Die iranischen Frauen und der „Westen“

Golineh Atais Buch „Iran – Die Freiheit ist weiblich“

„Mit dem Geistlichen Ebrahim Riassi wählte der Machtkern im Juni 2021 zuletzt einen treuen Soldaten zum Präsidenten – einen Justizchef, der Todesurteile schnell und effektiv ausgestellt hatte und der nun als Präsident den Willen des Obersten Führers exakt und prompt umsetzt. Vielleicht hat das System nun endlich sein wahres Gesicht gezeigt, alle Anmaßungen auf eine vermeintliche Pluralität abgelegt und deutlich gemacht, dass es nicht mehr als eine ‚elektorale Despotie‘ ist, wie der australische Politikwissenschaftler John Keane es ausdrückt: Wahlen ohne Demokratie, Wahlen ohne Repräsentation, Wahlen, um die Macht vor dem Volk abzuschirmen. Und die Wähler? Nach fast einem Vierteljahrhundert inszenierter Reformen haben sie sich von den Reformern abgewandt. Die niedrigste Wahlbeteiligung – allein nach offiziellen Zahlen wählten über die Hälfte der Wahlberechtigten nicht – die höchste Zahl ungültiger Stimmen. Eher waren die Wahlen 2021 ein ‚Nein‘ in einem Referendum.“ (Golineh Atai im Prolog zu „Iran – Die Freiheit ist weiblich“)

Seit 1999 wird am 25. November der Aktionstag der Vereinten Nationen zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen begangen. Offizielle Gebäude wurden wieder orange angestrahlt, Demonstrationen fanden statt, Banner wurden entrollt. Wie jedes Jahr. In der Mehrheit sind es Frauen, die sich an Aktionen während dieses Tages beteiligen. Ist der 25. November so etwas wie der „Muttertag“ der Menschenrechte? Oder ein Tag, aus dem wirklich zielführende Aktionen zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen erfolgen?

Wahrheiten aus Sicht von Zeitzeuginnen

Aber auch das ist ein Teil der Wahrheit: die Algorithmen der Nachrichten über den Aufstand der Frauen im Iran und die Gewalt, mit der das Regime der Mullahs sein System der Realität anzupassen versucht, haben die Halbwertzeit der Aufmerksamkeit überschritten und sind auf die Innenseiten der Zeitungen und in die sozialen Foren gewandert.

Immerhin: Der UN-Menschenrechtsrat hat am 25. November 2022 auf Antrag der Bundesrepublik Deutschland und Islands eine Resolution gegen den Iran verabschiedet, die vorsieht, dass die Gewalt der iranischen Führung gegen friedliche Demonstrierende unabhängig untersucht wird. Es ist schon als Erfolg zu werten, dass dieser Akt feministischer Außenpolitik trotz heftiger Lobbyarbeit gegen die Zulassung des Antrags und dessen Inhalt durchgebracht wurde.

Am 28. November 2022 hat der Deutsche Journalisten-Verband angesichts der massiven Bedrohungen und Drohungen journalistischer Arbeit sowohl im Iran als auch im Ausland seitens der iranischen Behörden die Einbestellung des iranischen Botschafters gefordert. Das Islamische Zentrum in Hamburg (IZH) steht schon seit längerer Zeit unter dem Verdacht, Sprachrohr des iranischen Regimes zu sein, die Süddeutsche Zeitung sprach am 28. November 2022 von einem „Außenposten des Teheraner Regimes“. Der Verfassungsschutz war involviert. Inzwischen hat das IZH die Hamburger Schura verlassen und enthob diese und den Hamburger Senat von der Aufgabe, das IZH auszuschließen. „What we want is for governments to stop saving the Islamic regime of Iran“, sagte die iranische Schriftstellerin Maryam Namazie (*1966) am 16. November 2022 im Interview mit Andrew Marr.

Golineh Atai (*1975), Auslandskorrespondentin für die Öffentlich-Rechtlichen in Moskau und Kyjiw, jetzt in Kairo, erschließt für uns hier im Westen schonungslos, analytisch, engagiert und kritisch, was wir nur sehen, aber nicht begreifend gleich in unser Wertesystem, in unsere Denkschemata einordnen. Ihr Buch „Iran. Die Freiheit ist weiblich“ erschien im Jahr 2021 bei Rowohlt.

Die Journalistin macht einen zweigeteilten Staat Iran aus: die „gewählten“ Institutionen, die die täglichen Staatsgeschäfte verwalten. Und die Macht des Obersten Führers, bei dem alle Macht und alle Gewalt zusammenläuft. Das ist der Rahmen, vor dem sie neun Frauen aus der iranischen Mittelschicht als Zeuginnen dessen portraitiert, was unter diesen Voraussetzungen Alltag im Iran für Frauen bedeutet. Diese Zeugnisse gehören wahrgenommen und erzählt!

Die Dynamik der laufenden Ereignisse verleiht den Aussagen der Frauen, die mit ihrer jeweils eigenen Geschichte als Zeuginnen zu uns sprechen, zusätzliches Gewicht. Es sind die Zeugnisse aus einem Land, dessen Regime der alten Männer seit 1979 reformresistent ist und unter dem Deckmantel der Religion eine Gesellschaft geschaffen hat, die es nur in ihrer Vorstellung gibt, deren erfundene Prämissen dieses Regime mit Gewalt, Willkür und Angst durchsetzt.

Die Frauen unterscheiden sehr wohl zwischen Islam und dem, was als Islam in der sogenannten Islamischen Republik deklariert wird. Manche dürften den Tschador und den Hijab aus Glaubensgründen tragen, manche dürften auch sehr genau und messerscharf zwischen Zwang und Gewalt und freier Überzeugung unterscheiden.

Hauswand in Teheran, Foto: Beate Blatz

Dieses Regime leugnet die Realität im eigenen Land – und die westlichen Nationen glauben, mit seinen Vertretern verhandeln zu können. Für den Westen geht es darum, den Bau einer Atombombe durch den Iran zu verhindern, wie es schon vor 70 Jahren darum ging, das iranische Öl für die eigene Wirtschaft zu sichern, Geschäfte für Maschinen, Technologie, Autos, was im Westen produziert und verkauft werden muss, zu vereinbaren. Das Ergebnis war der vor allem von den Briten betriebene Sturz des bisher einzigen demokratischen Regierungschefs des Iran, Muhammad Mossadegh.

Angesichts der „Energiekrise“ soll der Iran auch in Zukunft Partner in der Fortsetzung des Immer-mehr und des Immer-so-Weiter sein. Angesichts der Klimakrise“ und nicht zuletzt der Verachtung der Menschenrechte durch das Regime sollte der Westen allerdings klar sehen, was im Iran geschieht, die eigenen Bedarfe und Bedürfnisse zurückstecken und wirklich und ehrlich eine Wende einleiten in unserem Umgang mit diesem Planeten, den Menschen und denen, die die Grundlagen des Lebens zerstören. Damit würden wir die fatale Tradition endlich brechen, die in dem bei Hentrich & Hentrich 2017 erschienenen Band „Iran – Israel – Deutschland“ bis ins Detail beschrieben wurde.

Eine kurze Geschichte westlicher Einmischungen im Iran

Man muss es sich noch einmal vor Augen führen: der „Westen“ blieb als Player zu keinem Zeitpunkt in der jüngeren Geschichte des Iran unbeteiligt.

Das Gebiet des heutigen Iran war nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wie die meisten Länder der Region „Naher und Mittlerer Osten“ Spielball der Siegermächte, in diesem Fall Russlands und Großbritanniens. Ein erster Versuch, eine Republik zu gründen, scheiterte in den 1920er Jahren und brachte Reza Schah, den Vater des letzten Shah Mohammad Reza Pahlevi, an die Macht. Er verfolgte mehre große Vorhaben, eine Transiranische Eisenbahn, die nie fertig gebaut wurde, die Reform von Gesundheits- und Bildungswesen, den Versuch, eine Nation zu formen. Wichtiger Handelspartner: das Deutsche Reich. 1936 ließ Reza Shah – dem Vorbild Atatürks folgend – westliche Kleidung bei Männern und Frauen anordnen, am 7. Januar 1936 wurde der Tschador verboten, es gab eine Anweisung, dass Polizisten Frauen mit Tschador entschleiern sollten. Gewalt gegen Frauen von Anfang an. Zwangsentschleierung als das Gegenstück einer Zwangsverschleierung. Beides ist und bleibt Zwang!

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges erklärte Iran seine Neutralität. Iran war strategisch für alle Weltkriegsparteien nicht zuletzt wegen der Ölfelder von strategischer Bedeutung. Großbritannien wies den Iran angesichts seiner Neutralitätserklärung an (!), alle deutschen Ingenieure und Handelspartner auszuweisen. 1941 marschierte Großbritannien mit der Sowjetunion gemeinsam in den Iran ein. Die Besatzungsmächte teilten das besetzte Land in drei Zonen auf: der Norden wurde von der Sowjetunion kontrolliert, der Süden und die Ölfelder von den Briten, die Mitte um Teheran herum blieb „frei“. Reza Shah wurde zur Abdankung gezwungen. Offiziell wurde sein Sohn Mohammed Reza zu seinem Nachfolger erklärt. Die Macht aber lag in der Hand der Besatzungsmächte. Die Briten ziehen 1945 ab, die Sowjetunion 1946.

1951 wählte Iran in einer demokratischen Wahl Mohammad Mossadegh zum Premierminister. Als solcher setzte er sich für die Verstaatlichung der von Großbritannien kontrollierten Anglo-Iranian Oil Company und damit einen unabhängigen Iran ein. 1953 flieht der Shah angesichts der gegen westliche Einmischung gerichteten Entwicklungen ins Ausland. Mohammad Mossadegh übersteht ein Misstrauensvotum des iranischen Parlaments, wird zum zweiten Mal zum Premierminister gewählt – und noch im gleichen Jahr, 1953, mit Unterstützung der USA und der Briten gestürzt. Der Shah kehrt zurück. Iran wird während des Kalten Krieges zum Außenposten der westlichen Mächte gegen den Kommunismus und gerät immer mehr in westliche Abhängigkeit. Mohammed Reza Pahlevi geht äußerst brutal gegen die politische Opposition vor und unterdrückt jeden Widerstand. Es ist angesichts der dann folgenden Ereignisse geradezu paradox, dass ausgerechnet die an der Scharia orientierte religiöse Opposition, die Geistlichen um Ayatollah Khomeini u.a., zum Idol und Ventil für die Idee von Freiheit werden.

Der Shah will sein Kaiserreich – auch mit Hilfe der USA als führende Wirtschafts- und Militärmacht des „Westens“ – militärisch und industriell nach vorne bringen. Innenpolitisch setzt sich der Autokrat für die Rechte der Frauen ein, neben dem Wahlrecht werden weitere Gesetze zur Gleichberechtigung der Geschlechter und ein liberales Scheidungsrecht eingeführt. Die realen Verhältnisse, in denen seine Untertanen leben müssen, kennt er nicht oder will er nicht kennen. Stattdessen verliert er sich im Größenwahn seiner eigenen Palast-Parallelwelt. Manche von uns haben diese völlig bizarren und gigantischen Feierlichkeiten in Persepolis im Jahr 1971 zum 2.500. Jahr des Bestehens der Monarchie noch in Erinnerung.

Persepolis 1971 brachte das Fass zum Überlaufen. Es brodelte im In- und Ausland.1978 explodieren die Proteste endgültig. Im Januar 1979 verlässt der Shah fluchtartig den Iran. Im Februar 1979 kehrt Ayatollah Khomeini aus seinem französischen Exil in Neauphle-le-Château zurück.

Das ist die Kurzform der Geschichte, in deren Verlauf 1979 bis 1980 studentische Proteste gegen die imperialistische Haltung des Westens, ein totalitäres Regime und die daraus erfolgende „Unterdrückung der Massen“ zum repressiven Regime der Mullahs unter Führung Khomeinis führten. Soweit der Blick von außen.

Macht über Frauen – gegen Frauen

Azar Nafisi (*1947 oder 1955) beschreibt in „Lolita lesen in Teheran“ den mehr oder weniger schleichenden Prozess von der revolutionären Idee einer freien Gesellschaft über die immer härter werdenden Repressionen der neuen Machthaber unter Ayatollah Khomeini, die immer herbere Absurdität der Anordnungen des Regimes. Sie beschreibt das eigene Nichtwahrhaben und Nichtwahrnehmenwollen dieses Prozesses, die zunehmende Indoktrination und Vereinnahmung – bis es zu spät war. Als erste gingen bereits im Jahr 1980 die Frauen auf die Straße, als sie merkten, die neue Gesellschaft habe sie nicht vorgesehen, im Gegenteil, sie sollten alle Rechte verlieren, die sie schon längst hatten. Tschador und Kopftuch, ehemals freier Ausdruck freier Religionsausübung von freien Frauen, werden zum staatlichen, die Frauen uni-formierenden Machtinstrument. Jede Form der Individualität von Frauen wird im Keim erstickt, da als gefährlich für die geistige Gesundheit der Männer empfunden.

Azar Nafisi setzt der Welt erstarrender und erstickender Rituale, der willkürlichen Gewalt und Demütigung von Frauen ihre inoffiziellen und illegalen Literaturseminare für ihre ehemaligen Student*innen zu Romanen der westlichen Welt entgegen. Ihr Haus wird zum Refugium. Durch die Literatur öffnen sich die Frauen ihre eigene Gefühlswelt. Sie versuchen, Parameter für das zu finden, was ihnen tagtäglich widerfährt, in einem Land, das zum Gefängnis geworden ist, manchmal sogar sehr konkret. Sie versuchen, ihre Würde zu behalten und sich den Regeln der Unterdrückung nicht zu unterwerfen, sondern ihre eigene Würde zu behalten. Nafisi beschreibt die subversive Energie von Frauen, die sich dem Regime zu entziehen versuchen, indem sie ihre Individualität trotz der Vereinheitlichung aller Frauen zur gesichtslosen Masse leben – und sich in diesem kleinen Kreis zeigen und Kraft schöpfen. Im Grunde ist die ganze Situation, dieses Regelsystem zum Schutz von Männern völlig absurd. Und in dieser Absurdität gefährlich.

Anders als andere Frauen konnte Azar Nafisi das Land verlassen. Sie lebt jetzt in den USA.

Eine Generation später setzt Golineh Atai an. Ihre Protagonistinnen berichten über das Leben in der sogenannten „Islamischen Republik Iran“. Sie buchstabieren die politische Landkarte der frühen 1980er Jahre noch einmal für uns, die wir damals danebenstanden und aus sicherer Entfernung beobachteten, wie Khomeini aus dem Flieger stieg, wie scheinbare Massen von Studierenden die US Botschaft besetzten und Geiseln nahmen. Wir sahen Shapour Bakhtiars Versuch, als Premierminister 1979 den Mullahs etwas entgegenzusetzen, wir erfuhren, wie er und andere Mitglieder früherer Regierungen ermordet wurden.

Für die Frauen, die für politische Freiheit und einen Staat ohne Unterdrückung auf die Straßen gegangen waren, zog sich im Iran die Schlinge immer enger. Von Beginn an wurden Tschador und die angemessene Verhüllung „weiblicher Reize“ mit einem Kopftuch zum Wesen und Kernelement des Islam erklärt. Fassungslosigkeit angesichts dieser rückständigen Übergriffigkeit, die sich sehr schnell in Gewalt gegen die Frauen richtete, die sich nicht an die vorgegeben Verhüllungsregeln hielten.

Die aufgezwungene Kleiderordnung wurden schon 1980 als Protestmittel eingesetzt. Natürlich von Frauen. Frauen stiegen in der Straße der Revolution in Teheran vor einer französischen Bäckerei auf einen Stromkasten, zogen ihre Kopfbedeckung ab und hängten sie an einen Stab. Es gibt Fotos und Videos der damals Stab und Tuch schwingenden Frauen, die ihre Haare im Wind wehen ließen. Sie gleichen den heutigen Videos von gleichen Aktionen, die sofort von allen Frauen verstanden werden. Auch damals war die Reaktion des Regimes brutal. Ausnahmslos alle Zeuginnen berichten von physischer und psychischer Folter, demütigenden Körperuntersuchungen, Einzelhaft, willkürlichem Umgang des Wachpersonals mit den Bedürfnissen der Frauen, Vergewaltigung, Gewalt. Oft wussten die Familien nicht einmal, ob und wo die Frauen, Mütter, Töchter, Großmütter eingesperrt waren, ob sie überhaupt noch lebten.

Auch 2009 gaben die Frauen die Hoffnung auf eine Veränderung innerhalb des Systems nicht auf. Sie hofften auf die sognannten Reformer. Eine Frau zitiert ein Lied, das bei den Protesten auf der Straße damals gesungen wurde: „Oh Frau, oh Gegenwart des Lebens, die Knechtschaft ist vorbei, die Rettung der Frau ist möglich, diese Bewegung führt sie herbei.“

Wendepunkte?

Wir schreiben den 20. Juni 2009. Der Tod der 26jährigen Neda Agha-Soltan auf offener Straße, der per Video in die Welt ging, machte allen Hoffnungen ein Ende.

Das Imperium der Mullahs machte einfach weiter, sicherte sich ab. Der Westen ging zur Tagesordnung über. Die westlichen Führenden folgten ihren eigenen wirtschaftlichen und strategischen Interessen und glaubten wirklich mit den Mullahs sprechen zu können. Auch das ist absurd. Naiv und absurd. Es gibt keine Parteien, es gibt die Diktatur der Mullahs. Und die verfolgen stur ihre Interessen. Der Westen ist ihnen egal.

Moschee in Rayan, Iran, Foto: Beate Blatz

Der Iran wird von den Interessen einer Schattenwirtschaft bestimmt: den großen den Mullahs, bzw. dem geistlichen Führer selbst unterstehenden „Wohlfahrtsvereinen“, Stiftungen und Holdings, die Bargeld, Land, Immobilien, Kunst, Firmen sammeln, wie z. B. die Stiftung Astane Quods Razavi oder die Holding Khatam al Anbija oder die Taavone-Stiftung. Golineh Atai schreibt: „Wer die Wirtschaft des Iran begreifen will, muss die parastaatlichen und undurchsichtigen Bonyads, die Stiftungen verstehen lernen. Bonyads legen den privaten Sektor des Iran lahm. Mit ihrer Hilfe plündern Kleptokraten des Landes Gemeinbesitz. Durch sie wird öffentliches Geld in private, korrupte Hände geschleust. Bonyads beeinflussen fast alle iranischen Spitzenunternehmen…Wer die Rolle des Führers Ali Chamenei begreifen will, muss über die höchste religiöse und politische Macht hinaus auch die größte ökonomische Macht in dessen Händen in den Blick nehmen, resümiert die von iranischen Journalisten gegründete Denkfabrik ‚Doublethink‘ in ihrer Analyse der ökonomischen Machtverhältnisse.“

Das Land blutet derweil aus. Der Süden ist in ganzer Linie abgehängt, im wahrsten Sinne des Wortes: denn gute Verkehrsverbindungen, geschweige denn eine Zugverbindung gibt es nach wie vor nicht in die südlichen Teile des Landes. Das Bildungssystem funktioniert nicht mehr, das Gesundheitssystem bricht zusammen, die Klimakrise und ihre Auswirkungen zerstören Arbeitsplätze. Das fördert die Abwanderung – und die Verelendung von Menschen, die aus dem wie auch immer gearteten System, mit Sicherheit aus dem Blick der Mullahs fallen. Vielleicht noch als Stimmvolk nützlich für Wahlen, die keine sind.

Ein weiteres finsteres Thema der Zeugnisse ist der Krieg mit dem Irak, der das Land im kollektiven Märtyrertum „vereinen“ sollte. Das Land braucht Krieger. Familien verlieren Söhne, Brüder, Väter, Männer, Freunde. Die beiden Golfkriege verfestigen noch einmal mehr, was bereits gleich zu Anfang der Revolution festgeschrieben wurde und nun mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ohne Rücksicht auf die Bevölkerung und/oder die Realität im Land durchgepeitscht wird:

Die drei Säulen der Islamischen Republik sind der Tschador, der Hass gegen die USA und gegen Israel, Märtyrertum. Ein absolut und total lebensfeindlicher Kanon.

Die Frauen, mit denen Golineh Atai sprach, gehen in unterschiedlichen Strategien mit der permanenten Bedrohung um, alle widersetzen sich dem Regime, manche haben das Land verlassen können, andere haben entschieden zu bleiben, um den Widerstand aufrecht zu erhalten und untereinander Solidarität halten zu können.

Ihnen allen haben gewaltsame Männer und deren Komplizinnen eine Jugend, ein Leben gestohlen, durch die absurden und entwürdigenden „Regeln“, die das Regime aufstellt und durch Schergen auf weißen Motorrädern und in weißen Minibussen durchsetzen lässt. Da reicht schon eine bunte, eine weiße Socke, die unter dem Tschador hervorlugt, der Verdacht auf den Gebrauch von Schminke und Nagellack, um verhaftet, gefoltert, getötet zu werden. Die jüngeren Frauen sind nüchterner, unabhängiger von aufgezwungenen Meinungen, subversiver in ihren Ausweichmanövern gegenüber der staatlichen Ordnung. Aber sie riskieren viel.

Es geht nicht nur um das Kopftuch und den Tschador. Es geht um Freiheit und Menschenrechte, darum, zu leben. Es geht darum, die lebensfeindliche Einbildung der Mullahs, die diese Islamischer Staat nennen, zu enttarnen. Es geht darum, die Menschenrechte wieder herzustellen.

Das hat der „Westen“ damit zu tun! Solidarität ist das Gebot der Stunde

Und jetzt? Jeden Tag geschehen diese Gewalttaten. Dank der sozialen Medien dringen sie hinaus. Hört diese Welt? Hören die Feministinnen hier im Westen durch das eigene Theoriegeraune hinweg die Stimmen der Schwestern im Iran? Gibt es direkte Kontakte?

Es reicht nicht, mit „Gratismut“ (Jan Stremmel, Wir Heuchler, in: Süddeutsche Zeitung vom 26./27.11. 2022) ein paar Haarsträhnen abzuschneiden und sonst so weiterzumachen wie bisher. Orange angestrahlte Gebäude sind Zeichen für einen Tag. Sich aufzumachen und genau hinzuschauen, den Zeuginnen zuzuhören, ihr Zeugnis teilen, gerade, wenn die Algorithmen etwas anderes vorgeben, geht über den Tag hinaus:

Teheran, Behescht e-Zahra-Friedhof, Gräber der Märtyrer, Foto: Beate Blatz

Golineh Atai: „Die in diesem Buch portraitierten Frauen sehen das, was wir nicht sehen oder nicht sehen wollen, unmittelbar und detailscharf vor sich. Ihre Illusionen sind überwunden. Sie haben das Spiel durchschaut. Vielleicht können wir von ihnen lernen, die Dinge endlich beim Namen zu nennen. Hören wir ihnen zu, sehen wir sie, damit wir erkennen, was jeden Tag im Iran geschieht.“ Golineh Atai wird nicht müde, das zu sagen, was jetzt ansteht, deutlichst, als Beispiel verweise ich auf einen podcast von hr2.

Klare Solidarität mit den Frauen im Iran! Maßnahmen, Sanktionen gegen die Mullahs und ihre Stützpunkte hier in Deutschland z.B.!

Was könnte das sein? So konkret wie möglich:

  • Die Regierungen der bei den Vereinten Nationen akkreditierten Staaten sollten die Erklärung der Menschenrechte ernst nehmen und deren Umsetzung einfordern. Gleichzeitig sollten Handelsbeziehungen mit den Mullahs und ihren Schattenmännern eingefroren werden.
  • Die Vermögen der Stiftungen hier im Westen sollten ebenso eingefroren werden wie das beim Vermögen der russischen Oligarchen möglich war. Ganz nebenbei: was ist mit der tollen ehemals vom iranischen Geheimdienst genutzten und sich nun im Besitz der Bonyad (!) e Mostazafan befindenden Luxusimmobilie in Köln-Marienburg, Parkstrasse 5?
  • Warum studieren die Kinder der Machthaber immer noch ungehindert im Westen,
  • Warum ist der Zugang zu einfachen Visa für viele Iraner*innen (z.B. beim Filmfest in Köln) nicht möglich?
  • Bestellt eine westliche Regierung den Botschafter der Islamischen Republik ein, um mit ihm die Menschenrechtsfrage zu erörtern? Der Vorstoß des Journalistenbundes ist ein Ansatz.
  • Wir sollten Frauen wie Nasrin Sotudeh zuhören, der Juristin und Menschenrechtsaktivistin aus Teheran und Trägerin des Alternativen Nobelpreises aus dem Jahr 2020. Die Anwältin wurde im Jahr 2020 zu 33 Jahren Gefängnis und 148 Peitschenhieben verurteilt. Wir können sie im Film „Taxi Teheran“ von Jafir Panahi sehen, dem Gewinner-Film der Berlinale 2015. Dort spricht sie mit dem Regisseur in dessen Taxi. Auch Jafir Panahi wurde inzwischen verhaftet. Wir sollten auch Frauen zuhören, die nicht unbedingt Englisch sprechen, aber dadurch eine ganz andere als die „sonst übliche“ Gruppe von Ansprechpartnerinnen für „den Westen“ darstellen, sollten hier zu Wort kommen. Es gibt genügend fähige Frauen für gute Übersetzungen!

Beate Blatz, Köln

Zum Weiterlesen:

  • Katajun Amirpur, Khomeini, München, C.H. Beck, 2019.
  • Golineh Atai, Iran – Die Freiheit ist weiblich, Hamburg, Rowohlt, 2021.
  • Christopher de Bellaigue, Patriot of Persia – Muhammad Mossadegh and a Tragic Anglo-American Coup, London, The Bodley Head, 2012 (eine deutsche Übersetzung liegt leider noch nicht vor).
  • Christopher de Bellaigue, Der Rosengarten der Martyrer, München, C.H. Beck, 2006 (die englische Originalausgabe „In the Rosegarden of the Martyrs – A Memoir of Iran“, erschien 2004 bei Harper Collins).
  • Dan Diner, Der andere Krieg“, München, DVA, 2021.
  • Stefan Grigat, Hg., Iran, Israel, Deutschland – Antisemitismus, Außenhandel und Atomprogramm, Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2017.
  • Ryszard Kapuściński, Schah-in-schah – Eine Reportage über die Mechanismen der Macht, der Revolution und des Fundamentalismus, Frankfurt am Main, Eichborn, 1997
  • Azar Nafisi, Lolita lesen in Teheran, München, Pantheon, 2006 (die englische Originalausgabe „Reading Lolita in Teheran“ erschien 2006 in der Penguin Random House Verlagsgruppe)

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2022, das Titelbild „Beauty! (Botticelli Meets Calligraphy 2022)” by Corinna Heumann (copyright), Zugriff zu den im Text genannten Internetadressen zuletzt am 30. November 2022.)