Die Würde des Menschen ist unantastbar
und was dies in unseren Integrationsdebatten bedeutet
Es wird nicht mehr lange dauern und mehr als die Hälfte aller jungen Menschen in deutschen Schulen sprechen neben Deutsch in ihren Familien und mit ihren Freund*innen eine weitere Sprache, manche sogar mehrere. Sie sind entweder selbst aus einem anderen Land zu- oder eingewandert oder sie haben von der Seite ihrer Eltern oder Großeltern, die selbst aus einem anderen Land ein- bzw. zugewandert sind, eine internationale Familiengeschichte.
Während die einen dies als große Chance für mehr Vielfalt, Toleranz und wachsenden Wohlstand sehen, fürchten andere Überfremdung. Die Emotionen, die weltweite Migrationsprozesse in öffentlichen und nicht zuletzt politischen Debatten erzeugen, erschweren viel zu oft eine sachorientierte Auseinandersetzung mit einer Entwicklung, von der die deutsche Gesellschaft eigentlich nur profitieren sollte.
Norbert Reichel: Vor etwa sieben Jahren haben wir die damaligen RAA’en zu Kommunalen Integrationszentren weiterentwickelt. Die RAA’en waren ein Erfolgsmodell und für viele andere Länder Vorbild. Wir wurden beneidet. Mit den Kommunalen Integrationszentren wurde das Themenspektrum erweitert. Wurden die Kommunalen Integrationszentren ein Erfolgsmodell wie die RAA‘ es waren?
Christiane Bainski: Die Kommunalen Integrationszentren (KI) haben das Potenzial, ein noch größeres Erfolgsmodell zu werden. Eine RAA gab es seit 1980 bis 2012/13 vornehmlich in kreisfreien Städten und nur wenigen Landkreisen (zuletzt 30). Zum Zeitpunkt meines Ausscheidens aus dem Dienst gab es die seit 2013 errichteten KI (30 umgewandelte RAA und nach und nach 24 weitere Errichtungen) flächendeckend. Jeder Landkreis, jede kreisfreie Stadt in NRW hat seit Frühjahr 2018 ein KI. Während die RAA’en auf den Bereich Bildung konzentriert waren, kommen bei den KI weitere Handlungsfelder mit Querschnittscharakter dazu: z.B. Gesundheit, Senioren, Pflege im Alter, Sport, verschiedene Felder der gesellschaftlichen Partizipation u.v.m.
Hier liegen viele Chancen, und es lassen sich auch Erfolge belegen – je nach kommunalen Bedingungen. Vor allem die vielen engagierten Mitarbeiter*innen in den KI bieten eine Gewähr dafür, dass innovative Strategien der Migrationspolitik entwickelt, umgesetzt und transferiert werden können. Die KI können eine gestaltende Rolle im Rahmen eines innovativen kommunalen Integrationsmanagements einnehmen.
Schade, dass zurzeit der Bereich Bildung nicht mehr die gleichen guten Bedingungen hat und die gleiche Wertschätzung erfährt, wie wir sie zumindest seit 2005 in NRW sowohl noch als RAA als auch als KI erfahren haben. Die Vielfalt der Kinder und die Bildungsbedarfe aller Kinder und Jugendlichen mit internationaler Familiengeschichte scheinen nicht mehr so stark beachtet genommen zu werden. In die erarbeitete Professionalität wird nicht mehr in gleicher Weise investiert. Dies macht es den Mitarbeiter*innen der LaKI und in den KI sicherlich schwer, fachliche Standards und professionelle Vernetzung zu halten. Auch weitere Innovation ist unter diesen Bedingungen schwierig. Gleichzeitig bleibt aber ein Grundstock von gut ausgebildeten Berater*innen vorhanden.
Norbert Reichel: Wenn in den Medien, im Beruf oder auch im Alltag das Thema Migration angesprochen wird, begegnen wir oft großer Sprachlosigkeit. Begriffe wie „Migrationshintergrund“, „Zuwanderungsgeschichte“, „interkulturell“ und „Multikulturalität“, in letzter Zeit auch „transkulturell“ wecken den Eindruck, als gehörten diejenigen, die mit diesen Begriffen bezeichnet werden, einem anderen Stamm an als diejenigen, die sich als Deutsche verstehen, die schon immer hier gelebt hätten. Auch der Begriff der „Integration“ wirkt mitunter so, als gelte es, dass sich nur eine Seite verändern müsse, für die andere jedoch alles beim Alten bleiben müsse. Entspricht ein solches Bild unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit oder ließe sich auch etwas differenzierter über diese Wirklichkeit sprechen?
Christiane Bainski: Im Grunde ist es bedauerlich, dass wir mit Begriffen wie „Migrationshintergrund“ etc. überhaupt noch umgehen müssen. Wir leben in einer Gesellschaft zusammen und tragen gemeinsam zur Lebensqualität und einem doch recht guten Standard im weltweiten Vergleich bei. Aktuell wurde seitens des Bundesinnenministeriums darauf hingewiesen, dass 25 Prozent unserer Bevölkerung einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Bei der nachwachsenden Generation ist er noch höher. Zumindest in den Stadtstaaten und den alten Bundesländern in den Großstädten sowie in deren Ballungsgebieten liegen wir bei ca. 50 Prozent und mehr bei den Kindern und Jugendlichen. In NRW leben Menschen mit über 190 Herkunftsnationalitäten.
Und: es gibt keine Homogenität! Die autochthone deutsche Bevölkerung ist in sich sehr unterschiedlich – ebenso wie Angehörige der allochthonen Bevölkerungsgruppen. Jedes Mitglied unserer Gesellschaft gehört einer Vielzahl von Gruppen an, die jeweils mit einem oder mehreren Aspekten der Persönlichkeit und Identität verbunden sind: dazu gehören zum Beispiel Staatsangehörigkeit, geografische Herkunft, Wohnort, Geschlecht, Klasse, Religion, Sprache, politische und weltanschauliche Einstellungen, Beruf und Arbeit, Essgewohnheiten, Interessen an Sport oder Musik und vieles mehr. Aus dieser Diversität heraus eine demokratische Gesellschaft zu gestalten und offen für neue Wege zu sein ist meines Erachtens der beste Weg in eine sichere Zukunft unter demokratischen Bedingungen. Dazu gehören aber auch mehr Möglichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Partizipation und ein breiter gesellschaftlicher Diskurs „auf Augenhöhe“.
Norbert Reichel: In Einwanderungsgesellschaften ist es Usus, dass Menschen, die aus demselben Land kommen, sich zunächst zusammenschließen, in bestimmten Stadtvierteln, in Kulturvereinen, und sich somit auch gegenseitig ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. So in den USA, in denen es deutsche, irische, polnische, italienische, chinesische Viertel gab und gibt. In Wisconsin gibt es beispielsweise in vielen Orten ein „German Gemuetlichkeitsfest“. Als Tourist*innen in New York oder London lieben wir das Flair einer „Chinatown“ oder eines „Little Italy“. Aber warum fühlen sich Menschen von einer solchen Entwicklung in Deutschland bedroht und malen das Menetekel von “Parallelgesellschaften“ an die Wand?
Christiane Bainski: Sich in einem neuen Land zunächst einmal mit den Menschen zu verbinden, mit denen man „Wurzeln“ und Erfahrungen teilt, ist doch „normal“. Man hat einen Ort und Kontakte, die vertraut erscheinen. Man fühlt sich sicherer. Aber ist das eine Parallelgesellschaft?
Man müsste sich erst einmal darüber verständigen, was eine Parallelgesellschaft ist. Darunter wird in der Regel verstanden, dass man in einem eigenen Sozialraum mit eigenen Regeln und „Gesetzen“ und abgeschottet von der Gesamtgesellschaft lebt. In diesem eng verstandenen Sinn gibt es in Deutschland eigentlich keine „Parallelgesellschaften“. Es gibt allerdings Quartiere oder Stadtteile, die eher von der autochthonen Bevölkerung bewohnt sind und solche, in denen die allochthone Bevölkerung dominiert.
Dabei sollte nicht vergessen werden, dass es sich dann nicht um abgeschlossene Wohngebiete für einzelne Herkunftsnationalitäten handelt, sondern um ein Zusammenleben von Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft. In NRW leben Menschen aus über 190 Herkunftsnationalitäten. Gibt es Quartiere, in denen 50 Prozent bis hin zu 100 % Personen aus der allochthonen Bevölkerung – oder vielleicht besser: Personen mit internationaler Familiengeschichte – leben, so handelt es sich immer um viele verschiedene Facetten von Migrationsgeschichte( Herkunft, Dauer des Aufenthalts, eingebürgert, sicherer Aufenthaltsstatus, Duldung, Bildung, persönliche Interessen, Arbeit; Lebenskonzept etc.). Die Diversität ist groß.
In einem Stadtteil in der Stadt, in der ich wohne, gibt es einen Anteil von 67 Prozent der allochthonen Bevölkerung. Hier herrscht große „Internationalität“, auch viele Unterschiede in Lebensweisen. Es mag Straßenzüge geben, in denen eine bestimmte Herkunftsnationalität dominiert. Aber ein ganzer Stadtteil bildet zumindest in dem Bereich, den ich überblicken kann, keine Parallelgesellschaft.
Die aktuelle Debatte um die sogenannten Clans in einigen Quartieren hat sicherlich teilweise ihre Berechtigung, da solche kriminellen Verbindungen in der Tat existieren. Nur: Warum haben sie sich entwickelt? Wenn man bedenkt, dass sie zum großen Teil dort entstanden sind, wo z.B. der Zugang zu Arbeit durch Duldung bis in die dritte Generation hinein verweigert wurde, so sollte dies eher Anlass sein, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Wenn man Menschen in die Armut zwingt und keine angemessenen legalen Perspektiven der Teilhabe und für ein besseres Leben anbietet, so suchen sie sich andere Wege.
Die übergroße Mehrheit unserer allochthonen Bevölkerung leistet unbestreitbar viel – auch für die Gesamtgesellschaft. Es gibt viele Vereine und andere Organisationsformen von Menschen mit internationaler Familiengeschichte. In NRW wurden und werden diese unter dem Fokus der Beteiligung an gesellschaftlicher Entwicklung seit über 20 Jahren von allen Landesregierungen gefördert. So gibt es z.B. einen Zusammenschluss von rund 600 Migrantenorganisationen im „Elternnetzwerk Integration miteinander“ in NRW. Diese engagierten Eltern und Großeltern sind wichtige Partner in der Entwicklung innovativer Konzepte einer inklusiven Bildung für alle.
Entscheidend ist nicht, ob viele unserer Mitbürger*innen sich in ihren Herkunftsbezügen treffen und arbeiten. Wichtiger sind die gesellschaftliche Öffnung und Teilnahme an gesamtgesellschaftlichen Belangen. Hier hat die deutsche sogenannte Mehrheitsgesellschaft eher noch Entwicklungsbedarf im Sinne von Öffnung und Chancengerechtigkeit.
Norbert Reichel: Seit etwa vier bis fünf Jahren habe ich den Eindruck, dass viele Mitbürger*innen in Deutschland alle Menschen, die eine etwas dunklere Haut- oder Haarfarbe haben pauschal für „Flüchtlinge“ halten. Was hat sich durch die Zuwanderung geflüchteter Menschen verändert?
Christiane Bainski: Schaut man in die Berichterstattung der Medien und hört sich die offiziellen politischen Botschaften an, so kann tatsächlich der Eindruck entstehen, dass eine riesige „Welle“ von Geflüchteten in unser Land gekommen sei. Es waren natürlich deutlich mehr als in den Jahren vor 2013/14 – über eine Million. Die können unter 80 Millionen Einwohner*innen eigentlich nicht so massiv auffallen. Sie ergänzen das Bild der auch vorher schon vorhandenen Vielfalt in unserer Gesellschaft.
So wie ich es wahrnehme, gibt es zwei verschiedene Hauptdiskurslinien: einerseits die rechtspopulistische Seite, die den Untergang des deutschen Volkes heraufbeschwört; andererseits diejenigen, die sich der gesellschaftlichen Verantwortung einer auf den Menschenrechten begründeten „Integration“ auf vielfältige Weise stellen.
Ich möchte im Übrigen darauf verweisen, dass unser Lebensstandard sehr stark von der Leistung der allochthonen Bevölkerung abhängt. Ohne sie könnte sich unsere Gesellschaft nicht den Zukunftsfragen stellen. Außerdem sind inzwischen sehr viele Menschen mit internationaler Familiengeschichte deutsche Staatsbürger*innen. Sie sind Deutsche im Sinne des Grundgesetzes. Und für weitere Menschen ist bei uns auch noch Platz.
Außerdem haben Anthropologie und Naturwissenschaften längst belegt, dass es bei Menschen keine Rassen gibt, sondern einen gemeinsamen Genpool, in dem die individuelle Facette meist bei lediglich einem Prozent liegt. Wozu also die Aufregung? Leider sind rechtsextreme und rechtspopulistische Kreise für Argumente auf einer wissenschaftlich begründeten Vernunftbasis nicht erreichbar.
Entscheidend wird es sein, ob die Menschen in unserer Gesellschaft, die am Erhalt und einer konstruktiven Weiterentwicklung unserer Demokratie interessiert sind, gleich welcher Herkunft, sich über gemeinsame gesellschaftliche Lösungen im Rahmen einer gemeinsamen ausgehandelten und tragfähigen Wertestruktur verständigen können.
Norbert Reichel: Erste Voraussetzung für eine gelingende Integration – darin sind sich alle einig – ist die Sprache. Für viele heißt das erst einmal Deutsch lernen. Du hast viel Erfahrung mit mehrsprachiger Didaktik. Es ist wissenschaftlich belegt, dass es leichter ist, Deutsch zu lernen, wenn die Familien- oder Herkunftssprache, die in der Familie gesprochen werden, einbezogen werden. Wie kann eine solche Strategie gelingen?
Christiane Bainski: Es würde als erster Schritt schon einmal helfen, wenn man den Kindern und Jugendlichen in den Bildungsinstitutionen den Gebrauch der Familiensprache oder weiterer Sprachkenntnisse nicht mehr – wie es leider noch viel zu oft geschieht – verbieten würde, sondern Wertschätzung ausdrückt. Jede Sprache hat ihren eigenen unverzichtbaren Wert. Eine solche Wertschätzung nimmt den Kindern und Jugendlichen Druck, stärkt ihr Selbstbewusstsein und fördert die Chancen, dass diese Kinder und Jugendlichen entspannter lernen, sich gegenseitig in ihren verschiedenen Sprachen helfen und austauschen und ihren gesamten Sprachenbesitz als Lernressource kreativ nutzen können.
In der Forschung zur plurilingualen Bildung oder Mehrsprachigkeitsdidaktik finden sich Ansätze und Formen von Theoriebildung, die in Richtung eines integrativen und identitätsorientierten Sprachunterrichts entwickelt wurden. Sprachenlernen und sogenanntes interkulturelles Lernen sollte mit Bezug auf die Identität der Lernenden konzeptualisiert werden. Die Europäische Bildungskommission unterstützt z.B. einflussreiche Konzepte wie Plurilingualismus, Sprachenrepertoire und „translanguaging“. Diese haben große Bedeutung in der internationalen Neuorientierung mehrsprachiger Bildung. Aus dem aktuellen internationalen Forschungsstand lässt sich schließen: Wer sein Gesamtsprachenrepertoire unter angemessener professioneller Begleitung für den Lernprozess nutzen darf, findet auch leichter auf das Niveau der Bildungssprache.
Aktuell wird besonders das sprachsensible Unterrichten in allen Fächern in den Fokus genommen. Hierzu gibt es inzwischen gute Umsetzungserfahrungen und Qualifizierungsangebote. Wenn Lehrer*innen aller Fächer auch reflektieren, was der Anteil des Sprachlichen in ihrem Unterricht ist (z.B. Fachsprache und Textformate) und dies in ihren Unterricht einbeziehen, so sichern sie eine qualitätvolle sprachliche Bildung für alle Kinder. Mehrsprachigkeit ist heute in vielen Ländern und in vielfacher Hinsicht ein zentrales Thema von Schule: Schulisches Leben, Lernen und Lehren geschehen auch in Deutschland zunehmend unter den Bedingungen einer sprachlichen und kulturellen Vielfalt, welche die in nationalstaatlichen und oft monolingualen Traditionen verwurzelten Schulsysteme (s. Ingrid Gogolin: „monolingualer Habitus“), insbesondere auch das deutsche, vor große Herausforderungen stellt. Viele Alltagsmythen und Haltungsfragen der Pädagog*innen stellen große Hindernisse dar.
Es führt in einer Migrationsgesellschaft wie der deutschen Gesellschaft, in einer Welt, in der es über 6000 anerkannte Sprachen verteilt auf 194 Länder gibt, also die Mehrheit der Menschheit mehrsprachig lebt, keinen Weg daran vorbei, Mehrsprachigkeit auch als Normalität in unserem Bildungssystem zu leben. Mehrsprachigkeit sollte daher als Ausgangspunkt für schulisches Lernen und Lehren gelten. Die sprachlichen Repertoires von Schüler*innen sind oft vielfältig und entsprechen nicht notwendigerweise der offiziellen Schulsprache.
Es ist überfällig, dass die Ergebnisse nationaler wie internationaler Forschung und die Erkenntnisse und Erfahrungen guter Praxis auch in der Lehrer*innenbildung umfassend vermittelt werden. Man weiß, wie es geht – aber die einzelne Lehrkraft hat es in der Regel nicht in ihrer Ausbildung gelernt.
Norbert Reichel: Wenn das Wort „Mehrsprachigkeit“ fällt, denken die meisten an Englisch oder vielleicht noch an Französisch. Englischunterricht ab Klasse 1 – das war eine politische Parole der frühen 200er Jahre. Dort, wo es eingeführt wurde, wird heute darüber debattiert, ob man das nicht lieber wieder abschaffen sollte. Aber warum wird in den politischen Debatten für Mehrsprachigkeit ebenso wie in der konventionellen Fremdsprachendidaktik Herkunfts- oder Familiensprache ignoriert?
Christiane Bainski: Ich verweise in diesem Kontext gern auf den Ansatz des Sprachenlernens des Europarats. In den letzten Jahren hat das Konzept der Mehrsprachigkeit hier an Bedeutung gewonnen. „Mehrsprachigkeit unterscheidet sich von ‚Vielsprachigkeit‘ […]. Vielsprachigkeit kann man erreichen, indem man einfach das Sprachenangebot in einer Schule oder in einem Bildungssystem vielfältig gestaltet und indem man Schüler dazu anhält, mehr als eine Sprache zu lernen, oder indem man die dominante Stellung des Englischen in internationaler Kommunikation beschränkt.
Mehrsprachigkeit jedoch betont die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert, von der Sprache im Elternhaus über die Sprache der ganzen Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer Völker (die er entweder in der Schule oder auf der Universität lernt oder durch direkte Erfahrung erwirbt). Diese Sprachen und Kulturen werden aber nicht in strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert, sondern bilden vielmehr gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren. In verschiedenen Situationen können Menschen flexibel auf verschiedene Teile dieser Kompetenzen zurückgreifen, um eine effektive Kommunikation mit einem bestimmten Gesprächspartner zu erreichen. Zum Beispiel können Gesprächspartner von einer Sprache oder einem Dialekt zu einer oder einem anderen wechseln und dadurch alle Möglichkeiten der jeweiligen Sprache oder Varietät ausschöpfen. […] Man kann auch auf die Kenntnis mehrerer Sprachen zurückgreifen, um den Sinn eines geschriebenen oder gesprochenen Textes zu verstehen, der in einer eigentlich unbekannten Sprache verfasst wurde (Europarat/Rat für kulturelle Zusammenarbeit, 2001, S. 17)“.
Ich habe dieses Zitat einmal eingesetzt, weil es gut beschreibt, wie Sprachenlernen im Kontext von Mehrsprachigkeit funktioniert, dass es sich um einen fluiden Prozess handelt. Wir haben in unserem Bildungssystem die Vorstellung verankert, dass jede Sprache als abgeschlossenes System für sich steht. Daraus ist eine versäulter Sprachenunterricht geworden. Jede Sprache in ihrer „Schublade“. Sprachen bilden bei Zwei- und Mehrsprachigen jedoch keine nebeneinander befindlichen Säulen, sondern bilden einen im Gehirn verankerten Gesamtsprachenbesitz oder -repertoire, in dem sich die Sprachen ergänzen und gegenseitig stützen. Dieses Denken ist viel zu vielen deutschen Lehrkräften noch völlig fremd. Es muss aber ins professionelle Wissen und Können unbedingt Eingang finden.
Norbert Reichel: Was bedeutet der Begriff „Bildungssprache“? Könnte diese auch bilingual gepflegt werden?
Christiane Bainski: Die Bildungssprache stellt das Ziel aller sprachlichen Bildung dar. Der Begriff stellt den Versuch dar, eine deutsche „Übersetzung“ aus der internationalen Forschung, die mit der Formulierung „academic language“ arbeitet, zu leisten. Bei der Bildungssprache handelt es sich um ein formales sprachliches Repertoire, das über alltagssprachliche Kompetenzen hinausgeht und die Beherrschung komplexer sprachlicher Handlungsmuster ermöglicht (wie z.B. in der Schule oder an der Universität Referate, Berichte und fachliche Protokolle anfertigen und kompetent vortragen).
Da die Bildungssprache, wenn sie familiär oder im Lebensumfeld der Kinder und Jugendlichen nicht weitergegeben wird, lt. Erkenntnissen internationaler Forschung sich nicht ohne Hilfe entwickelt, brauchen Kinder und Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund bzw. internationale Familiengeschichte hier besondere Unterstützung. Besonders Ingrid Gogolin, Hans Reich sel.A. und Hans Joachim Roth haben hierzu im Rahmen des bundesweiten Modellprogramms FörMig (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – 2004 – 2013) wichtige Anstöße gegeben.
Das Erreichen des Levels der Bildungssprache beinhaltet entsprechende kognitive Leistungen (z.B. abstraktes Denken, Theoriebildung). Wer diese einmal erreicht hat, kann sie auch in anderen Sprachen nutzen. Bei entsprechendem Wortschatz und Grammatikverständnis/Regelverständnis kann man Bildungssprache in mehreren Sprachen entwickeln und nutzen.
Norbert Reichel: Manche verlangen, dass neu zugewanderte Kinder erst nach mindestens zwei Jahren Intensivkurs Deutsch eine Regelschule besuchen dürfen. Dies bedeutet, dass diese Kinder kaum Kontakte zu deutschen Kindern entwickeln können. Welche Konzepte schlägst du vor, um die einer gelingenden Integration dienlichen Ziele miteinander zu verbinden, guten Lernerfolg in Deutsch, gemeinsames Aufwachsen, gemeinsames Lernen und gelingendes Kennenlernen des Alltags in Deutschland?
Christiane Bainski: Problematisch wird es, wenn seitens der Politik Vorstellungen genährt werden, man solle Kinder nicht einschulen, solange sie nicht vergleichbar mit Kindern deutscher Familiensprache auf einem guten Leistungsniveau Deutsch sprechen. Wie soll das funktionieren? Wer wenn nicht die Schule ist der geeignete Ort, um qualifiziertes Sprach(en)lernen zu ermöglichen? Konzepte, die gemeinsamen Regelunterricht, längerfristige und epochale Förderstrategien unter Einbeziehung der lebensweltlichen Erfahrungen der Schüler*innen und sprachsensiblen Unterricht in allen Fächern nutzen und miteinander verbinden, sind für alle Kinder förderlicher als Separierungsstrategien. Dadurch werden nur neue Hindernisse/Barrieren im System aufgebaut. Gerade auch im miteinander lernen liegt eine Chance. Allerdings braucht es dann ein größeres Repertoire für Unterrichtsgestaltung.
Bundesweit wäre eine Qualifizierungsoffensive in Unterrichts- und Schulentwicklung – z.B. unter Verwendung der Erfahrungen aus den Programmen BiSS (Bildung in Sprache und Schrift) und KoMBi (Koordination Mehrsprachigkeit und Bildung) – eine längst fällige Initiative, wenn die aktuellen Herausforderungen erfolgreich gemeistert werden sollen. Die Weiterentwicklung der Lehrer*innenbildung gehört mit in das Paket.
Norbert Reichel: Wenn es um Bildung geht, reduzieren viele dies auf Deutschlernen als Hauptaufgabe. Wichtig und unabdingbar, aber warum wird deiner Meinung nach Bildung immer nur auf dieses eine Thema reduziert, selbst von denen, die es eigentlich besser wissen müssten?
Christiane Bainski: Natürlich ist Sprache das zentrale Kommunikationsmittel und in Deutschland die deutsche Sprache die Verkehrssprache, die jede/r können sollte. Auch Teilhabe ist ohne qualifizierte Sprachkenntnisse nicht gut möglich.
Es gibt bei Teilen der Bevölkerung und auch in Teilen der Politik jedoch eine vorhandene Skepsis und Vorurteile gegenüber der Mehrsprachigkeit. Es gibt die Besorgnis, die deutsche Sprache könnte verloren gehen oder in ihrer Qualität gemindert werden.
Dies ist der geringen Kenntnis über den Verlauf von Spracherwerbsprozessen geschuldet. Angesichts der relativ wenigen Jahrzehnte, in denen sich die Forschung und auch die Praxis mit diesen Aspekten befassen, ist dies nicht unbedingt verwunderlich. Frühere Auffassungen, wie z.B. Bilingualität sei eine Krankheit, oder zumindest die bei vielen Lehrkräften vorherrschende Meinung, die zwei- und mehrsprachigen Kinder seien überfordert, steht die Befürchtung im Fokus der Auseinandersetzung, dass man „zum Deutschen zwingen müsse“, wenn man es weiter als allgemeine und qualitätvolle Verkehrssprache behalten möchte.
Gerade aber durch diese Strategie erreicht man das Gegenteil des Gewünschten. Wir haben immer mehr Schüler*innen, die die Bildungssprache nicht erreichen und in der Alltagssprache radebrechen bzw. auf einem recht niedrigen Niveau bleiben. Wer die deutsche Sprache sichern möchte, sollte zu ihrem erfolgreichen Erlernen beitragen. Dies geschieht durch Motivation, gute Sprach(en)lernkonzepte und eine gute gesteuerte Begleitung im Bildungssystem, die den Übergang von der Alltagssprache in die Bildungssprache unterstützt und in allem Lernen die angemessenen sprachlichen Angebote und Inputs bereithält. Die Nutzung des gesamten Sprachrepertoires bietet offenbar für diesen Lernprozess die besten Voraussetzungen.
Das Erlernen der deutschen Sprache auf dem Niveau der Bildungssprache ist und bleibt das zentrale Ziel im Bildungssystem. Auch und gerade die Mehrsprachigkeitsdidaktik unterstützt das Erlernen der deutschen Sprache.
Die Frage ist: Welcher Weg ist der erfolgreichere? Die traditionelle Herangehensweise die deutsche Sprache als geschlossenes System zu vermitteln war offensichtlich nicht besonders erfolgreich, wenn wir uns die Langsamkeit in bescheidenen Erfolgen bei den internationalen Studien ansehen. Es gibt Methoden im Bereich von Konzepten wie Scaffolding, Translanguaging, sprachsensibles Unterrichten in allen Fächern etc., die offensichtlich bessere Erfolge erzielen und auch den Lernprozess aller Kinder stärken.
Norbert Reichel: Integrationsappelle konzentrieren sich oft auf Äußerlichkeiten. Über Kopftücher gibt es hoch emotional geführte Debatten, auch über Auseinandersetzungen zwischen jungen Menschen, vor allem zwischen Jungen, auf Schulhöfen. Ein weiterer Klassiker dieser Debatten ist in Deutschland die Mülltrennung. Und ein ehemaliger Bundesinnenminister verkündete seine Integrationsappelle unter anderem mit dem Satz „In Deutschland gibt man sich die Hand“. Ärzt*innen, die bei einer Betriebsbegehung jemandem die Hand geben, riskieren ein Bußgeld, wegen Infektionsgefahr. Ich will solche Debatten nicht als unsinnig abtun, habe aber den Eindruck, sie verhindern jede qualifizierte Auseinandersetzung mit Ein- und Zuwanderung. Wie denkst du darüber?
Christiane Bainski: Natürlich gibt es in Deutschland Höflichkeitsformen (wie z.B. die Hand zu geben) und Gewohnheiten (wie z.B. die Mülltrennung), die insbesondere neu zugewanderten oder geflüchteten Menschen fremd sind bzw. nicht zu ihren Erfahrungen gehören. Manchmal gilt in ihrem Herkunftsland auch das Gegenteil als höflich. Beispielsweise schaut man in manchen Ländern einem höhergestellten Menschen nicht in die Augen, und ein deutscher Lehrer kritisiert, dass die Schülerin oder der Schüler ihn nicht anschaut. Auch bestimmte Wertvorstellungen (z.B. Gleichberechtigung von Mann und Frau, Freiheit der sexuellen Orientierung) sind zunächst für viele irritierend und fremd.
Dies lässt sich doch vermitteln! Wer etwas nicht weiß, muss es erklärt bekommen. In der Regel lösen sich dann viele Probleme. Wenn es um religiöse Traditionen geht, sollte auch die sogenannte deutsche Mehrheitsgesellschaft etwas geduldiger, offener und respektvoller sein. Entscheidend ist für mich immer als Kriterium, ob es dem Prinzip „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ entspricht. Auf dieser Basis mag es Vieles geben, was sich im Miteinander auch verändern kann – auf allen Seiten.
Norbert Reichel: Eine der denkwürdigsten Fragen lautet: „Woher kommst du?“ Und wenn die Antwort Berlin, Herten oder Würzburg lautet: „Woher kommst du denn wirklich?“ Reagieren die Gefragten darauf zu empfindlich oder sollten die Fragenden sich die Frage einfach grundsätzlich verkneifen? Welchen Gesprächseinstieg empfiehlst du und was empfiehlst du als Antwort auf die Frage?
Christiane Bainski: Ich verkneife mir in der Regel – zumindest bei ersten Kontakten – diese Frage. Sollte ich durch Namen oder andere Hinweise persönlich auf eine Herkunftsregion schließen, frage ich manchmal: Haben Sie türkische, marokkanische Wurzeln? Meist verweise ich dann auch auf meine polnischen oder thüringischen Wurzeln. Es muss in der Kommunikation klar sein, dass man auf keinen Fall unterstellt, die Person gehöre nicht dazu.
Norbert Reichel: In unserer Gesellschaft gibt es nicht nur persönlich adressierte, sondern auch strukturelle, in der Regel nicht immer bewusste Formen der Diskriminierung. Mechtild Gomolla spricht von „Institutioneller Diskriminierung“. Wie kann man Lehr- und Fachkräfte in Kindertagesstätten, in Schulen, in der Weiterbildung, in Einrichtungen der Jugendhilfe dafür sensibilisieren? Was kann man dagegen tun?
Christiane Bainski: Gerade Mechthild Gomolla und Frank Olaf Radtke haben die Kernpunkte der institutionellen Diskriminierung benannt. Ich hebe zwei dieser Aspekte hervor:
- Unterdrückung/Diskriminierung der lebensweltlichen und sprachlichen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen. Angesichts der sich verdichtenden Erkenntnisse aus Sicht der Neurowissenschaften und der Psycho-Linguistik über das Zusammenwirken des Gesamtsprachenbesitzes im Sinne eines Sprachrepertoires im Lernprozess wird die Engfassung des Monolingualismus Deutsch in den Bildungseinrichtungen durch Marginalisierung und Negierung der Mehrsprachigkeit als ein besonderer Aspekt der institutionellen Diskriminierung betrachtet. In der Migrationspädagogik gibt es vergleichbare Auffassungen. Ein die anderen Sprachen ausgrenzendes Deutschgebot stellt einen Aspekt von Herrschaft dar. Monolingual deutsche Schülerinnen und Schüler dürfen ihren gesamten Sprachbesitz einsetzen. Zwei- und mehrsprachige Schülerinnen und Schüler sollen sich auf die „Sequenz Deutsch“ beschränken und ihr Sprachrepertoire nicht nutzen.
- Übergänge: Grundschulgutachten für den Übergang in die Sekundarstufe I weisen häufig Diskriminierungsaspekte auf. Auch beim Übergang Schule/Beruf haben es Jugendliche mit internationaler Familiengeschichte meist schwerer. Oft sind Vorurteile oder rassistisch geprägte Haltungen der Fachkräfte, die nicht bearbeitet werden, Basis für problematische Entscheidungen über die Bildungslaufbahn.
Norbert Reichel: Lehr- und Fachkräfte in Schulen, Kindertagesstätten und Einrichtungen der Jugendhilfe brauchen „kultursensibel“ ausgerichtete Aus- und Fortbildung. Immer wieder wird jedoch auch gefordert, dass der Anteil von Lehr- und Fachkräften mit „Migrationshintergrund“ erhöht werden sollte. Auf mich macht das manchmal den Eindruck, als wolle man die mit Ein- und Zuwanderung verbundenen Aufgaben vorrangig an die Menschen delegieren, die selbst eine entsprechende Familiengeschichte aufweisen. Du hast in deiner Zeit als Leiterin der RAA-Hauptstelle und der LaKI auch das nordrhein-westfälische Netzwerk „Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte“ betreut. Wie könnte man diese jungen Leute am besten an der Weiterentwicklung unserer Bildungseinrichtungen beteiligen?
Christiane Bainski: Zunächst einmal ist die migrationspädagogische Bildung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und im Bildungssystem Auftrag für alle professionellen Kräfte. Aktuell werden zwischen 40 und 50 Prozent aller Schüler*innen in NRW (je nach Einschulungszeit) aus ca. 190 Herkunftsnationalitäten und vielfältigen Unterschieden von immer noch über 90 Prozent Lehrer*innen aus den deutschen Mittelschichten unterrichtet. Diese Ausschließlichkeit zu überwinden und die Vielfalt der Gesellschaft auch in den professionellen Bereichen sichtbar werden zu lassen, ist sicherlich auch für ein diversitätsorientiertes Bildungssystem wichtig.
Lehrkräfte mit internationaler Familiengeschichte sorgen vor allem dafür, dass der Vielfalt im Klassenzimmer auch die Vielfalt im Lehrerzimmer folgen kann. Allerdings wird es noch recht lange dauern, dass dies generell Normalität wird.Das NRW-Netzwerk der „Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte“ trägt durch eigene Angebote dazu bei, Abiturient*innen mit internationaler Familiengeschichte für den Lehrerberuf zu motivieren, organisiert Begleitung im Lehramtsstudium und bietet unterstützende Qualifizierungen für die Lehrkräfte im Schuldienst an. Die Kolleginnen und Kollegen haben inzwischen ein Netzwerk von über 800 Lehrer*innen hinter sich, die im Land Unterrichts- und Schulentwicklung für alle Kinder und Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft unterstützen.
Norbert Reichel: Aladin El-Mafaalani vertritt in seinem Buch „Das Integrationsparadox“ die These, dass das Aufkommen fremdenfeindlicher Parteien und Einstellungen ein Zeichen des Erfolgs der Integration wäre. Eine Zwischenüberschrift lautet: „Rassismus kann sich verstärken, wenn Integration gelingt.“ Zweckoptimismus oder Galgenhumor?
Christiane Bainski: Ich denke: weder – noch. Der zentrale Aspekt ist, dass in vielen Ländern mit hoher Migration sich rechtspopulistische Strömungen entwickelt haben, weil rassistische Vorbehalte bestehen und auch Sorge um die eigene Lebensweise und mögliche Veränderungen sowie Existenzängste und Konkurrenz in den Vordergrund treten. Wir erleben ja in den Medien eine vielfältige Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt gibt es Konkurrenzen. Das macht manchen Menschen Angst. Andererseits wollen Menschen, die hier leben natürlich auch mitbestimmen, Bildung, Arbeit und Wohnung haben und engagierte Lebensziele erfolgreich erreichen. Es geht, wie Aladin El Mafaalani gerne sagt, um das „eigene Stück vom Kuchen“.
Wenn man bedenkt, dass dort, wo viele Menschen mit internationaler Familiengeschichte leben, das Miteinander besser gelingt und auch weniger Probleme gesehen werden als in Regionen, in denen es keine oder nur geringe Migration gibt, so bin ich guter Dinge, dass wir miteinander erfolgreich sein können und mit der Zeit auch der Rechtspopulismus seine Basis verlieren wird. Rechtsextremismusfrei wären wir gerne. Aber das scheint nicht realisierbar. Inakzeptable Ansichten wird es immer geben. Aber diese zurückdrängen durch eine demokratische Gesellschaft der Vielfalt – das kann gelingen.
Norbert Reichel: Für junge zugewanderte Menschen, die in einer deutschen Schule gerne und erfolgreich lernen, wird der 18. Geburtstag oft zu einem großen Problem. Was müsste sich ändern, damit diese Menschen ihre Ausbildung erfolgreich fortsetzen und abschließen können?
Christiane Bainski: Wenn es um Jugendliche und junge Erwachsene geht, die keinen sicheren Aufenthaltsstatus haben, wird in der Regel die öffentliche Förderung beendet, weil die Schulpflicht nicht mehr besteht. Es geht dabei vorrangig um Jugendliche aus sogenannten „sicheren Herkunftsländern“. Ein wichtiger Schritt war schon einmal die sogenannte 3+2 Regelung (geduldete Jugendliche mit Ausbildungsverträgen können im Anschluss noch 2 Jahre bei ihrem Ausbildungsbetrieb weiter beschäftigt werden.
Grundsätzlich halte ich es gesellschaftlich gesehen für besser, allen jungen Erwachsenen die Weiterführung ihrer schulischen Ausbildung sowie eine berufliche Ausbildung im dualen System oder über Schule/Hochschule zu ermöglichen. Selbst bei unsicherem Aufenthaltsstatus geben wir die Möglichkeit für eine bessere Lebensgestaltung mit. Das neue Programm der Landesregierung „Gemeinsam klappt’s“ weist im Wesentlichen in die richtige Richtung.
Norbert Reichel: Zum Abschluss eine grundsätzliche Frage. Das Verhalten der im Sommer 2019 gescheiterten rechtspopulistischen italienischen Regierung ist meines Erachtens – unbeschadet des unflätigen Tons des verantwortlichen Innenministers – eine Folge des Dublin-Verfahrens, mit dem sich auch die Bundesrepublik Deutschland in den 1990er Jahren aus der Verantwortung herausgestohlen hat. Welche Prognose wagst du für die weiteren Entwicklungen und wie können wir uns darauf einstellen?
Christiane Bainski: Unabhängig davon, dass es jetzt diesen Innenminister nicht mehr gibt, denke ich, dass das Bemühen um die „Festung Europa“ generell weiter gehen und sich ggf. noch verschärfen wird. Was mich zutiefst erschreckt ist, dass man den Tod tausender Menschen oder deren Martyrium in Lagern wie in Libyen in Kauf nimmt, um sich abzuschotten. Aber wir müssen auch diese Frage stellen: Wo ist die Übernahme von Verantwortung für die Fluchtursachen aus deutscher Geschichte – oder auch in den anderen Ländern?
Ich erwarte, dass die Migrationsbewegungen in den nächsten Jahren nicht nur weitergehen, sondern auch wieder zunehmen werden, z.B. auch durch den Klimawandel bedingt. Wir dürfen aus meiner Sicht den Grundsatz „die Würde des Menschen ist unantastbar“ nicht aufgeben und humanitäre Hilfe und Aufnahme fortführen und Wege der Integration offenhalten und gestalten. In dieser Frage sollte man in der gesellschaftlichen Debatte nicht zurückweichen.
Christiane Bainski ist eine der führenden Expert*innen für interkulturelle/migrationsbedingte Entwicklungsprozesse bzw. der Veränderungen in der Diversität in unserer Gesellschaft, insbesondere in Schulen, die als Spiegelbild der Gesellschaft gelten dürfen. Sie war Gesamtschullehrerin, dann 1995 bis 2000 Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen für die Fraktion von Bündnis 90 / Die Grünen und hat anschließend in Nordrhein-Westfalen die Hauptstelle der „RAA’en“ (Regionale Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien) und seit 2012 deren Nachfolgeeinrichtung, die Landesweite Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren (LaKI), geleitet. Seit 2018 ist sie im Ruhestand und arbeitet als freie Autorin und Expertin für verschiedene Stiftungen und Institutionen.
Zum Weiterlesen:
Christiane Bainski / Claudia Benholz sel.A /, Sara Fürstenau / Christoph Gantefort / Hans H. Reich sel. A. / Hans-Joachim Roth, Diskussionspapier Mehrsprachigkeit NRW – Ansätze und Anregungen zur Weiterentwicklung sprachlicher und kultureller Vielfalt in den Schulen, 7.4.2017.
Zygmunt Baumann, Die Angst vor den anderen – ein Essay über Migration und Panikmache, Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 2016.
Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadox – Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 4/2018.
Mechtild Gomolla, Institutionelle Diskriminierung – Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 3/2007.
Mark Terkessidis, Interkultur, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2010.
Özlem Topçu / Alice Bota / Khuê Pham, Wir neuen Deutschen – Wer wir sind, was wir wollen, Hamburg, Rowohlt, 2012.
Informationen zum Programm „Gemeinsam klappt’s“ .
Post Scriptum: Ein deutscher Staatssekretär verabschiedete einmal in seinem unverwechselbaren Dialekt einen türkeistämmigen Professor mit den freundlich gemeinten Worten: „Sie sprechen ja besser Deutsch als wie ich.“ Nicht erfunden.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2019, Internetlinks wurden am 17. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)