Religionsfreiheit und die Vereinten Nationen

Ein Gespräch mit dem Menschenrechtsexperten Heiner Bielefeldt

„Everyone has the right to freedom of thought, conscience and religion; this right includes freedom to change his religion or belief, and freedom, either alone or in community with others and in public or private, to manifest his religion or belief in teaching, practice, worship and observance.” (Artikel 18 der Universal Declaration on Human Rights)

Heiner Bielefeldt ist Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik am Institut für Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen / Nürnberg (FAU). Von 2003 bis 2009 war er Direktor des auf Beschluss des Deutschen Bundestages eingerichteten Deutschen Instituts für Menschenrechte. Von 2010 bis 2016 war er UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, ein Amt, das 1986 eingerichtet wurde (englische Bezeichnung: „Special Rapporteur on Freedom of Religion and Belief“). Er ist seit 2020 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er hat sich immer wieder ehrenamtlich engagiert, beispielsweise bei Amnesty International oder im kirchlichen Kontext.

Nürnberg – Stadt und Universität der Menschenrechte

Justizpalast Nürnberg, in dem die Nürnberger Prozesse stattfanden. Foto: Adam Jones Ph.D. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Das Universitätsinstitut, an dem Sie arbeiten, nennt explizit „Menschenrechte“ als Gegenstand der Forschung und Lehre. So viele Institute dieser Art gibt es meines Wissens nicht.

Heiner Bielefeldt: Der steht meist nicht direkt im Titel, der Sache nach gibt es schon eine Menge von Orten in Deutschland und anderswo, an denen akademisch zu den Menschenrechten gearbeitet wird. Das sind oft Lehrstühle für Völkerrecht, dazu gehören die Menschenrechte als ein substanzieller Bestandteil. Sicherlich kann man auch an andere Lehrstühle der Politikwissenschaften oder etwa der Pädagogik denken. Ich möchte keine falschen Monopolansprüche erheben, aber als Label ist es schon etwas Besonderes, dass ein Lehrstuhl so benannt wird.

Norbert Reichel: Darf ich die Frage anschließen, was das Besondere an Ihrem Lehrstuhl ist? Ich habe den Eindruck, dass es sich um einen interdisziplinären Zugang handelt.

Heiner Bielefeldt: Die Frage nach der Besonderheit habe ich mir nie gestellt. Aber Sie haben mir eine wunderbare Antwort bereits vorgegeben. In der Tat ist der Lehrstuhl interdisziplinär orientiert. Das zeigt sich auch in der Praxis. Mein Lehrstuhl gehört zur Politikwissenschaft, ich selbst komme primär aus der Philosophie und habe den Lehrstuhl genutzt, interdisziplinär zu arbeiten. Es gibt enge Bezüge zum Fachbereich Jura, etwa zum Völkerrecht, zum Völkerstrafrecht, zum Öffentlichen Recht. Es gibt auch Kontakte in die Medizinethik, in die Geschichtswissenschaft, die Philosophie und die Theologie, die Geographie. In der Geographie sind beispielsweise Themen des Klimawandels relevant für die Menschrechte.

Der Lehrstuhl hat historisch viel damit zu tun, dass sich die Stadt Nürnberg als Menschenrechtsstadt versteht, auch im Hinblick auf die furchtbare Zeit des Nationalsozialismus, die „Nürnberger Gesetze“, die „Reichsparteitagsstadt“, Nürnberg als Aufmarschgebiet der Nazis, dann die „Nürnberger Prozesse“. Nürnberg hat sich seiner schwierigen Geschichte gestellt, so auch die Universität.

Norbert Reichel: Wie viele Leute arbeiten an diesem Lehrstuhl?

Heiner Bielefeldt: Wir sind zu dritt zuzüglich des Sekretariats. Aber wir sind Teil eines Netzwerks, das sich Center on Human Rights Erlangen – Nürnberg nennt. Entstanden ist daraus jetzt ein Forschungszentrum zu den Menschenrechten. Der Lehrstuhl im engeren Sinne bildet mittlerweile nur ein kleines Element in dem, was an unserer Universität an Forschung und Lehre zum großen Thema der Menschenrechte stattfindet.    

Norbert Reichel: Es gibt bei Ihnen sicherlich eine Menge an Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten zum Thema der Menschenrechte. Welche Themen standen in den letzten zehn Jahren im Vordergrund?

Heiner Bielefeldt: Bei uns laufen sehr viele Arbeiten ein. Masterarbeiten gibt es etwa im Rahmen eines internationalen und interdisziplinären Masterstudiengangs „Human Rights“. Die meisten Masterarbeiten sind im Übrigen auf Englisch geschrieben worden. Zuletzt hatte ich zum Beispiel eine sehr interessante Arbeit zur Gehörlosigkeit, zur „Deaf Community“, zu Fragen, die sich im Kontext von Implantaten stellen, durch die sich die „Deaf Community“ unter Druck gesetzt sieht. Da gibt es sehr radikale Debatte in der Szene. Bei der Arbeit handelt es sich um eine der besten Masterarbeiten, die ich bisher erhalten hatte.

Ich nenne Ihnen ein paar Dissertationsthemen, die letzte Arbeit befasste sich mit den nachkantischen Grundlagen der Religionsfreiheit, das war allerdings die einzige Dissertation in meinem Umfeld, die sich explizit mit dem Thema der Religionsfreiheit befasste. Zurzeit liegt eine Arbeit zum Umgang mit Menschen, mit Kindern mit Beeinträchtigungen auf dem Tisch, die sich mit diskursethischen Optionen beschäftigt, von Habermas ausgehend. Ich hatte vor einigen Jahren die Arbeit eines Koreaners auf dem Tisch, der sich mit Konfuzianismus und autokratisch motivierten Formen der Instrumentalisierung des konfuzianischen Erbes beschäftigte. Eine weitere Arbeit befasste sich mit Demographieängsten in der neurechten Literatur, also mit rassistischer Hassrede, Verschwörungsszenarien, dem Thema des angeblichen „Bevölkerungsaustauschs“, dies immer auch verbunden mit sexistischen Mustern. Das ist eine beliebige Auswahl von Themen aus jüngerer Zeit.

Wie funktioniert Politikberatung – und für wen?

Norbert Reichel: In welchem Verhältnis stand Ihre universitäre Arbeit zur Arbeit am Institut für Menschenrechte in Berlin?  

Synagoge in Trenčin an der Vaa, Slowakische Republik. Foto: Harry Harun Behr.

Heiner Bielefeldt: Im akademischen Bereich können Sie sich die Themen aussuchen, am Institut für Menschenrechte war das nur zum Teil möglich. Das Institut steht unter dem legitimen Erwartungsdruck, zu allen menschenrechtsrelevanten Themen etwas sagen zu können, auch zu denen, die eher unerwartet hochkommen. Daraus ergibt ein ganz anderer Rhythmus in der Arbeit. Ich habe in Berlin die Anfrage erlebt, ob wir bei der nächsten Sitzung des Bundestagsausschusses für Menschenrechte etwas sagen könnten, etwa zum Thema Gesundheitsversorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel. Vorwarnzeit: zwei oder drei Tage. Da kann ich nicht sagen: bitte warten Sie, ich muss mich erst einarbeiten. Man muss sich zu solchen Themen jederzeit kurzfristig vorbereiten können. An der Universität kann ich mich hingegen spezialisieren, mir Zeit lassen. Aber genau diese Erfahrung war für mich eine tolle Schulung, um mich in Berlin immer wieder zu neuen Themen debattenfähig zu machen. Da kam mir auch meine philosophische Ausbildung schon sehr zupass.

Ich glaube, man muss einigermaßen nüchtern sein und wissen, dass Leute, die professionelle Politik machen, einen wahnsinnigen Druck erleben und es sehr schwer haben, längere komplexe Texte in Ruhe zu erarbeiten. Da geht es um Tempo und um zitierfähige kurze Stellungnahmen. Die Gründlichkeit in der Erarbeitung eines Themas wird nicht immer vergleichbar stark rezipiert, bleibt aber nach wie vor wichtig.

Ich habe es immer so verstanden, dass Politikberatung mehrere Adressaten gleichzeitig hat. Es gibt die Politikberatung im engeren Sinne, vertrauliche Gespräche mit einzelnen Leuten. Es gibt aber auch die Politikberatung im weiteren Sinne in Gestalt von Policy Papers für eine Fachöffentlichkeit. Die Fachöffentlichkeit ist nicht dieselbe wie die akademische Öffentlichkeit, sondern die Öffentlichkeit vor allem auch in der Zivilgesellschaft. Man braucht den großen Resonanzboden von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Dort wird auch wertgeschätzt, dass man bestimmte Themen etwas gründlicher aufbereitet.

Ich will nicht sagen, dass die Wertschätzung von Seiten der Politik nicht erfolgt, aber der Arbeitsmodus der Politik macht es oft schwierig, das tatsächlich im vollen Umfang zu leisten. Es ist immer enttäuschend, wenn man bei Bundestagshearings nur in Portionen, die nach Minuten definiert sind, sprechen kann. Eingangsstatement drei Minuten. Sechs Minuten in Antwort auf die CDU, sechs Minuten für die SPD, vier Minuten für die Grünen und so weiter. Das zieht die Sitzungsleitung dann so durch. Aber auch das ist eine Schulung, Dinge auf den Punkt zu bringen. Mich haben diese unterschiedlichen Modi immer fasziniert.

Norbert Reichel: Man sollte nicht unterschätzen, welche Rolle die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter spielen, in den Ministerien, in den Parlamenten.

Heiner Bielefeldt: Absolut. Es war uns im Deutschen Institut für Menschenrechte wichtig, immer auch den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zu kontaktieren und ein Stück weit an uns zu binden, öfter einzuladen, auf der Arbeitsebene dauerhafte Kontakte zu pflegen. Auch der Wissenschaftliche Dienst steht unter enormem Druck, hat aber andere Möglichkeiten. Wir versuchten immer, ihnen einen offenen Raum auch für vertrauliche Gespräche zu bieten. Das sind oft Leute, die jahrelang diese Arbeit machen, über Legislaturperioden hinweg. Auch wenn die politischen Mandatsträger wechseln, bleiben sie auf ihrem Arbeitsplatz und sorgen so für Kontinuität. Politikberatung darf man nicht nur so eng definieren, dass man den politischen Promis irgendetwas steckt, was oft auch gar nicht möglich ist.

Norbert Reichel: Möglicherweise wäre eine solche Strategie der Einflüsterung auch gar nicht so schlau, weil es dann oft zu Spontanreaktionen und Missverständnissen kommt, die ihre Eigendynamik erhalten und an der Sache vorbeigehen. Wie haben Sie die Reaktionen auf Ihre Arbeit als Politikberater erlebt?

Heiner Bielefeldt: Befriedigend. Es war oft befriedigender als das, was ich an der Universität erlebe. Die Fachöffentlichkeit war sehr interessiert, mit uns als Institut im Gespräch zu bleiben. Wir haben uns selbst eine systematische Rolle in den Monitoringverfahren zu den verschiedenen UN-Konventionen zugeschrieben. Dabei sind sehr viele Kontakte entstanden. Die Publikationen des Instituts wurden insgesamt stark wahrgenommen. An der Universität schreibt man hingegen einen Fachaufsatz, und bis der veröffentlicht ist, will man ihn vielleicht gar nicht mehr wahrhaben oder man ist schon tot. Man schreibt also einen Text, auf den ich die erste Reaktion erst in Gestalt einer Rezension in vier oder fünf Jahren bekomme.

Die Resonanz in der Politikberatung ist stärker, hat insofern auch eine andere Verbindlichkeit. Eine vergleichbare magnetische Rolle hat ein universitärer Lehrstuhl nicht. Dafür habe ich an der Universität eine andere Freiheit, mit Studierenden Akzente zu setzen.

UN-Sonderberichterstatter: Cases, Countries, Issues

Hasan Moschee, Kairo. Foto: Harry Harun Behr.

Norbert Reichel: Ihr Thema als UN-Sonderberichterstatter war die Religionsfreiheit nach Artikel 18. Aber wie wird man das und was macht man da konkret?

Heiner Bielefeldt: Wie man das wird, ist eine sehr schwierige Frage. Der deutsche Botschafter in Genf wollte mir dazu einige Details erzählen, aber ich wollte gar nicht wissen, wer für mich und wer gegen mich gestimmt hatte. Letzten Endes entscheiden bestimmte Gremien des Menschenrechtsrats. Es muss die Genderbalance stimmen, vor allem aber der Regionalproporz, entsprechend dem Aufbau der UNO. Da ist im Ergebnis immer auch viel Zufall im Spiel.

Die Arbeit eines UN-Sonderberichterstatters kann ich auf drei Ebenen darstellen: Zunächst geht es um die Cases, die Einzelfallarbeit, zweitens die Countries, die Länderberichte, vielleicht das interessanteste Verfahren, weil man dabei sehr in die Tiefe geht, mit einer langfristigen Vor- und Nachbereitung, Visiten in Hauptstadt und Provinzen, mit Gesprächen nicht nur mit Regierungsvertretern, auch mit Zivilgesellschaft, drittens Issues, thematische Berichte im engeren Sinne.

Ich musste zwei Mal im Jahr, im Frühjahr im Menschenrechtsrat in Genf und im Herbst vor der UN-Generalversammlung in New York, Berichte vorlegen, zum Beispiel zum Thema Kinder- und Elternrechte, ein sehr kompliziertes und konfliktbeladenes Thema, auch wegen der Frage, welche Rolle der Staat dabei spielen sollte und welche nicht, oder zur Religions- und Meinungsfreiheit, Artikel 18 und Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Kontext. Da wird manchmal ein Antagonismus unterstellt, beispielsweise bei satirischen Darstellungen. Ich habe diese beiden Bereiche eher als „two closely interrelated rights“, als Nachbarrechte gesehen. Ein anderes Thema wäre die Beziehung zwischen Religionsfreiheit und Genderfragen. Manche Regierungen, manche Gruppierungen, auch NGOs haben versucht, Religionsfreiheit zu einer Art Anti-Genderrecht aufzubauen. Gewalt im Namen von Religion, kollektiver Hass gegen Minderheiten, Fragen von Staatsreligion, solche Themen habe ich systematisch bearbeitet und dazu vorgetragen.     

Norbert Reichel: Beginnen wir mit den Einzelfällen.

Heiner Bielefeldt: Einzelfälle werden der UNO vorgetragen, eingebracht, und wenn diese einen Bezug zur Religionsfreiheit hatten, war ich als UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit zuständig. Es gibt eine Adresse im UN-Hochkommissariat, die das dann in die zuständigen Kanäle weiterleitet. Ich konnte dann mit den Regierungen über die ständigen Vertretungen in Genf in Kontakt treten und um Auskunft bitten. Der eigentliche Kontakt läuft in der Regel über die Ständigen Vertretungen der jeweiligen Länder in Genf.

Es geht um die Sachverhaltsklärung. Dies soll signalisieren, dass bestimmte Dinge wahrgenommen werden, etwa drohende Abschiebungen, Hinrichtungen, Inhaftierungen mit Foltergefahr. Dies ist Anlass für Urgent Actions, bei denen schnelle Reaktionen erwartet werden. Ich musste dann oft sehr schnell entscheiden, wie ich vorgehe, bedenkend, dass ich die Risiken für die Betroffenen und ihre Familien und Bekannten nicht noch weiter erhöhen durfte. Wir mussten beispielsweise entscheiden, ob wir anonym vorgehen oder einen Namen nennen. Dafür braucht man Kontakte zu Ehepartnern, Verwandten, in der Frage, ob es sinnvoll ist, so oder so vorzugehen. Es bleibt auf jeden Fall ein vertrauliches Verfahren.

Ich nenne ein Beispiel: Ein Aktivist aus Bahrein trat als schiitischer Geistlicher für interreligiöse Dialoge ein, im Widerspruch zur politischen Linie in dem Land. Er wurde inhaftiert, es gab die Gefahr der Folter. Die Familie hat mich in diesem Fall direkt angerufen, sie hatte sogar meine Handynummer, woher auch immer. Ich hatte den Bruder des Betroffenen am Telefon. Dann macht man eine Pressekonferenz, aber nicht ohne vorher die jeweilige Regierung zu benachrichtigen, und bittet um Auskunft, und zwar sofort. In anderen Fällen haben die Regierungen 60 Tage Zeit zu antworten.

Die Antwortrate liegt bei etwa 50 Prozent. Wenn man die Antworten qualifizieren möchte, ist die Rate noch einmal deutlich niedriger. Das geht oft in juristische Auseinandersetzungen über, die sich über Jahre hinziehen können. In dem genannten Fall konnte die Sachverhaltsaufklärung nicht abgeschlossen werden. Es ging um einen Plausabilitätscheck, einen Sicherheitscheck. Das ist in wenigen Tagen möglich.

Norbert Reichel: Auskunft ist eine Sache, aber erreichen Sie auch das Ziel?

Falun Gong Demonstration vor dem Britischen Museum, London. Foto: Philafrenzy. Wikimedia Commons.

Heiner Bielefeldt: Substanzieller Erfolg wäre schon etwas anderes als eine bloße Auskunft. Das wäre erreicht, wenn eine Hinrichtung oder eine Deportation nicht stattfindet. Aber Sie wissen natürlich nicht, was ein Jahr später geschieht, ob die jeweilige Person dann wieder verhaftet wird. Es ist kein sehr starkes Verfahren, es gibt keine echten Follow-Up-Ressourcen. Die relative Stärke besteht darin, dass es sehr schnell geht, das Fehlen des Follow-Ups ist die Schwäche des Verfahrens.

Mit Erfolgsraten bin ich daher sehr vorsichtig. Die Kausalkette ist meist auch nicht so eindeutig. Ich habe mich immer als ein Mosaiksteinchen in vielen Verfahren gesehen, es gab zum Beispiel oft öffentliche Kampagnen, Unterschriftenlisten, förmliche Gerichtsverfahren, periodische Monitoring-Verfahren, unangemeldete Checks. Wenn Sie wissen wollen, wie viele Verfahren erfolgreich waren, wäre meine Antwort eher skeptisch. Aber es ist trotzdem ein Mittel, um Regierungen ein Signal zu geben, mit dem Briefkopf des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte an die Ständigen Vertretungen der Staaten. Da war dann oft nicht nur meine Unterschrift zu sehen, ich habe oft mit der Kollegin für Minderheiten zusammengearbeitet oder mit dem Kollegen für Folter. Aber es ist und bleibt – das ist mir wichtig zu wiederholen – ein vertrauliches Verfahren, weshalb ich nur abstrakt darüber reden kann.

Die Länderberichte

Norbert Reichel: Die Länderberichte sind alle online verfügbar. Wenn ich mir die Bilder anschaue, die bei den einzelnen Ländern zu finden sind, könnte man meinen, es gäbe überall nur glückliche Menschen. Sieht ein bisschen aus wie ein Tourismuskatalog. Aber das nur am Rande.

Heiner Bielefeldt: Mein Mandat war die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Ich habe in der Regel zwei Berichte im Jahr gemacht. Ich konnte die Visiten, die Fact-Finding-Missions, die entsprechenden Reisen nur in den Semesterferien durchführen, denn die Tätigkeit als Sonderberichterstatter wird nicht bezahlt. Sie sind im Grunde dennoch rund ums Jahr gefordert. Jeden Tag gab es Verhandlungen über Einzelfälle.

Das erste Land, das ich besuchte, war Paraguay, das hätte ich mir nicht ausgesucht, aber den Vorgang hatte ich von meiner Vorgängerin geerbt. Dann Moldawien (mit Transnistrien), Zypern, wo ich insgesamt sechs Mal war, Bangladesch, Sierra Leone, Kasachstan, Libanon, Jordanien, mit Dänemark auch ein Land in der Nähe. Besonders schwierig war Vietnam, gefährlich weniger für uns als für unsere Gesprächspartner. Es ist ein Einparteiensystem, vielleicht nicht ganz so hart wie China unter Xi Jinping, aber ähnlich in der Struktur. Es ist für Oppositionelle sehr gefährlich, sich mit Externen zu treffen. Das ist eine sehr intensive, auch psychisch belastende Arbeit. Man träumt noch wochenlang davon.

Norbert Reichel: Das ist eine gewaltige Spanne, von Dänemark bis Vietnam.

Heiner Bielefeldt: Dänemark ist natürlich vergleichsweise einfach. Man kann sich dort mit allen problemlos treffen. Man muss sich keine komplizierten Dinge ausdenken. In diktatorisch regierten Staaten ist es völlig anders. Man muss darauf achten, niemanden in Schwierigkeiten zu bringen. Die Kontaktanbahnung läuft in der Regel über Exilgemeinden, die man oft auch in Genf trifft. Die bestimmen dann die Terms of Communication. Manche sagen, wir werden sowieso beobachtet, wir können uns dann auch in der Hotellobby treffen, wo man ein Stück Normalität simuliert. Was auch immer eine Regierung zusagt, vertrauliche Kontakte zu respektieren, ist nicht wirklich verlässlich. Sie müssen genau schauen, welche Risiken Sie bereit sind auf sich zu nehmen. Es gibt dann auch Treffen in Cafés, in belebten Kaufhäusern, wo viele Leute unterwegs sind, manchmal geht es über Nebenstraßen, mit mehrfachem Wagenwechsel, über Feuerleitern in den fünften Stock irgendeines Hauses. Auch das hat es gegeben. Man kommt manchmal nicht aus dem Staunen heraus, was man da erlebt.

Parteimonopol und Kontrollwahn in Vietnam

Thien Hau Tempel, Ho-Chi-Minh-Stadt (Saigon). Foto: William Cho. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Was geschieht in Vietnam?

Heiner Bielefeldt: Wir haben es in Vietnam mit einem Einparteienregime zu tun, das von einem unersättlichen Wahn getrieben ist, alles kontrollieren zu müssen. Das Problem der Religionsfreiheit in Vietnam besteht weniger darin, dass Vietnam – zumindest nominell – von einer kommunistischen Ideologie beherrscht ist, in der Religion langfristig keine Perspektive hat. Das ist vielleicht sogar überhaupt kein Problem. Wir haben es aber mit einem Parteimonopol zu tun, das die permanente Inszenierung von Perfektion zwingend macht. Eine Einheitspartei ist eigentlich etwas Absurdes. Sie muss sich immer als gleichsam unfehlbar inszenieren, vor allem dort, wo sich Kritik oder Eigenständigkeit regen könnte.

Religion ist ein Ort unabhängiger sozialer Praxis, wo Menschen Erfahrungen machen, wie sie sich selbst organisieren können. Das sieht die Partei als Gefahr. Sie fühlt sich berufen, alle anderen zu führen, und alle eigenständigen, unabhängigen Stimmen müssen am besten im Keim erstickt werden. Wenn es keine organisierte, keine sichtbare Opposition gibt, keinen Ort für Opposition gibt, entsteht dieser konspirative Mind-Set der Gefährdung des Parteimonopols, weil man überall unsichtbare Kritik wittert. Auch in den Religionsgemeinschaften. Manche Religionsgemeinschaften verstehen sich tatsächlich als oppositionell, beispielsweise in manchen katholischen Klöstern. Aber für die Partei ist es schon ein Problem, wenn die sich treffen, wer weiß, was die miteinander reden, was die miteinander verabreden?

Der Kontrollwahn trifft die Religionsgemeinschaften nicht primär in den ideologischen Hintergründen, sondern in der sozialen Praxis. Der Kontrollzugriff soll dazu führen, Religionsgemeinschaft in die Vaterlandsfront hineinzuzwingen, so erleben sie auch Infiltration, müssen ständig über geplante und durchgeführte Aktivitäten Auskunft geben. Die Alternative ist der Untergrund, ganz parallel zu dem, was in China stattfindet. Wir haben ein von Kontrollobsessionen getriebenes Regime, das innerhalb der Religionsgemeinschaften eine Spaltung bewirkt. Es gibt zum Beispiel die Protestanten die mitmachen, die Protestanten in Untergrundkirchen. Die Buddhisten sind die größte Gruppe, die mitmachen, aber auch hier organisieren sich Gruppierungen im Untergrund.

Die Religionsgemeinschaften sind im Grunde alle gespalten, oft auch nolens volens, in solche, die in der Vaterlandsfront mitmachen, und in solche, die sich diesem Kontrollgriff entziehen, in den Untergrund gehen, sich in Hauskirchen treffen, in kleinsten Gemeinden, aber selbst das ist schon bedrohlich. Das ist das typische Muster. Es ist nicht so wie man sich das im Mittleren und Nahen Osten vorstellt, Muslime gegen Christen gegen Juden, oder wie im Iran die Unterdrückung der Minderheit der Baha’i. Es geht gegen Religionsgemeinschaften an sich.

Norbert Reichel: Was geschieht, wenn Sie das, was Sie mir jetzt erzählt haben und auch in Ihrem Bericht zu hören und zu lesen ist, dann in der UNO?

Heiner Bielefeldt: Im Plenum ist das sehr ritualisiert. Wenn die Berichte rechtzeitig eingereicht werden, liegen sie in den sechs UNO-Sprachen vor: Arabisch, Englisch, Französisch, Mandarin, Russisch, Spanisch. Geschrieben habe ich immer auf Englisch. Als Sonderberichterstatter trägt man eine kurze Zusammenfassung vor, bei den thematischen Berichten etwas ausführlicher. Dann entsteht ein „interactive dialogue“, in dem sich dann verschiedene Staaten äußern. Das kann sehr konkret sein, zum Beispiel auf Seite 8, dritter Absatz deines Berichts hast du etwas gesagt, das ich nicht verstehe. Andere haben sich das gar nicht genau angeschaut und erzählen allgemeine Dinge, beispielsweise Toleranz wäre wichtig, wir müssten die Islamophobie bekämpfen. Auch das Richtige klingt komisch, je nachdem, wer das sagt. Zum Beispiel, wenn Russland sagt, man müsse die Korruption bekämpfen. Die Aussage mag vordergründig richtig sein, aber nicht jeder versteht unter Korruption das Gleiche. Man kann in der Diskussion Stellung nehmen, auch zum Abschluss. Das Ganze dauert ein paar Stunden. Wie gesagt, es ist ein Ritual.

Norbert Reichel: Und der untersuchte Staat?

Heiner Bielefeldt: Der untersuchte Staat hat als erster das Recht zu antworten. Er nutzt die Gelegenheit in der Regel zur Selbstdarstellung. Im Falle Vietnams war der Botschafter nicht am Ort. Er hatte offenbar das Gefühl, dass da nicht viel zu holen war und ließ sich von einem Junior Expert vertreten. Vietnam hat auch nicht viel Unterstützung bekommen. Der Vietnam-Bericht war der kritischste, den ich in meiner Zeit abgeliefert habe. Der war recht scharf abgefasst.

Commitment und Synergien

Baha’i-Gebetshaus in Delhi, Indien. Foto: Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Welche Wirkung haben die Berichte?

Heiner Bielefeldt: Die Rituale bei der UNO sind langatmig, aber sie schaffen auch Verbindlichkeiten, die Gelegenheit zu Commitment. Es wird alles protokolliert und zitierbar. Manchmal beziehen sich auch NGOs auf die Berichte. Ich habe das intensiv in Zypern erlebt. Das ist zwar nur ein kleines Land, aber der Zypern-Konflikt hat seinen eigenen Charakter von Dschungelhaftigkeit. Da blickt kaum noch jemand durch, wie das so bei jahrzehntelang währenden Konflikten oft so ist. Lokale Gruppen haben durch meinen Besuch und meine Berichterstattung versucht, Benefits für sich selbst zu schaffen. Ich habe selbst von deren Expertise sehr profitiert. Das war einmal eine beschreibbare Version von Synergieeffekten. Sonst kann man an Synergieeffekte gerne glauben, weil man nicht weiß, was man im Detail vorfinden wird und wie es nach den Besuchen weitergeht.

Norbert Reichel: Worum ging es bei dem Bericht über Paraguay? Ich vermute, dass die indigene Bevölkerung eine Rolle spielte.

Heiner Bielefeldt: Das war das brisanteste Thema. Mennoniten, die über die Jahrhunderte hinweg ihre deutsche Sprache erhalten hatten, hatten sich vor drei Generationen im Chaco-Gebiet angesiedelt und dort ein blühendes Agro-Business aufgebaut. Die indigenen Gruppen, die dort seit Menschengedenken leben, gerieten damit in ökonomische Abhängigkeit und wurden zugleich religiös-kulturell marginalisiert. Der Konflikt hat seine tragischen Züge, weil die Mennoniten, die selbst eine jahrhundertelange Verfolgungsgeschichte erlitten hatten, hier faktisch die Unterdrücker sind, was vielen aber gar nicht klar zu sein scheint.

Norbert Reichel: Interessieren würde mich Moldawien. Deutschland hat jetzt Moldawien und Georgien zu sicheren Herkunftsländern erklärt. In Moldawien wird im Herbst 2024 gewählt. Die EU-freundliche Staatspräsidentin Maia Sandu möchte wiedergewählt werden, aber es gibt eine starke russophile Opposition, die mit Desinformation aus Russland unterstützt wird. Der Landesteil Transnistrien hat sich abgespalten, obwohl niemand diese Abspaltung anerkennt, aber zum Schutz halten sich dort russische Truppen auf, westlich von der Ukraine, die somit nicht nur im Osten und im Norden, sondern auch im Westen von russischen Truppen bedroht ist. Ich kann mir vorstellen, dass die orthodoxe Kirche in dem Land eine wichtige Rolle spielt.

Heiner Bielefeldt: Moldawien ist ein ökonomisch schwach aufgestellter Staat auf einem langen, langen Weg in die EU. Das ist ein Prozess der Demokratisierung, der aber blockiert wird von Oligarchen, geprägt von autoritären Traditionen und natürlich von der Abspaltung Transnistriens. Dort war ich übrigens zwei Mal. Moldawien hat in Sachen Religionsfreiheit einige Probleme. Es gibt zwei konkurrierende orthodoxe Kirchen, die auf Moskau hin orientierte moldawisch-orthodoxe und eine auf Rumänien hin orientierte bessarabisch-orthodoxe Kirche. Diese nutzen ihre Machtposition auch gegen bestimmte Minderheiten. Ich habe mehrfach davon gehört, dass beispielsweise protestantische Beerdigungszüge gestört worden seien. Es sollte jemand in einem kommunalen Friedhof beerdigt werden, von dem die orthodoxe Kirche jedoch behauptete, dieser Friedhof gehöre ihr. Es ist vereinzelt sogar dazu gekommen, dass ein Beerdigungszug abdrehen musste, die Toten mussten zu einer anderen Gelegenheit begraben werden. Man muss sich mal vorstellen, was das für eine trauernde Familie bedeutet, wenn sich da vor ihnen eine Gruppe breitbeinig aufstellt, mit dem lokalen Popen an der Spitze. Ich hatte ein Gespräch mit dem örtlichen Metropoliten in Chișinău, dessen Sekretär sagte, man wolle nicht, dass auf ihren Friedhöfen „Ketzer“ beerdigt werden. Da wundert man sich schon.

Das alles ging nicht von der Regierung aus. Aber der Staat ist dennoch dafür verantwortlich, dass Minderheiten in ihrer Religionsausübung und den gesellschaftlichen Macht-Asymmetrien zu ihrem Recht kommen. Der Staat hat die Verantwortung, dass Menschenrechtsverletzungen auch innerhalb der Gesellschaft unterbunden werden, er muss also wirksamen Schutz gegen Verletzungen durch Dritte gewährleisten. Grenzüberschreitungen des moldawischen Staates habe ich nicht erlebt, aber innerhalb der Gesellschaft ging es teilweise durchaus ruppig zu. Gegen Sekten, wie das dann so heißt. Das Machtgebaren der moskauorientierten moldawisch-orthodoxen Kirche war schon einer der deutlichsten Befunde.

Das hat sich mit dem Einmarsch Russlands in die Krim verändert. Der moskauorientierte Metropolit stammte aus der Ukraine, und auf einmal merkte er, dass er selbst der Gegenstand von Mobbing in der Orthodoxie war. Das dürfte dann auch zu weiteren Spaltungen führen, aber ich habe das nach meinem Bericht nicht mehr im Detail verfolgt.  

Vor etwa 25 Jahren hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Moldawien befasst, weil das unabhängig gewordene Land sich schwertat, zwei Kirchen nebeneinander zu organisieren. Der Staat hatte versucht, seine Ressourcen auf die dominante Kirche zu konzentrieren. Der Gerichtshof hat das Land ermahnt, dass dies so nicht sein könne. Der Staat müsse Pluralismus akzeptieren.

Norbert Reichel: China begründet sein Vorgehen gegen Oppositionelle mitunter damit, dass es gegen Sekten vorgehe. Beispielsweise gegen Falun Gong.

Heiner Bielefeldt: Bei den von mir zu Beginn genannten Einzelfällen, den Cases, spielten Falun-Gong-Fälle eine große Rolle. So ziemlich jeder Falun-Gong-Fall, mit dem ich zu tun hatte, war auch ein Folter-Fall. Ich habe daher vielfach mit dem Sonderberichterstatter Folter zusammengearbeitet.

„Gewalt im Namen der Religion“

„Largest Common Divider“ – ein Kunstprojekt von Lia Sáile. Es handelt sich um ein Segment der Mauer in Belfast, die im Museumsquartier Wien neben dem Kunsthistorischen Museum aufgestellt wurde. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Sie haben einen Ihrer Themenberichte zum Kontext von Gewalt und Religion verfasst.

Heiner Bielefeldt: Ich habe ganz bewusst den Titel so gewählt: „Preventing violence committed in the name of religion“. Ich habe nicht gesagt: „Religious Violence“, nicht, dass Gewalt eine religiös begründete Gewalt wäre. Nehmen wir beispielsweise den Nordirlandkonflikt. Da geht es nicht um die Rechtfertigungslehre oder andere religiöse Glaubensinhalte. Der Konflikt hat fast tribalistische Strukturen. Aber zu sagen, Religion werde nur missbraucht, „Misuse of religion for violence“, wäre mir auch zu einseitig; das hieße ja, den Religionsgemeinschaften jede Verantwortung abzusprechen. Meine Doppelbotschaft lautete: Die Religionsgemeinschaften sind in der Pflicht, sich mit der Gewalt zu beschäftigen, die in ihrem Namen ausgeübt wird. Selbst wenn man sagt, Religion werde „missbraucht“, muss man eingestehen, Religion lässt sich auch missbrauchen. Ein Missbrauch von außen kann nicht funktionieren, wenn es innerhalb der Religion keinen Resonanzboden dafür gibt. Man kann die Verantwortung als Religionsgemeinschaft nicht schlichtweg externalisieren.

Ein islamistischer Terroranschlag hat durchaus etwas mit dem Islam zu tun. Oder nennen wir – damit nicht immer nur der Islam genannt wird – die Lord’s Resistance Army in Uganda. Aber wer kennt die schon? Gewalt geschieht auch im Namen christlicher Organisationen. Oder die Gewalt gegen die muslimischen Rohingya in Myanmar, unterstützt von buddhistischen Gruppen. Gewalt durch Buddhisten? Das können sich viele gar nicht vorstellen. Man ist dann höchst überrascht. Auch bei Gewalt im Christentum, es sei denn, dass es um die Kreuzzüge geht; die sind ja lange her. Bei Gewalt im Namen des Christentums heißt es, das Christentum werde missbraucht, Im Falle von Gewalt im Namen des Islam sieht man das typischerweise anders; hier wird die Gewalt der Religion direkt zugeschrieben. Das zeigt, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen beziehungsweise Projektionen ausfallen.

Gewalt im Namen der Religion hat immer auch viel mit Strukturen außerhalb der Religion zu tun. Selbst der Dreißigjährige Krieg zeigt dies. Das protestantische Schweden verbündete sich zeitweise mit dem katholischen Frankreich gegen das katholische Österreich. Das sind politische Faktoren.

Ich habe versucht, diese politischen Strukturen zu sortieren und daraus praktische Empfehlungen an die Religionsgemeinschaften abzuleiten. Ein zentraler Faktor für Gewalt im Namen von Religion ist Korruption. Korruption ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Korruption zerstört Vertrauen in Institutionen. In extremen Fällen werden öffentliche Institutionen refeudalisiert, operieren nicht mehr im Namen der Öffentlichkeit. Ohne öffentliche Institutionen gibt es keinen öffentlichen Raum mehr. Eine Gesellschaft zerlegt sich.

Tribalismus kann es – siehe Nordirlandkonflikt – auch in Europa geben. Wir erleben ohnehin Retribalisierungstendenzen. Gesellschaften zerfallen in Quasi-Stämme. Religion wird dabei oft genutzt, um Identitäten zu markieren. Mit originären religiösen Werten hat das wenig zu tun. So etwas passiert nicht, weil Luther dies oder das geschrieben hat oder weil der Papst dies oder jenes gesagt hat. Das geht eher darum, dass der da meinen Onkel umgebracht hat. Gewalt nährt Gewalt. Religion wird in die Markierung und Dramatisierung kollektiver Identitäten hineingesogen. Ich habe versucht das ein Stück weit zu beschreiben, aber mit dem Ziel zu sagen, wo muss man investieren, welche Rolle spielt dabei die Religionsfreiheit?

Religion kann dann tatsächlich auf mehreren Ebenen helfen, als Bestandteil von Rechtsstaatlichkeit. Religionsfreiheit ist wie andere Menschenrechte ein substanzieller Bestandteil von Rechtsstaatlichkeit. Das hat viel mit Accountability-Strukturen zu tun, Religionsfreiheit als gemeinsamer Nenner für interreligiöse Koexistenz- und Kooperationsstrukturen, die vielleicht auch die Resilienz bei Religionsgemeinschaften bewirken können, sich Gewalt, Tribalismus, Korruption zu widersetzen.

Mir war es immer wichtig, in meinen Berichten Positivbeispiele zu nennen, wo Religionsgemeinschaften miteinander kooperieren. Man kann belegen, dass sie dann ein Stück besser geschützt sind, in negative Entwicklungen hineinzurutschen. Ein Paradebeispiel ist Sierra Leone, eine mich sehr beeindruckende Erfahrung. Das Land hat eine hochentwickelte Kultur religiöser Kooperation und Konvivienz. Der Toleranzbegriff ist mir zu schwach, deshalb habe ich von „Religious Openheartedness“ gesprochen. Die Religionsgemeinschaften feiern gemeinsam Feste, Familien sind religiös plural. In diesem fürchterlichen Bürgerkrieg um Blutdiamanten, mit Kindersoldaten, unter Einbeziehung von Liberia, haben es die Religionsgemeinschaften geschafft, ein Stück weit Resilienz zu wahren. Sie konnten so gemeinsam Akteure der Versöhnung werden. Auch in der Truth and Reconciliation Commission war der Interreligious Council in Freetown vielleicht der entscheidende Faktor. Ein sehr beeindruckendes Beispiel, wie Religionsgemeinschaften sich in Friedensprozessen einbringen können.

Heiner Bielefeldt, 29. Januar 2016. Foto: Harald Sippel

Norbert Reichel: Ein Fazit?

Heiner Bielefeldt: Es geht gegen die Essenzialisierung von Religionen, gegen Auffassungen, es läge in der „Natur“ von Religion, gewalttätig zu sein. Gewalt hat immer mit politischen Faktoren zu tun. Wir dürfen Religion nicht mythologisieren. Beim Nahostkonflikt heißt es dann, wenn niemand mehr etwas begreift, aha: Religion! Das ist eine Absage an Politik, das ist Fatalismus. Wir müssen gleichermaßen gegen die Essenzialisierung und gegen die Exkulpierung von Religionsgemeinschaften vorgehen. Religionsfreiheit ist auch ein Weg, die Essenzialisierung von Religion aufzuheben, indem wir auf die Menschen schauen, die Menschen in ihrer Responsible Agency.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 6. Februar 2024. Das Titelbild zeigt die Nähe von Kirche und Macht im Florenz der Renaissance, den Palazzo Vecchio und Giottos Campanile vor dem Dom, Foto: Hans Peter Schaefer.)