Die Ukraine und der Donbas – eine höchst komplexe Geschichte
Iaroslav Kovalchuk im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Serhiy Kudelia
Am 24. Februar 2022 startete Russland eine umfassende Invasion der Ukraine. Dennoch war dies nur eine neue Phase, denn der Konflikt reicht zurück bis ins Jahr 2014, als Russland die Krim besetze und der bewaffnete Konflikt im Donbas begann. Russlands Rolle in diesem Kontext wurde bis 2022 debattiert, doch dann enthüllte sich die Invasion als eine russische Operation gegen die ukrainische Regierung und nicht als ein bloßer lokaler Aufstand gegen die Politik in Kyiv. Um zu verstehen, wie der Krieg zwischen Russland und der Ukraine begann und welche Rolle die Einwohner und Eliten des Donbas dabei spielten, sprach die sozialkritische Zeitschrift „Commons“ mit Serhiy Kudelia. Das Interview führte Iaroslav Kovalchuk, Mitglied der „Commons“-Redaktion und Doktorand der Geschichtswissenschaft an der University of Alberta in Edmonton (Kanada). Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Geschichte der Sowjetunion und der Westukraine sowie Fragen des Nationalismus und nationaler Konflikte.
Serhiy Kudelia ist Politikwissenschaftler an der Baylor Universität in den USA. Seine Forschungsinteressen umfassen bewaffnete Konflikte, politische Regime und Institutionen sowie Struktur und Verfassung von Institutionen. Seine Veröffentlichungen beziehen sich vorwiegend auf die postsowjetische Ukraine. Seit 2014 schreibt er für verschiedene akademische und analytische Publikationen über den Krieg im Donbas. 2025 veröffentlichte Oxford University Press sein Buch „Seize the City, Undo the State: The Inception of Russia’s War on Ukraine”. Das Buch war das Ergebnis vieler von ihm in den Jahren 2014 bis 2020 geleiteter Interviews und Feldforschung im Donbas.
Iaroslav Kovalchuk: Der Untertitel Ihres Buches lautet „Der Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine“. Er suggeriert sofort die zentrale Rolle Russlands bei den Ereignissen im Frühjahr 2014 im Donbas. Dennoch legten Sie in einem analytischen Text, den sie kurz danach veröffentlichten, den Schwerpunkt auf die internen Ursachen des Konflikts. Bedeutet der Untertitel, dass Sie Ihre Analyse seitdem geändert haben? Welche Rolle spielte Russland damals?
Serhiy Kudelia: Wenn wir den Beginn der bewaffneten Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine analysieren, sehen wir, dass sowohl die Annexion der Krim als auch die bewaffnete Kampagne im Donbas, die im März 2014 begann, Elemente eines größeren Plans sind, die Ukraine zu übernehmen, der im Jahr 2022 auf einem andersartigen Niveau umgesetzt wurde. Während meiner Feldforschung in der Region überdachte ich viel von dem, was ich im Jahr 2014 geschrieben hatte. Das ist ein normaler Forschungsprozess, weil ich meine ursprünglichen Gedanken über den bewaffneten Konflikt im Donbas entfaltete und entwickelte, indem ich die Ereignisse von meinem Büro in Texas aus beobachtete.

Karte des Konflikts am 22. Februar 2022. Die von der Russischen Föderation, den Volksrepubliken Luhansk und Donezk kontrollierten Gebiete sind rot markiert, die von der ukrainischen Armee kontrollierten Gebiete gelb.
Das war weit entfernt von einer vollständigen Analyse und hatte viele Lücken. Um diese Lücken zu füllen, entwickelte ich einen Forschungsplan, der im Jahr 2015 mit einer umfassenden Beobachtungsreise in acht Städte in den Regionen Donezk und Luhansk begann. Ich sprach mit ganz normalen Leuten aus der Zivilbevölkerung, die diese Ereignisse beobachteten. Meine erste Aufgabe war zu verstehen, wie diese Leute die bewaffneten Männer sahen, die zum ersten Mal in ihren Städten auftauchten und sagten, sie wären ab jetzt die Behörden. Während dieser ersten Forschungsreise im Jahr 2015 stellte ich fest, dass unsere Wahrnehmung der Besetzung der Region aus dem Jahr 2015 völlig falsch war. Es war nicht nur meine Wahrnehmung, auch die der meisten ukrainischen Bürger, die diese Ereignisse von außen beobachteten. Dies hat seinen Grund darin, wie die offiziellen Behörden Informationen über die Besetzung der Region präsentierten. In dieser Zeit zeigten die Karten der antiterroristischen Operation (ATO) voll eingefärbte Gebiete, die angeblich von der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk kontrolliert wurden. Und dann sahen wir die Territorien, die von ukrainischen Truppen befreit worden waren. Schrittweise wurde das von den Separatisten kontrollierte Gebiet zwischen Mai und August 2014 kleiner, während das von ukrainischen Truppen befreite Territorium größer wurde. In der hier gezeigten Karte wurde der Fortschritt der Befreiung des Territoriums durch das ukrainische Militär visualisiert.
Als ich 2015 mit meinen Untersuchungen in verschiedenen Städten begann, stellte ich fest, dass ein signifikanter Teil der Städte von den Separatisten in keiner Weise kontrolliert wurde. Genauer: Niemand kontrollierte einige dieser Städte. Es gab dort keine ukrainische Regierung, ebenso wenig gab es dort eine direkte gewaltsame Kontrolle durch Milizen. Das war die erste Entdeckung meiner Forschung. Dies veranlasste mich noch mehr zu versuchen zu verstehen, was diese Unterschiede in Macht und administrativer Kontrolle in verschiedenen Teilen der Region exakt erklären konnte. Zunächst war es erforderlich herauszubekommen, wer in verschiedenen Städten der Region was kontrollierte. Dann hatte ich zu verstehen, wie dies erklärt werden konnte. Das war der erste Schritt.
Als ich 2018 und 2019 mit Feldforschungen in verschiedenen städtischen Ballungsräumen des Donbas begann, sah ich wie wichtig die Rolle russischer Agenten war: Girkin, Bezler und andere, die ihnen folgten oder getrennt von ihnen operierten. Ich habe ein eigenes Kapitel geschrieben, das die Rolle dieser russischen Agenten in dem bewaffneten Konflikt analysierte und zeigte, wie kritisch sie zu seinem Ausbruch beitrugen. Auf der anderen Seite wurden viele meiner Hypothesen in Bezug auf die internen Faktoren bestätigt. Insbesondere die emotionale Reaktion lokaler Einwohner auf die Art und Weise, wie Macht in Kyiv übergeben wurde und wie die staatlichen Sicherheitsorgane in diesen Territorien kollabierten schufen günstige Bedingungen.
In meinem Buch versuche ich den Mechanismus der Besetzung der Region klarer zu erklären und hebe die Rolle Russlands in der ersten Phase hervor, namentlich die Agenten, die Russland repräsentierten. Auf der anderen Seite erkläre ich, dass die vollständige Besetzung ohne die Kollaboration lokaler Eliten und Einwohner im Donbas nicht geschehen wäre. Während die Zahl der Leute, die die russischen Agenten im Donbas repräsentierten, zu dieser Zeit ausreichte, um Menschen zu organisieren, die bereit waren, an dem bewaffneten Konflikt teilzunehmen, gab es nicht genug, um die riesige Region des Donbas komplett zu besetzten.
Iaroslav Kovalchuk: Wie Sie in Ihrer Einleitung anmerken, behindern die Politisierung des Krieges im Donbas ebenso wie der begrenzte Zugang von Forschenden zu den Perspektiven beider Seiten im Konflikt oft, den Konflikt zu studieren. Mich beeindruckt an Ihrer Arbeit die Vielfalt der Quellen und die Fähigkeit, sich selbst von Werturteilen freizuhalten, um die dynamische Beziehung zwischen verschiedenen Beteiligten an der separatistischen Bewegung zu beschreiben. Dieses Bild ist weit entfernt von den Stereotypen eines Haufens von „Marionetten des Kreml“ ohne jede reale soziale Basis.
Serhiy Kudelia: Mir scheint, dass bei der Analyse der Ereignisse im Donbas von Anfang an eines der Haupthindernisse in der Wahrnehmung eines bestimmten Teils der Gemeinschaft der Forschenden darin lag, dass die Analyse der Gründe des Konflikts und seines Verlaufs in die Logik eines Informationskriegs gegen Russland passen musste. So wurde erwartet, dass Forschende a priori die Vermutungen der ukrainischen Behörden akzeptieren. Forschungsurteile, die diesen Vermutungen widersprachen oder versuchten, andere Seiten des Konflikts zu zeigen, die zu diskutieren sich die ukrainischen Behörden weigerten oder die sie ignorierten, wurden als ein Versuch wahrgenommen, der der Gegenseite in die Hände spielte, das heißt Russland. Dies führte dazu, dass Forschende, die versuchten, den Konflikt von unterschiedlichen Perspektiven zu analysieren, zu Zielen von Vorwürfen der Kollaboration mit Russland wurden, die sich an russischen Narrativen orientierten.
Unglücklicherweise begann diese Art, die Debatte zu führen, direkt zu Beginn von 2014. Sie schuf größere Hindernisse für die Forschung und verweigerte die Möglichkeit einer unabhängigen akademischen Forschung. Sie wurde auch von Verdrehungen von Meinungen, Urteilen und Schlussfolgerungen einer signifikanten Zahl von Forschenden begleitet, die auch versuchten, die internen Gründe des Konflikts hervorzuheben, und dafür in der Gemeinschaft der Forschenden stigmatisiert wurden.
Nun, nach zehn Jahren Forschung über jene Ereignisse und nachdem wir bereits festgestellt haben, wie sehr sich die Ereignisse von 2014 und die von 2022 unterscheiden, sieht es so aus, dass sich die Natur der Diskussion verändert hat. Vielleicht können wir offener für ein Verständnis der Art werden, dass es 2014 keinen Schwarz-Weiß-Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, sondern dass es mehrere verschiedene Nuancen gab, die ich in meinem Buch detailliert aufführe. So hoffe ich, dass mein Buch die Diskussion für unterschiedliche Perspektiven eröffnet.
Iaroslav Kovalchuk: Ende März 2014 begann sich die Welle der Versammlungen in Antwort auf Yanukovychs Absetzung zu legen. Sie schreiben in Ihrem Buch zur Erklärung der Gründe für die Wiederbelebung der separatistischen Bewegung Ende April, nach der Aufnahme der antiterroristischen Operation: „So wie die brutalen Schläge auf Studierende durch die Überfallkommandos der Polizei Massenmobilisierung und die Revolution der Würde in Kyiv bewirkten, entzündeten die Szenen verwunderter und getöteter Zivilisten in heftigen Auseinandersetzungen mit dem ukrainischen Militär die Mobilisierung hinter der separatistischen Sache im Donbas.“ Dies ist für Sie eine Gelegenheit, die Rolle von Emotionen in der Politik zu analysieren. Sie unterscheiden zwischen Furcht, die oft eine demobilisierende Wirkung hat, und Entrüstung, die Menschen veranlasst, Unrecht zu korrigieren. Können wir sagen, dass sich hier in Bezug auf die Perspektive unterdrückter sozialer Gruppen eine tragische Ähnlichkeit zwischen Maidan und Separatismus manifestierte. In beiden Fällen wurde schließlich das Engagement vieler Menschen im Widerstand von einem Gefühl des Unrechts gefördert, das von der Taubheit der Regierung gegenüber sozialen Forderungen und der disproportionalen, wahllosen Gewalt als Antwort auf den Protest verursacht wurde.
Serhiy Kudelia: Die Parallelen sind hier offensichtlich. Sie beziehen sich auf die Reaktion wehrloser Zivilisten, die auf der einen Hand die willkürliche Gewalt der Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden des Euromaidan sehen. Auf der anderen Seite sehen sie die Gewalt, die vom ukrainischen Staat ausgeübt wurde, in Form von Militär, Freiwilligen-Batallionen oder irregulären Organisationen gegen Menschen, die andere Ideen vertraten. Es sollte hier betont werden, dass im Frühjahr 2014 Menschen, die in verschiedenen Städten der Regionen von Donezk und Luhansk protestierten, sich bereits des Präzedenzfalls am Maidan bewusst waren. Der Präzedenzfall war, dass Proteste als ein legitimer Weg wahrgenommen werden sollten, die eigenen Urteile und Meinungen auszudrücken. Aber wenn sie auf Widerstand von Seiten der Autoritäten treffen, belegt dies die Illegitimität der Autoritäten selbst. Man war sich des Präzedenzfalls, den der Maidan gab, bewusst. Auf der einen Seite war der Maidan gerechtfertigt in der Art, wie er auf die willkürliche Gewalt der Berkut-Spezialeinheit der Polizei gegen friedliche Protestierende reagierte. Auf der anderen Seite beschleunigte das Wissen, wie der Maidan reagierte, namentlich durch die Mobilisierung und Schaffung von Selbstverteidigungseinheiten, die auch Gewalt anwendeten, signifikant den Prozess bewaffneter Selbstorganisation im Donbas.
Das Modell, das auf dem Maidan angewandt wurde, war nun von Protestierenden übernommen worden, die in Kramatorsk, Lysychansk und Siverskodonezk auftraten. Und der emotionale Inhalt ihrer Reaktion war sicherlich sehr ähnlich. Aber im Fall des Donbas wurde er schon dadurch verstärkt, was man auf dem Maidan geschehen sah, und durch die doppelten Standards, die die neuen Führer des ukrainischen Staates, das heißt, die Führer des Maidan, verwirklichten, einerseits bezogen auf die friedlichen Protestierenden in Kyiv, andererseits auf die Protestierenden im Donbas.
Iaroslav Kovalchuk: Wie verlor die ukrainische Post-Maidan-Regierung die Legitimität unter einem bestimmten Teil der Bevölkerung im Donbas? War es ein schrittweiser Prozess, der der Flucht von Yanukovych folgte und der Ereignisse, die darauffolgten? Oder gab es einen spezifischen Kipppunkt und einen Punkt ohne Wiederkehr, so wie die Ankündigung der antiterroristischen Operation (ATO)?
Serhiy Kudelia: Die neue ukrainische Regierung, die nach dem Sieg des Maidan an die Macht kam, konnte die Legitimität im Donbas nicht verlieren, weil sie sie nicht hatte. Das war das Hauptproblem. Alle Umfragen während März und April 2014 zeigten, dass eine signifikante Zahl der Bürger des Donbas, beträchtlich mehr als in anderen Regionen der Südost-Ukraine, die Legitimität dieser Regierung nicht anerkannten. Sie stellten die Legitimität in Frage, dass diese Leute an die Macht gekommen seien, und ihr Recht zu regieren. Legitimität bedeutet nicht nur die Legalität, die Rechtmäßigkeit der Regierung, sondern auch die allgemeine Anerkennung des Rechts der Regierung zu regieren durch die Bürger. Für diese Bürger war der Sieg auf dem Euromaidan ein illegaler Weg für die Anführer, an die Macht zu kommen, da er einerseits durch Gewalt und andererseits durch die Unterstützung des Westens, namentlich der USA und der Europäischen Union zustande gekommen war. Und die Kombination dieser beiden Faktoren – Gewalt und direkte Unterstützung des Maidan durch westliche Mächte – war der Grund, warum ein großer Teil der Bevölkerung im Donbas die Legitimität der neuen Regierung zurückwies.
Die Schlüsselfrage lautete, ob diese Legitimitätskrise in irgendeiner Art gelöst werden konnte. Dies wäre durch politische Maßnahmen möglich gewesen, die keinen Bezug zur militärischen Antwort auf die Ereignisse im Donbas hatten, sondern eher darauf zielten, einen signifikanten Teil der Bürger zu überzeugen, dass ihre Rechte respektiert und so aufrechterhalten würden wie das in den vorangegangenen Jahren geschehen war. Aus verschiedenen Gründen geschah dies nicht. Der institutionelle Mechanismus, der die Legitimitätskrise angesprochen hätte, namentlich die Präsidentschaftswahlen, die Ende Mai abgehalten werden sollten, wurde durch die bewaffnete Übernahme des größten Teils der Regionen von Donezk und Luhansk zerstört. Dieser Mechanismus stand nicht zur Verfügung.
Aber das Haupthindernis zur Überwindung der Legitimitätskrise war zweifellos der Start der ATO. Und die Art, in der die ATO gestartet wurde. Das Wesen des Problems war, dass die neue Regierung, die im Donbas noch nicht ihre Legitimität gewonnen hatte, bereits Truppen in den Donbas entsandte, um Proteste zu unterdrücken und bewaffnete Milizen zu stoppen, die viele im Donbas als ihre Verteidiger wahrnahmen. Diese Entscheidung hat zweifellos die Krise verschärft statt sie zu lösen.
Iaroslav Kovalchuk: Warum wurde die Stadt eine angemessene Umgebung für russische Milizen, um schnell die Kontrolle zu etablieren? So suggeriert es der Titel Ihres Buches „Seize the City, Undo the State“. Wie geschah dies? Wenn wir über erfolgreiche Aufstände nachdenken, denken wir oft an Aufständische in entfernten Dörfern, aber in diesem Fall haben wir es mit Milizen zu tun, die in Städten operieren.
Serhiy Kudelia: Ja, nicht nur in Städten, oft auch in den Bergen. Die Ukraine hat eine ziemlich gute Erfahrung mit Guerilla-Kriegsführung in den Bergen. Ich schreibe, dass viele Forschende zum Thema des Bürgerkriegs über Jahrzehnte bestimmte Vorteile betont haben, die ländliche Gegenden oder von der Hauptstadt entfernte Gegenden in gebirgigen Gegenden Aufständischen in einer asymmetrischen Kriegsführung bieten.
Die Idee, dass Aufständische Städte in einem bewaffneten Konflikt als eine Art Schild nutzen könnten, tauchte in den vergangenen 15 Jahren auf. Der Begriff „Urban Insurgency Campaigns“ tauchte auf. Er geht auf Fälle erfolgreicher Aufstände oder bewaffneter Konflikte zurück, bei denen Städte zum Zentrum der aufständischen Aktivitäten geworden sind. Die Hauptvorteile, die Aufständische dadurch gewinnen, wenn sie sich in Städten aufhalten, beziehen sich auf die Schwierigkeit, sie zu befreien, da eine solche Befreiung gleichzeitig eine signifikante Zahl ziviler Opfer mit sich bringt.
Das ukrainische Militärkommando stellte dies schnell fest, als sie den städtischen Großraum von Sloviansk und Kramatorsk umstellten. Lange Zeit konnten sie die Stadt selbst nicht betreten, weil das Eindringen in die Stadt eine vergleichsweise große Zahl ziviler Opfer mit sich brachte und weil dann jeder Zivilist als eine potenzielle Bedrohung wahrgenommen werden konnte. Und dies ist der zweite Punkt einer militärischen Kampagne in einer städtischen Umgebung – die einfache Art, in der Aufständische entweder den Anschein von Zivilisten übernehmen oder sich selbst in Zivilisten verwandeln können und so in der Zivilbevölkerung verschwinden und den Prozess der Identifikation und der Elimination individueller Nester des bewaffnen Widerstands komplizierter machen.

Barrikaden mit antiukrainischen und antiwestlichen Parolen rund um das Gebäude der Regionalverwaltung von Donezk am 15. April 2014. Foto: Andriy Butko.
Die Wahl von Sloviansk als Zentrum des bewaffneten Aufstands war aus strategischer Perspektive extrem klar und logisch. Die Gründung der selbst-proklamierten Volksrepubliken Donezk und Luhansk wurde durch die Übernahme der Gebäude des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU) in Luhansk und der regionalen staatlichen Verwaltung in Donezk erleichtert, gefolgt von der schnellen Proklamation der „Volksrepubliken“ durch diejenigen, die diese Gebäude übernommen hatten. Jedoch war es für die Separatisten ein Problem, dass ihre sogenannten Republiken anfangs nichts über diese beiden Gebäude hinaus kontrollierten. Ihnen fehlte territoriale Kontrolle über Verwaltungseinheiten in den Regionen von Donezk und Luhansk. Die ukrainischen Behörden erkannten diese Schwäche schnell. Erst mit der Ankunft von Igor Girkin (Strelkov) und seiner Einnahme von Sloviansk begannen die Separatisten eine breitere territoriale Kontrolle zu etablieren.
Es ist wichtig, dass diese Besetzung nicht mit Städten der Regionen Donezk und Luhansk in der Nähe der russischen Grenze begann, sondern eher mit einer der am weitesten von der russischen Grenze entfernten Städte. Einerseits war es für die prorussischen Kräfte einfach, die Kontrolle in der Nähe der russischen Grenze ohne die Anwesenheit von Girkin zu etablieren. Andererseits hätten die ukrainischen Behörden die Kontrolle über einen signifikanten Teil des Donbas schnell wieder hergestellt haben können. Als wir sahen, dass Sloviansk, sehr nahe zur Region um Charkiv, eingenommen wurde, wurde klar, dass der gesamte Teil der Region von Donezk jenseits von Sloviansk de facto unter separatistische Kontrolle fiel. Um nach Donezk zu kommen muss man erst durch den städtischen Großraum von Sloviansk und Kramatorsk hindurch. Mit diesem Schritt schnitten sie einen signifikanten Teil von Donezk und dann von Luhansk ab, weil sie gleichzeitig begannen, die städtische Region von Lysychansk und Siverskodonezk zu besetzen und damit einen signifikanten Teil des Donbas für den Zugang ukrainischer Behörden abschnitten. Das war ein sehr guter taktischer und strategischer Zug, weil er den Milizen erlaubte, ihre territoriale Kontrolle über den Rest des Donbas auszuweiten.
Iaroslav Kovalchuk: Als Girkin in Sloviansk eintraf, traf er auf prorussische Aktivisten und zuvor geschaffene Selbstverteidigungskräfte. Welcher Art war die Beziehung, die sich zwischen Girkin und diesen Aktivisten und Mitgliedern der Selbstverteidigung entwickelte. Fügen sie sich nahtlos in Girkins Einheit ein oder schiebt er sie in den Hintergrund?

Igor Girkin, der ehemalige Anführer der Separatisten in der selbst-proklamierten Volksrepublik Donezk, mit seinen Leibwächtern in der Nähe des Gebäudes der Stadtverwaltung in Donezk am 10. Juli 2014. Foto: Offene Quellen.
Serhiy Kudelia: Die Beziehung kann zunächst als eine Beziehung zwischen einem Patron und seinen Klienten beschrieben werden. Der Patron war zweifellos Girkin selbst. Die Klienten waren jene Individuen aus der lokalen Bevölkerung, die zuerst ihre Unterstützung für ihn äußerten, beginnend mit der Ernennung des selbst-proklamierten Bürgermeister von Sloviansk, Vyacheslav Ponomarev, und vieler anderer lokaler Zivilisten, die die russischen Agenten begrüßten, die den städtischen Großraum von Sloviansk und Kramatorsk einnahmen. Diese Beziehungen basierten darauf, dass sie den Nutzen erkannten, den diese lokalen Zivilisten dem russischen Militär verschafften.

Prorussische Unterstützer in Sloviansk begrüßen eine Gruppe russischer Milizen, die von Igor Girkin (Strelkov) geführt werden. Das Bild vom 12. April 2014 zeigt die Szene vor der bereits besetzten Polizeibehörde der Stadt. Foto: Gleb Garanich / Reuters.
Was war der Nutzen? Der lag darin, dass sie den Eindruck einer internen Unterstützung schufen und dass sie nicht einfach die Typen aus der Krim oder aus Russland waren, sondern dass es nun einmal eine Kombination von lokalen und fremden Rebellen war. Und indem Leute wie Ponomarev oder Gennady Kim in Kramatorsk einige administrative Macht gegeben wurde, entstand der Eindruck, dass die Macht in den Händen der lokalen Kräfte war. Diese Idee wurde sowohl lokal wie an die Welt außerhalb in der Ukraine und darüber hinaus kommuniziert. Ponomarev gab Pressekonferenzen und sprach mit internationalen Journalisten, indem er sich selbst als den selbst-proklamierten Bürgermeister von Sloviansk vorstellte.
Sie waren absolut kontrollierte Verwalter, denn in der Tat war die Macht in den Händen der sogenannten Stadtkommandanten. Und diese Stadtkommandanten, beispielsweise in Horlivka, Kramatorsk und Sloviansk, waren mit den russischen Spezialkräften verbunden. Die meisten unter ihnen waren nicht mehr aktive Offiziere der Spezialkräfte im Ruhestand, die zweifellos eine direkte Verbindung mit Moskau hatten. Und als sich die Ereignisse weiterentwickelten, wurden einige der lokalen Kräfte, die – wie ich in dem Buch zeige – schon zu Beginn der Separatistenbewegung politisch beteiligt waren, so als Vertreter der Kommunistischen Partei der Ukraine, schrittweise von Entscheidungspositionen entfernt.
Das Schlüsselereignis, dass zum Niedergang in der Bedeutung der lokalen Kader führte, war das Referendum am 11. Mai 2014. Der Prozess der Organisation des Referendums verlangte eine signifikante Höhe technischen und administrativen Wissens, über das nur lokale Eliten und Aktivisten verfügten. Ich belege, dass in den meisten Städten das Referendum entweder von den Stadträten oder von den Leitungen städtischer Ratsausschüsse organisiert wurde, die Zugang zu Wahlurnen, Wählerverzeichnissen hatten und wussten, wie man eine Wahl durchführt. Nach dem Referendum begann sich die Bedeutung dieser Individuen zu verringern und alle Macht verschob sich völlig auf das Militär.
Zur gleichen Zeit bleiben die Verwaltungskräfte in dem Sinne wichtig, als der eigentliche Prozess der Verwaltung dieser Städte, insbesondere der Zugang zu Finanzressourcen, für den öffentlichen Verkehr, für Gehälter und Pensionen, Unterstützung und Beziehungen mit Kyiv verlangte.
Iaroslav Kovalchuk: Nachdem ich Ihr Buch gelesen habe, schien es mir, als wenn die Donbas-Zweige der Kommunistischen Partei der Ukraine einhellig die separatistische Bewegung unterstützten, anders als die Partei der Regionen, in der es eine Spaltung gab. Warum entschieden sich die Donbas-Kommunisten als einzige politische Kraft dafür, die separatistische Bewegung zu unterstützen? Die Führung der Kommunistischen Partei der Ukraine hingegen schloss die Mitglieder aus, die den separatistischen Aufstand unterstützten. Lokale Kommunisten formierten die Kommunistische Partei der Volksrepublik Donezk, aber die Volksrepublik schloss sie von den Wahlen aus.
Serhiy Kudelia: Die Antwort liegt sowohl in dem ideologischen Plan als auch in bestimmten politischen Besonderheiten der Kommunistischen Partei und der Partei der Regionen. Die Kommunistische Partei, vor allem ihre lokalen Kader in verschiedenen Städten des Donbas, wurde zunächst von ideologisch motivierten Aktivisten formiert, die wenig materielles Interesse an Politik hatten. Die ideologischen Überzeugungen der Kommunistischen Partei waren mit der Vorstellung verbunden, dass die Sowjetunion in irgendeiner Form wieder auferstehen sollte. Und die Anbindung der Ukraine an Russland sollte nicht hinterfragt, sondern gestärkt werden. Als dann die prorussischen Proteste begannen, wurde dies von vielen ideologischen Aktivisten als der Anfang der Wiederherstellung der früheren Einheit der brüderlichen Nationen wahrgenommen.
Die Partei der Regionen hingegen war kein Monolith. Sie hatte keine klaren ideologischen Richtlinien wie sie die Kommunisten hatten. Und eine signifikante Zahl lokaler Räte, Anführer und Aktivisten dieser Partei beteiligten sich aus opportunistischen Berechnungen, die sich auf bestimmten materiellen und Karrierenutzen bezogen, die die Mitgliedschaft in der Partei mit sich brachte. Als dann der bewaffnete Aufstand begann, schuf dies Risiken für viele dieser Leute, die keinen Wunsch hatten, etwas zu opfern oder Risiken im Hinblick auf bestimmte politische Ideale einzugehen.
Obwohl es manche Fälle gab, vor allem unter Geschäftsleuten, die den Separatisten finanzielle Unterstützung verschafften – so sah man es zum Beispiel in Donezk –, waren diese Instanzen nicht so verbreitet als wie sie es in der Kommunistischen Partei der Ukraine waren. Sie hingen oft von spezifischen Individuen ab, deren Berechnungen und Wahrnehmungen ihrer Zukunft. Dies liegt daran, dass die Partei der Regionen als eine breite Schirmorganisation funktionierte, die eine große Zahl von Menschen mit völlig verschiedenen politischen Ansichten enthielt – oder in manchen Fällen ohne jede politische Ansicht überhaupt. Aus diesem Grund hatten die Ideen eines „Russischen Frühlings“ bei ihnen keinen ideologischen Widerhall.
Iaroslav Kovalchuk: Lokale Eliten, namentlich Bürgermeister und Stadträte, reagierten immer auf Aktionen prorussischer Aktivisten, waren aber nie proaktiv tätig. Sie koordinierten aber auch nicht einmal ihre eigenen Aktionen. Beispielsweise stellen Sie fest, dass die Bürgermeister von Lysychansk und Siverskodonezk, die in der Nähe lagen, miteinander in keiner Weise kommunizierten. Warum geschah dies? Warum misslang es den Verbindungen innerhalb der Partei der Regionen, zu denen fast die ganze lokale Elite gehörte, dabei zu helfen, im Frühjahr 2014 eine koordinierte Strategie zu entwickeln?
Serhiy Kudelia: Dies hat zumeist damit zu tun, wie diese bürokratische Elite seit 2004 über die vorangegangene Dekade hinweg funktionierte, als diese Macht vertikal in der Partei der Regionen formiert wurde. Wie mir zu verschiedenen Gelegenheiten erklärt wurde, gab es Treffen in Donezk oder Luhansk mit der regionalen Führung, die die Interessen der Führung in Kyiv repräsentierten. Diese regionale Führung der Partei der Regionen gab klare Instruktionen und erklärte, was die verschiedenen Bürgermeister zu tun hatten und wie sie zu handeln hatten. Sie erhielten diese Instruktionen vom Hauptquartier der Partei der Regionen in Kyiv. Zumeist gab es Beziehungen über persönliche Patronage, die zwischen individuellen Führungen der Partei der Regionen in den Städten und bestimmten wirtschaftlichen und politischen Patronen der Partei der Regionen etabliert waren. Beispielsweise war in Rubishne, Siverskodonezk und Lysychansk Yuriy Boyko aufgrund seiner dortigen wirtschaftlichen Kapitalanlagen besonders einflussreich. Ein anderer Teil der Luhansk-Region – zum Beispiel Starobilsk – war unter der Kontrolle von Oleksandr Yefremov. In der Donezk-Region war Rinat Akhmetov außerordentlich einflussreich.
Die Struktur der Patronage bestand aus zwei Teilen. Einerseits gab es das formale administrative System der Instruktionen, die von oben nach unten durch die Hierarchie der Partei der Regionen gingen. Auf der anderen Seite gab es ein System der Kontrolle durch informelle Beziehungen zwischen individuellen Figuren der Patronage und ihrer Klientel in individuellen Städten. Die Ereignisse auf dem Maidan und dann die Flucht von Yanukovych zerbrachen zuerst beide Kontrollsysteme. Die Partei der Regionen hörte von Ende Februar 2014 auf zu existieren und spaltete sich in drei oder vier verschiedene Untergruppen, die vor allem erst einmal daran interessiert waren, ihre eigene Sicherheit und ihre eigenen Vermögen zu behalten. Sie waren nicht daran interessiert, was in den Regionen von Donezk und Luhansk geschah, vor allem in kleinen Städten. Dennoch gab es auch weiterhin informelle Beziehungen. Beispielsweise hielt Akhmetov die Kontrolle über Mitglieder des Stadtrates in Mariupol. Und Yefremov hatte einigen Einfluss auf die Ereignisse in Starobilsk. Dennoch war es im Hinblick auf die Unvorhersagbarkeit der Ereignisse, die sich schnell in diesen Gebieten entfalteten, schwer, klare Instruktionen zu geben, ohne zu verstehen, wohin der Prozess führte.
Es ist leicht, die Unsicherheit und die Verwirrung, die diese Patronage-Figuren fühlten, am Beispiel von Rinat Akhmetov in Mariupol nachzuzeichnen. Es gab verschiedene Augenblicke, als auf der einen Seite Figuren, die mit Akhmetov assoziiert waren – die Direktoren der größten Unternehmen, Azovstal, Illch Steel und Iron Works – direkt mit separatistischen Milizen in Mariupol interagierten und verschiedene Erklärungen mit ihnen unterzeichneten. Dies geschah zu einer Zeit, als Akhmetov sich schwach fühlte und spürte, dass sich die Situation zugunsten Russlands entwickelte, insbesondere nach den Schlägen vom 9. Mai in Mariupol. Auf der anderen Seite wechselte Akhemetov radikal seine Position, als klar wurde, dass die Separatisten in Mariupol keine breite Unterstützung oder signifikantes militärisches Potenzial hatten. Er begann alles zu tun, was möglich war, um die separatistische Bewegung zu eliminieren, sowohl innerhalb von Mariupol durch die Direktoren seiner Unternehmen als auch von außen mit der Hilfe des Azov-Bataillons und anderen Freiwilligenbatallione.
Wir können sehen, dass die Fluktuationen dieser Patronage-Figuren und ihrer Unsicherheiten ihnen nicht erlaubten, ihre Vertreter in verschiedenen Städten mit derselben Zuversicht und ebenso klar zu kontrollieren. Dies brachte das Koordinationssystem aus der Balance und schuf unter den Führungspersonen dieser Städte selbst ein Gefühl von Chaos. Viele dieser Städte in den Regionen von Donezk und Luhansk wurden von Leuten geführt, die schon eine sehr lange Zeit im Amt waren. So wurden viele dieser Städte zu persönlichen Lehen dieser Führungspersonen. Beispielsweise ist die Stadt Bakhmut seit den frühen 1990er Jahren von Oleksiy Reva geleitet worden. Obwohl sie in dieser Patron-Klient-Beziehung innerhalb der Partei der Regionen eingebunden waren, bauten sie ihr eigenes Kontrollsystem über diese Städte auf, in denen sie die aktuellen Patrone waren. In dem Augenblick des Zusammenbruchs externer Kontrolle waren diese Leute vorwiegend darauf bedacht, ihren eigenen Wohlstand in diesen Städten und ihre eigne Kontrolle über die Klientel zu bewahren, die sie in diesen Städten entwickelt hatten. So gab es keine direkte Interaktion oder Koordination, weil jeder von ihnen seine eigenen Interessen hatte, die sie in diesem Augenblick verfolgten.
Iaroslav Kovalchuk: Sie identifizieren unterschiedliche Strategien der Bürgermeister der Städte, als die Separatisten ihre Autorität proklamierten und oft Gewalt anwandten, um sie zu behaupten: Kollaboration, Weigerung, eine klare Position zu beziehen, Sabotage, Flucht oder Widerstand. Sie zeigen auch, dass diese Strategien sich je nach den Umständen verändern konnten. Könnten Sie erklären, was die Wahl einer besonderen Strategie beeinflusste? Waren es Einstellungen? Oder gab es andere Überlegungen? Und warum änderte sich die Strategie je nach den Umständen?
Serhiy Kudelia: Während der Protesttage im Februar 2014 trug ein großer Teil der lokalen Eliten zur Formierung von Selbstverteidigungseinheiten bei, die später die Basis der Formierung der sogenannten Miliz im Donbas wurden. Dies taten sie als Antwort auf Instruktionen von oben, aber sie trugen nichtsdestoweniger zur Formierung dieser Selbstverteidigungseinheiten bei. Als sie realisierten, dass die neue Regierung in Kyiv sich trotz der Annexion der Krim stabilisiert hatte – und dass Destabilisierung nach dem Beispiel der Krim zusätzliche Bedrohungen für sie persönlich und für ihre Regierung schaffen konnte, und dass einige lokale Aktivisten verlangten, dass die lokale Führung ebenso ausgetauscht werden sollte – änderten sie ihr Verhalten.
Im März begannen sie die Rhetorik der Versöhnung mit Kyiv zu verwenden und zu betonen, dass weitere Eskalation vermieden werden sollte. Dies verfolgte ich über die Analyse von Artikeln in lokalen Zeitungen und durch offizielle Videos von Reden auf Treffen der Verwaltungskomitees, von Stadträten und Pressekonferenzen der Führung dieser Städte, die ich in offen zugänglichen Quellen fand. Es ist daher in meinem Buch gut dokumentiert. Für mich zeigte dieser Wechsel in der Rhetorik an, dass eine signifikante Zahl der lokalen Führung bereit war, die neue Regierung zu akzeptieren und im Rahmen der neuen politischen Realitäten zu handeln. Diese Wahl zeigte mir auch, dass ein großer Teil der lokalen Führung keine allzu starken prorussischen ideologischen Einstellungen hatte.
Als dann im April die bewaffnete Eskalation begann, waren ihre Aktionen zunächst nicht durch ihre politischen und ideologischen Einstellungen getrieben, aber durch ihr Gefühl, wie sehr diese bewaffneten Gruppen für sie persönlich eine Bedrohung darstellten. In Fällen, in denen Städte wie Kramatorsk oder Lyman besetzt wurden oder eine signifikante Präsenz bewaffneter Milizen hatten, waren lokale Eliten schnell bereit zu kollaborieren oder für irgendeine Form der Kooperation. In Kramatorsk gab es keine Kollaboration, aber es gab einen Willen, in Teilen zu kooperieren, was ich in Englisch „hedging“ nenne, eine Art Absicherung, was bedeutet, auf beide Seiten zu wetten. Es gab keine direkte Kollaboration in anderen Städten wie in Lyman oder Toretsk.
Warum gab es diese unterschiedliche Reaktion? Es ist für mich schwer, es exakt zu sagen, weil wir in manchen Fällen Kollaboration sahen und in anderen gerade „hedging“ oder irgendeine Form der Kooperation. Ich beantworte diese Frage in meinem Buch nicht, aber vielleicht liegt die Antwort darin, wie nah die Milizen selbst zur Führung dieser Städte waren. Im Fall von Druzhkivka hatte der Bürgermeister, Valeriy Hnatenko, unter den Milizen, die in der Stadt zu dieser Zeit operierten, seine Klientel. Das waren seine alten Freunde und Geschäftspartner. Und wenn Sie in Ihrer Führungsposition realisieren, dass Leute, die Waffen haben, in gewissem Maße Ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig waren, ist es viel einfacher für Sie, radikalere Schritte in der Kooperation mit den Separatisten vorzunehmen. In Kramatorsk stimmte der Bürgermeister Kostyukov, der keine Verbindung zu den Bewaffneten in der Stadt hatte, bestimmten Formen der Kooperation mit ihnen zu, beispielsweise bei der Organisation eines Referendums. Dennoch näherte sich Kostyukov keiner offenen Kollaboration, im Gegensatz zum Bürgermeister von Druzhkivka, der den neu formierten Separatistengruppen direkte ideologische und politische Unterstützung gewährte.
Iaroslav Kovalchuk: Wenn Sie über Misslingen der Separatisten bei der Etablierung ihrer Kontrolle sprechen, heben sie die Bedeutung des Gebrauchs oder der Drohung von Gewalt durch proukrainische Aktivisten hervor. Bedeutet dies, dass nur fester Widerstand die ukrainische Kontrolle über den gesamten Donbas hätte erhalten können? Hätte eine härtere Antwort aus Kyiv zu einer größeren Mobilisierung antiukrainischer Gefühle und vielleicht sogar schneller zu einer direkten Intervention durch Russland führen können? Oder geht es mehr um Widerstand auf regionalem und kommunalem Niveau als um den aus Kyiv?
Serhiy Kudelia: Widerstand gegen die Etablierung separatistischer Kontrolle über Städte war erfolgreich, wenn es eine Kombination von zwei Faktoren gab. Erstens, wenn es eine gewisse Nähe der bewaffneten Kräfte der Ukraine oder von Freiwilligenorganisationen gab. Sie waren in diesen Städten nicht direkt präsent und dies trug nicht zu einem Gegensatz zur lokalen Bevölkerung bei. Im Fall von Pokrovsk waren die Freiwilligenbatallione außerhalb der Stadt stationiert. Dennoch stärkte und überzeugte ihre implizite Präsenz jene proukrainischen Aktivisten in dem Gefühl, dass sie militärische Unterstützung hätten, falls sie bedroht würden.
Zweitens war die Fähigkeit wichtig, die proukrainischen Aktivisten zu koordinieren, entweder durch lokale Eliten oder durch Vertreter von Verwaltungseliten aus anderen Regionen. In Fall von Svatove, einem Fall erfolgreichen Widerstands gegen die Besetzung der Stadt, wurde die Schlüsselrolle vom Bürgermeister Yevhen Rybalko und einem Teil der lokalen Wirtschaftselite gespielt, vor allem von Großgrundbesitzern. Auf der anderen Seite sehen wir im Fall von Dobropillia, dass eine entscheidende Rolle in der Koordination lokaler ukrainischer Aktivisten und in der Schaffung einer proukrainischen Selbstverteidigungseinheit lag, die von Dnipro-Eliten, Valeriy Kolomoisky und Hennadii Korban gespielt wurde, die anhaltende Unterstützung boten.
In vielen Städten, die weiter entfernt von Sloviansk waren und zu denen weder Girkin noch Bezler Zugang hatten, war die Zahl der Separatisten und Milizen ziemlich klein, und proukrainische Aktivisten konnten sich schnell organisieren und gewaltsam gegen Separatisten vorgehen. Wenn ich über Gewalt spreche, spreche ich nicht darüber, sie zu töten, sondern über gewaltsamen Einfluss. Es gab Fälle, in denen diese prorussischen Aktivisten gefangengesetzt, verhört, eingeschüchtert und dann wieder freigelassen wurden. Und eine signifikante Zahl dieser Leute, die durch diesen Prozess gingen, verließen die Stadt einfach für andere Städte. Diese einfachen Schritte halfen, die Bedrohung der Verbreitung von Unterstützung in der Stadt selbst zu neutralisieren.
Der Hauptfehler war es, externen Druck zu schaffen. Zum Beispiel gab es Versuche, die Situation im Großraum Sloviansk-Kramatorsk zu verändern, indem Gewalt von außen angewandt wurde und Leute aus anderen Regionen der Ukraine zu mobilisieren, deren Zahl ausreichen sollte. In meiner Forschung wurde klar, dass genügend Leute in der Region bereit waren, die Ukraine zu unterstützen, aber sie fühlten sich seit April 2014 nicht mehr sicher. So musste ein signifikanter Teil von ihnen entweder diese Städte verlassen oder damit aufhören, aktiv zu sein. Wenn es Versuche gegeben hätte, diese Leute zu unterstützen und Widerstandszentren mit ihrer Beteiligung zu schaffen, hätte sich die Situation vielleicht in ein völlig anderes Szenario entwickelt.
Iaroslav Kovalchuk: Ihre Feldforschung führten Sie in den Jahren 2018 und 2019 durch, eine Zeit, als es wenig Hoffnung für eine friedliche Lösung des Konflikts im Donbas und sich von den Ereignissen im Frühjahr 2014 unterscheidende Perspektiven gab. Wie antworteten lokale Einwohner auf Ihre Fragen, als sie mit ihnen sprachen? Welche Emotionen oder welche Tendenzen drückten sie aus? Was entnehmen sie besonders lebendig aus diesen Unterhaltungen?
Serhiy Kudelia: Bei denjenigen, die proukrainische Aktivisten waren, das heißt die Einheit des Staates befürworteten, oder Mitglieder von Oppositionsparteien (beispielsweise war die Batkivshchyna-Partei in diesen Städten höchst sichtbar) und bei denen, die prorussische Proteste in diesen Städten unterstützten, gab es gleichermaßen ein Gefühl der Enttäuschung. Die Enttäuschung unter den proukrainischen Aktivisten war, dass sie das Gefühl hatten, dass die Poroshenko-Regierung – und meine Forschung fand zumeist statt, bevor Zelensky Präsident wurde – sie angepisst hatte und diese drei bis vier Jahre nicht genutzt hatte, um die lokalen Behörden zu bestrafen und zu reinigen. Sie glaubten, dass gerade zu dieser Zeit, 2018 / 2019, die meisten Leute unter den lokalen Behörden, die die Schaffung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk unterstützten, in ihren Ämtern blieben. Der häufigste Vorwurf, den ich gegen Poroshenko von proukrainischen Aktivisten zu dieser Zeit hörte, war, dass alle Kräfte zur Durchsetzung des Rechts, die SBU, das Büro des Generalstaatsanwalts, denen sie Informationen über diese Kollaborateure schickten, diese Information ignorierten. Wenn sie genutzt wurde, ging es darum, die lokalen Offiziellen zu erpressen und ihre persönliche Loyalität zu Petro Poroshenko zu sichern. Und ich fühlte ein Déjà-Vu, als ich von einer Stadt in eine andere reiste und mit proukrainischen Aktivisten sprach, weil die Inhalte der Vorwürfe gegen die Regierung Poroshenkos sehr ähnlich waren. Und die Leute redeten emotional. Es war auch eine Offenbarung für mich, weil man immer glaubte, dass Poroshenko, der mit Slogans von patriotischer Wiederbelebung und fundamentaler Etablierung einer ukrainischen Identität, von „Ukraininanness“, schon auf dem Weg zu einer zweiten Amtszeit war, als eine Person wahrgenommen wurde, die versuchte, überzeugend ukrainische Macht zu etablieren. Und hier sehen wir eine völlig gegenläufige Reaktion der Leute, die im Donbas leben und sagen, dass er zurzeit frühere Kollaborateure belohnt.
Iaroslav Kovalchuk: Die umfassende Invasion von 2022 war eine Gelegenheit neu über 2014 nachzudenken. Wie können wir aus der Perspektive von 2025 über 2014 sprechen? Welche Narrative und welche Art und Weise des Sprechens über 2014 erscheint Ihnen angemessen? Wie sollten wir heute über 2014 sprechen?
Serhiy Kudelia: Ich glaube, dass im Jahr 2025 sogar denjenigen, die 2014 als Erwachsene erlebt haben, viele Reaktionen, Wahrnehmungen, Vermutungen und Urteile finden, die sie 2014 geäußert haben, heute fremd und unverständlich erscheinen. Dies liegt daran, dass über die drei vergangenen Jahre die Ukraine durch eine emotionale und politische Transformation hindurch ging, die andere Länder normalerweise über viele Dekaden erleben. In diesem Sinne mag 2014 als etwas erscheinen, dass 100 Jahre zuvor geschah. Dennoch bringt dies gewisse Risiken und Gefahren mit sich. Wir könnten missinterpretieren, was 2014 geschah, weil wir auf diese Ereignisse mit dem Wissen von 2022 schauen. Im Ergebnis könnten wir die treibenden Kräfte hinter dem Prozess vergessen, der zur Formierung von zwei nicht anerkannten Republiken führte, der später der Gründungsakt für eine neue Welle russischer Aggression wurde. Deshalb enthält mein Buch ganz bewusst viele direkte Zitate von Beteiligten auf beiden Seiten, Auszüge aus Reden bei Veranstaltungen und Kampagnen von denen, die die prorussischen Proteste unterstützten ebenso wie Statements und Interviews von lokalen Führungskräften und politischen Eliten. Indem ich diese Perspektiven in meinem Buch rekonstruiere, ziele ich darauf ab sicherzustellen, dass wir nicht vergessen, wie multidimensional dieser Prozess war und wie verschieden politische Ereignisse in verschiedenen Teilen der Ukraine wahrgenommen wurden – sogar selbst im Donbas.
Über die vergangenen drei Jahre haben wir – und besonders viele westliche Forschende – den Eindruck gehabt, dass wir in der Ukraine einig darin wären, wie wir Russland und den Westen wahrnehmen und wie wir unsere Zukunft sehen. Und besonders westliche Forschende, die gerade damit beginnen, die Ukraine zu studieren und sie nur für die letzten fünf Jahre studiert haben, mögen fälschlicherweise dieses Gefühl der Einheit auf die Periode zwischen 2004 und 2014 projizieren. Ich persönlich beobachtete dies und nahm an den Ereignissen teil, die zu 2014 führten. Das Hauptziel dieses Buches ist es, daran zu erinnern und die Komplexität des Prozesses zu bewahren, der sich in der Ukraine abspielte, indem ich einseitige Interpretationen herausfordere.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung in deutscher Sprache im Mai 2025. Internetlinks zuletzt am 7. Mai 2025. Das Interview zwischen Serhiy Kudelia und Iaroslav Kovalchuk wurde zuerst in ukrainischer Sprache am 24. Februar 2025 im Commons Journal veröffentlicht. Englische Übersetzung aus dem Ukrainischen: Pavlo Shopin, deutsche Übersetzung aus dem Englischen: Norbert Reichel mit Unterstützung von Pavlo Shopin. Titelbild: Firouzeh Görgen-Ossouli, Rechte bei der Künstlerin.)