt sich im Diskurs, in der öffentlichen Debatten, in Diskussionen zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz, erörtern. Dann wäre vielleicht auch ein so schwieriger und aufs erste Hören wenig eingängiger Begriff wie die von Heitmeyer geprägte „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ verständlicher.
Jana Anzlinger bringt es auf den Punkt: „Wenn ein Rechtsextremist Mitbürger tötet, dann ist das nicht Fremdenfeindlichkeit, sondern Rassismus.“ („Lieber Schaum vorm Mund als keine Ahnung“). Kübra Gümüşay geht noch einen Schritt weiter. Es gelingt den „Benannten“ nicht, „sich selbst benennen zu dürfen.“ Sie existieren im Kollektiv, mit bestimmtem Artikel. Programmatisch ist die Überschrift eines der Kapitel im Buch von Kübra Gümüşay: „Individualität als Privileg“. Und wenn den so „Benannten“ eine Stimme gegeben wird, beispielsweise zum Kopftuch, dann „nicht als Menschen (…) sondern als Pressesprecherinnen ihrer Religion.“ Menschen werden als „Fremde“ in der Regel auf einziges Merkmal reduziert. Ergebnis: die Verkehrung der Schuldfrage. Als Beispiel nennt Kübra Gümüşay eine Kopftuch tragende Frau, die immer wieder erleben muss, dass sie auf dieses Merkmal reduziert wird und sich als „Kopftuchträgerin“ benennen lassen muss. „(…) nicht das Kopftuch war der Grund für den Angriff, sondern die Tatsache, dass der Täter ein Rassist ist.“
Ein Argumentationsmuster, das wir auch aus einem anderen Zusammenhang kennen, wenn nämlich in einem Prozess über eine Vergewaltigung oder andere Formen sexualisierter Gewalt der Beschuldigte oder seine Verteidiger*in behaupten, der kurze Rock, die erotisch aufgeladene Kleidung der Frau hätte die Tat provoziert. An diesem Beispiel wird deutlich, was es bedeutet, wenn es bestimmte Tatbestände in der Sprache nicht gibt. Der Begriff „sexuelle Belästigung“ wurde – so Kübra Gümüşay – in den USA erst in den 1970er Jahren langsam eingeführt, der Begriff der „sexualisierten Gewalt“ wird in Deutschland erst seit wenigen Jahren verwendet, bisher leider vorwiegend nur von Fachleuten. Kübra Gümüşay: „Die Ohnmacht, die eine solche linguistische Lücke hinterlässt, ist immens: Weder sind Betroffene in der Lage, das Problem zu verbalisieren, noch sind sich die Täter*innen einer Schuld bewusst.“ Insofern ist die Frage beantwortbar, warum die Frauen, die ein Harvey Weinstein seinem Willen unterwarf, sich erst nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten zu diesen Vorfällen äußerten.
„Ein Begriff muss bei dem Worte sein“ (Mephistopheles)
Die kognitive Linguistik analysiert die Verwendung von Wörtern in der Sprache. Eine hilfreiche Methode zur Analyse hat der US-amerikanische Linguist George Lakoff entwickelt, seine Schülerin Elisabeth Wehling hat sie in Deutschland bekannt gemacht (George Lakoff / Elisabeth Wehling: Auf leisen Sohlen ins Gehirn – Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg 4 / 2016 sowie Elisabeth Wehling: Politisches Framing – Wie eine Nation sich ihr Denken einredet und daraus Politik macht, Köln 2016).
Das Grundprinzip: Wenn ich jemandem Pralinen schenke, packen er oder sie Pralinen aus. George Lakoff und Elisabeth Wehling: „Die Vorstellung, Kommunikation würde auf diese Weise funktionieren, ist aber schlichtweg falsch! (…) Um im Bild zu bleiben. Der Empfänger packt eben nicht zwingend das aus, was der Sender eingepackt hat.“ Die beiden Wissenschaftler*innen analysieren, was bei jedem Wort, das wir verwenden, mitschwingt und was Begriffe in uns auslösen, beispielsweise in Formeln wie „Achse des Bösen“, „Coalition of the Willing“, „Steuerlast“, „Homophobie“, „Islamophobie“, „Leistungsträger“, um nur einige zu nennen:
- Wer von „Steuerlast“ spricht, unterschlägt, dass Steuern erforderlich sind, damit wir Infrastruktur und soziale Leistungen finanzieren können. Mit dem Bild der „Steuerlast“ einher geht das Bild der „sozialen Hängematte“, in die sich hineinlegt, wer von den von „Leistungsträgern“ erbrachten „Steuerlasten“ Dass diese „Leistungsträger“ ihre Waren über die mit Steuern finanzierte Infrastruktur vertreiben, verschweigen sie. Und in der weiteren Analyse stellt George Lakoff fest, dass es den selbsternannten „Leistungsträgern“ in der Öffentlichkeit ganz gut gelingt, Steuern als „unmoralischen Akt der Regierung“ zu brandmarken.
- Beliebt sind in der politischen Debatte Familienbilder. George Lakoff und Elisabeth Wehling analysieren die Inszenierung von Politiker*innen als „strenger Vater“ oder als „fürsorgliche Mutter“, beides nicht auf ihr Geschlecht bezogen, sondern auf eine eher konservative gegenüber einer eher progressiven Grundeinstellung. Stichwort in den diversen Debatten: „Fordern und Fördern“, mit Präferenz beim “Fordern“. Funktioniert auch in der Finanzwelt: Die „schwäbische Hausfrau“ (Angela Merkel) ist eine Inkarnation des „strengen Vaters“. „Father knows best“.
- Wer von „Homophobie“ oder „Islamophobie“ spricht, zitiert das Bild der Spinnenangst, der Arachnophobie, und löst ein Bedrohungsgefühl aus, in dem Menschen mit im Allgemeinen als unangenehm empfundenen Tierchen verglichen werden. Solche Vergleiche erinnern mich an die „Lingua Tertii Imperii“ (Viktor Klemperer) und damalige Wege, Phobien zu bekämpfen.
- Abtreibungsgegner*innen nennen sich „Lebensschützer“ (sie verwenden ausschließlich die männliche Form!). Sie unterstellen allen, die anderer Meinung sind, sie wären gegen das Leben. Auf amerikanisch: „Pro Life“ oder „Pro Death“, „TINA-Rhetorik“! Vergleichbar: Wer sich der „Coalition of the Willing“ nicht anschließen will, ist eben „willensschwach“.
Mit Worten kann es gelingen, Menschen zu veranlassen, gegen ihre Interessen zu wählen. Eine Analyse des Erfolgs von Ronald Reagan ergab, dass er gewann, weil er über Werte sprach und nicht über politische Programme. „Einfach ausgedrückt: Es genügt nicht, den Menschen zu sagen, welche Politik man betreiben möchte – man muss ihnen sagen, weshalb diese Politik eine moralische Notwendigkeit ist.“ Die Werte waren die Pralinen, ihre Füllung eine politische Agenda.
Der Inhalt der Verpackung
Anatol Stefanowitsch stellt in seinem Essay „Eine Frage der Moral – Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ (Berlin, Duden, 2018) die Frage, warum viele Menschen so aggressiv auf Veränderungen in der Alltagssprache reagieren. Er referiert Debatten um eine „politisch korrekte Sprache“, die in den Medien hohe Aufmerksamkeit erhielten, beispielsweise die um den „Negerkönig“ in Astrid Lindgrens „Pippi im Taka-Tuka-Land“ oder um „Zigeunerschnitzel“ und „Mohrenapotheke“. Der „N-König“ wurde in einer Neuauflage zum „Südseekönig“, was angesichts des kolonialistisch geprägten Bildes der Südsee, das schon im Titel des Buches deutlich wird, auch nicht viel besser ist.
Ebenso heftig sind seit einigen Jahren die Reaktionen auf eine geschlechtsgerechte Sprache, die von ihren Gegner*innen als „Gender-Wahnsinn“ pathologisiert wird. Sind Frauen wirklich immer mitgemeint, wenn nur die männliche Form gewählt wird? Anatol Stefanowitsch belegt, dass die Frage nicht eindeutig beantwortet werden kann, sondern dass Frauen jeweils nachdenken müssen, ob sie wirklich mitgemeint sind oder nicht. Er illustriert dies an der Verwendung des Wortes „Wähler“ in Wahlgesetzen vor und nach der Einführung des Frauenstimmrechts.
Ein weiteres Beispiel: Es gab und gibt immer wieder heftige Debatten um zwar von niemandem geforderte, aber von manchen einfach einmal behauptete Absichten, einen „Weihnachtsmarkt“ zum „Wintermarkt“ oder wie in Dresden „Striezelmarkt“ umzunennen. Der Dresdner Weihnachtsmarkt heißt zwar – wie Anatol Stefanowitsch belegt – bereits seit dem 15. Jahrhundert „Striezelmarkt“, aber das hat sich offenbar nicht herumgesprochen. Hier wird von Leuten eine „christliche“ Tradition beschworen, die selbst – wenn man die Zahlen der Kirchenmitglieder der jeweiligen Region anschaut – kaum als Christ*innen gelten dürften und auch nicht als solche leben.
Dies erinnert an Debatten um die Umbenennung von Straßen oder Gebäuden. In Greifswald gelang die Umbenennung der nach dem Antisemiten und Franzosenhasser Ernst-Moritz Arndt benannten Hochschule, nach heftigen Debatten, mit dem Ergebnis, dass die AfD in Vorpommern eine Kampagne für die Pflege des Erbes von Ernst-Moritz Arndt in seiner Heimat Rügen gestartet hat. Aber offenbar schreckt ein solcher Name viele Menschen nicht, denn sonst gäbe es nicht so viele Gymnasien, die nach diesem Mann benannt wurden, von Straßen ganz zu schweigen. Dasselbe gilt für den Namen Hindenburg oder für Namen, die mit brutalen Akteuren des deutschen Kolonialismus verbunden sind wie Carl Peters oder Paul von Lettow-Vorbeck.
Wer Fremdwörter benutzt, wird beschuldigt, einer kosmopolitischen Elite anzugehören, die sich nicht um diejenigen schert, die keine Fremdsprachen gelernt hätten. Klingt nach Inklusion, ist es aber nicht, denn diejenigen, die „mit nationalistischen und kulturprotektionistischen Argumenten“, wie sie sich „in den Programmen rechtsradikaler Parteien finde(n)“ gegen Fremdwörter in der Sprache ankämpfen, benennen selbst Alltagsgegenstände um, beispielsweise den „Laptop“ zum „Klapprechner“ und das „Smartphone“ zum „Intelliphon“. Zwischen 1933 und 1945 gab es noch eine Menge anderer Begriffe, die Rechtsradikalen gefallen dürften.
Betroffenheit ist ein Begriff, den alle irgendwie auf sich beziehen können. Allerdings sollten wir vielleicht analysieren, welche Gruppen durch Sprache herabgewürdigt werden und welche nicht. Anatol Stefanowitsch referiert eine lange Liste von beleidigenden Wörtern. Die deutliche Mehrheit der Wörter dieser Liste betrifft Frauen, Menschen mit nicht weißer Hautfarbe, Behinderte, sie betrifft nicht Heterosexuelle, nicht Christ*innen. Dies belegt, wer in einer Gesellschaft, in diesem Fall in der Gesellschaft auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland, beleidigende und ausgrenzende Wörter zur Verfügung hat und wer nicht.
Kübra Gümüşay demonstriert dies am Beispiel „weißer Menschen“, nicht nur der üblichen „weißen alten Männer“, indem sie eine Liste vorlegt, in der „Benennende zu Benannten“ werden. Die Liste beginnt mit der „Benennung“ aller „weißen alten Männer“ als „Sexisten“ und endet mit: „Sie kolonisieren ganze Kontinente, versklaven und verschleppen Menschen, rauben ihnen Land und Bodenschätze. Und wenn sich Betroffene gegen den Rassismus wehren, beschuldigen sie diese, sie würden die Gesellschaft spalten.“ Wie sich solche Zuschreibungen anfühlen, erlebe ich selbst gelegentlich, wenn jemand versucht, mich, der ich auch ein weißer alter (zumindest älterer) Mann bin, als Mitglied einer die Minderheiten unterdrückenden „Dominanzgesellschaft“ zu kennzeichnen. Ich wünschte mir, dass eine solche Umkehr der „Benennung“ systematisch erfolgt, als eine Art Konfrontations-Pädagogik. Vielleicht denken dann manche doch einmal über die Verletzungen nach, die sie mit ihren Behauptungen angeblich unwandelbarer Eigenschaften verursachen.
Da nun „abwertende Sprache oft der erste Schritt zu abwertenden Handlungen“ ist, schlägt Anatol Stefanowitsch eine vom kategorischen Imperativ Immanuel Kants abgeleitete „goldene Sprachregel“ vor. Dieser Imperativ findet sich auch in den heiligen Schriften von Christentum, Islam und Judentum (in alphabetischer Reihenfolge). „1. Stelle andere sprachlich nicht so dar, wie du nicht wollen würdest, dass man dich an ihrer Stelle darstelle. / 2. „Stelle andere sprachlich stets so dar, wie du wollen würdest, dass man dich an ihrer Stelle darstelle.“ Das heißt letztlich: Zeige Respekt.
Und gerade deshalb muss darüber diskutiert werden, was „politisch korrekt“ ist und was nicht. Mit einem bloßen Austausch von Wörtern ist es nicht getan. Die Debatte um das Südsee-Buch von Astrid Lindgren ist geradezu ein Lehrstück: „Es geht in allen Fällen darum, wie etwas gesagt wird, nicht, ob es gesagt werden darf. Was kritisiert wird, ist nicht der Inhalt, sondern der Ausdruck. An der Geschichte eines schwedischen Seemanns, der von der Bevölkerung einer Südseeinsel zum König erkoren wird, ändert sich nichts, wenn er sprachlich zum Südseekönig wird. Die Bücher dürfen auch nach der sprachlichen Modernisierung kolonialistische Stereotype in die Kinderzimmer des Landes tragen und sind damit ein hervorragendes Beispiel für die Freiheit, kritikwürdige Meinungen zu äußern.“
Raus aus der Wagenburg
Dekonstruktion von Sprache, von damit verkündeten Einstellungen – das ist sicher ein Weg zu mehr Verständnis, zu mehr Liberalität und zu mehr Respekt in der Demokratie. Es gehört jedoch noch etwas dazu: wir müssen Widersprüche, Gegensätze aushalten. Damit ist nicht gesagt, dass wir jede Grenzüberschreitung, jede Hasssprache akzeptieren müssen. Hasssprache – warum benennen die meisten Journalist*innen und Autor*innen diese eigentlich immer nur mit dem englischen Begriff „Hate Speech“? Wird das dadurch harmloser, weil irgendwie außerhalb der deutschen Wirklichkeit gelegen?
Kübra Gümüşay: „Für den Großteil der Gesellschaft werden rassistische menschenfeindliche, diskriminierende Debatten erst dann real, wenn Mobs Menschen jagen, Gebäude in Brand setzen, töten. Der Hass, die Häme, die Gewalt, die Ablehnung – all das, was für Menschen wie mich, Menschen die als ‚anders‘ markiert sind, tägliche Realität ist, wird für die meisten erst sichtbar, wenn es massiv eskaliert. Die Dinge, die Minderheiten und marginalisierte Gruppen erleben, sind Vorzeichen. Wir sollten genau hinhören, wenn sie beschreiben, was im Schatten geschieht – wofür es manchmal noch nicht einmal Worte gibt. Sie sind Seismografen für die Gefährdungen unserer Demokratie.“
Das Internet verursacht den Hass nicht, es „macht den Hass sichtbar, der zuvor nur für die direkt Betroffenen sichtbar war.“ Kübra Gümüşay zitiert Mely Kiyak, deren Texte unter dem Titel „Kiyaks Deutschstunde“ regelmäßig auf Zeit online erscheinen. Mely Kiyak verweist auf die Zahl der Briefe, die sie unabhängig von elektronischen Botschaften erhält, während ihre Kollegen „in ihrem ganzen Berufsleben vielleicht drei Briefe bekommen. (…) Selten handelt ein Brief davon, wovon ich schrieb; meistens davon, dass ich schrieb. (…) Es hat zehn Jahre gedauert, bis die Kollegen diesen Hass als Problem erkannten und beschrieben.“
Kübra Gümüşay beklagt die „Diktatur der immerwährenden Wiederholung“, aber auch, dass „die ewige Verteidigungshaltung dazu führte, dass wir innerislamische Diskussionen vernachlässigt haben. Aus Angst davor, jemand könnte solche Diskussionen instrumentalisieren, haben wir vermieden, Missstände innerhalb unserer Gemeinschaften – Sexismus, Antisemitismus, Radikalisierung, Rassismus – ausreichend zu kritisieren. Aus lauter Angst, Öl ins Feuer zu gießen, haben wir auch kein Wasser gegossen.“
Dauerbeschuss führt zu Wagenburgmentalität – und diejenigen, die sich in die Wagenburg zurückziehen müssen, werden auch noch dafür verantwortlich gemacht, sich gegen den Beschuss zu wehren. Manche tun dies dann auch und schießen zurück, die meisten zum Glück nur verbal. Schutz gegen den Beschuss, unter dem sie leiden, erhalten sie nicht. Journalist*innen lassen Invektiven ohne Widerspruch zu, verzichten darauf, „Fehler, Lügen Manipulationen und Provokationen ihrer Gäste zu entlarven“, mit dem Ergebnis, „dass Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus etc. zu Meinungen oder Positionen geadelt werden – und unser Beitrag ist dann lediglich eine Gegenmeinung oder Gegenposition.“
Kübra Gümüşay nennt aber auch das Gegenmittel: „De facto streiten wir gerade darum, durch wessen Brille wir auf die Gesellschaft schauen. Wen wir als uns nah empfinden, als Freund, wen als Fremd, als Feind (…) Wir müssen aufhören zu reagieren. Und stattdessen die Themen und Fragestellungen auf die Tagesordnung setzen, die uns als Gesellschaft voranbringen.“ Nur so haben wir eine Chance „gegen die Aufmerksamkeitsdiktatur der Rechten und gegen die Regierenden, die sich dieser Diktatur unterwerfen.“ Agenda-Setting lautet die Aufgabe. Ob die Erfüllung dieser Aufgabe eine Sisyphos-Arbeit ist, hängt von uns allen ab.
Wer sind denn nun die „Fremden“? Ich würde gerne darüber debattieren, was es damit auf sich hat, dass viel zu vielen Menschen in Deutschland und in anderen Ländern die Grundsätze des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats „fremd“ sind. Vielleicht hat über eine solche Debatte die „goldene Sprachregel“ von Anatol Stepanowitsch eine Chance und wir müssen nicht mehr beteuern, dass ermordete Menschen „keine Fremden“ waren. Sie waren Menschen – und das sollte – irgendwann – reichen.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im März 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)