Diversität im pädagogischen Alltag

Ein Gespräch mit der Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan

„Während die quirlige Multikulturalität in Metropolen wie New York oder London als im besten Sinne an- und aufregend erlebt wird, weckt die multikulturelle Vielfalt vor der eigenen Haustür Ängste von Heimatverlust und Untergang des Abendlandes (…). Angst ist zwar menschlich, aber ein schlechter Ratgeber für die Politik im Umgang mit dem Unbekannten.“ (Yasemin Karakaşoǧlu: Gegen den Gedächtnisverlust in der Migrationspolitik, in: Hilal Sezgin, Deutschland erfindet sich neu – Manifest der Vielen, Berlin, Blumenbar Verlag, 2011)

Es ist eine lange – man ist versucht zu sagen: gefühlt ewig andauernde – Geschichte, die Geschichte der Ein- und Zuwanderung, die Geschichte der Integration, die zugleich auch die Geschichte von exotisierendem Orientalismus, von Rassifizierung, von Ablehnung der als „anders“ oder „fremd“ gelesenen Menschen ist. Yasemin Karakaşoǧlu referiert in ihrem Beitrag zum „Manifest der Vielen“ diese Geschichte, die verträglicher hätte gestaltet werden können, wenn die Vorschläge verwirklicht worden wären, die Heinz Kühn als erster Ausländerbeauftragter – so hieß das damals – der Bundesregierung im Jahr 1978 (!) veröffentlichte. „Aufstieg durch Bildung“ – so lautete eine der politischen Parolen, die in den vergangenen 50 Jahren immer wieder erhoben wurden, zunächst aus Kreisen der SPD, dann auch aus konservativen Kreisen, in denen vor allem Armin Laschet dafür sorgte, dass die CDU sich für eine integrative Gesellschaftspolitik öffnete. Inzwischen befinden wir uns wieder in einem Wellental der Migrations- und Integrationspolitik. Die aktuelle Stimmung in Bevölkerung und Politik ist ungeachtet des immer wieder vorgetragenen Fachkräftemangels migrationsskeptisch, wenn nicht gar migrationsfeindlich. Die deutsche Migrations- und Integrationspolitik ist leider auch eine Geschichte von Lebenslügen.

Foto: privat

Eine Disziplin, die zu mehr gesellschaftlichem Miteinander, zu mehr Respekt beitragen könnte und sollte, ist die Soziale Arbeit. Sie ist im besten Sinne des Wortes grundlegendes Element einer menschenfreundlichen Bildungspolitik, die sich gleichermaßen als Teil einer auf sozialen Aufstieg ausgerichteten Wirtschaftspolitik sowie einer inklusiven Gesellschaftspolitik versteht. Meltem Kulaçatan ist Professorin für Soziale Arbeit an der Internationalen Hochschule in Nürnberg. Zuvor forschte und lehrte sie an den Universitäten Frankfurt am Main und Oldenburg. Im Demokratischen Salon war sie bereits zwei Mal zu Gast. Im Dezember 2023 ging es um ihre Studien zur Muslimfeindlichkeit sowie die von ihr diagnostizierte „Empathiesperre“ in Teilen deutschen Bevölkerung, auch unter Muslim:innen in Deutschland, nach dem 7. Oktober 2023. Im Oktober 2021 sprach sie unter der Überschrift „Feministisch – türkisch – deutsch“ über die Enttäuschungen vieler Menschen in der türkischen Community in Deutschland und die fehlende Anerkennung der Frauen und Mütter der aus der Türkei zugewanderten Familien, die maßgeblich zum Bildungsaufstieg ihrer Kinder beigetragen haben. Sie fragte nach der Rolle der Familie, der hauptsächlich von Frauen geleisteten Care-Arbeit und den Möglichkeiten weiblicher Partizipation.

Auf die soziale Schichtung kommt es an

Norbert Reichel: Unser Thema hat zwei Aspekte, die Frage des Verhältnisses von Fachkräften zu Kindern mit einer internationalen Familiengeschichte sowie die Frage der Arbeitsbedingungen und Arbeitsformen von Fachkräften, die selbst eine internationale Familiengeschichte haben.

Meltem Kulaçatan: Wir können gerne mit den Kindern anfangen, mit den Kindern und Jugendlichen, die in der offenen Jugendarbeit sowie in der Familienbetreuung eine Rolle spielen. Das sind zwei klassische Segmente der Sozialen Arbeit. Vorab muss klar sein: es geht um Kinder! Es geht um den Blick der Fachkraft auf Menschen in einem sehr jungen Alter, mit entsprechenden Bedürfnissen und Wünschen, in zweiter Linie um die lebensweltliche Perspektive. Dazu gehören Aspekte wie Flucht, die Migrationsgeschichte, die mögliche Herkunftsgeschichte der Eltern. Ich sage ganz bewusst: „mögliche Herkunftsgeschichte“. Oft handelt es sich um Annahmen, es sei denn, die Eltern bringen es selbst ganz klar zur Sprache, auch in der Erstberatung. Wir legen in der Sozialen Arbeit Wert darauf, dass transkulturell und kultursensibel gearbeitet wird. Die Kompetenzmittel besitzen wir eigentlich schon lange, aber aus der professionellen Perspektive geht es erst einmal darum, die einzelne Person in den Mittelpunkt zu stellen, unabhängig von kulturellen Vorannahmen der Fachkraft.

Norbert Reichel: Gibt es Unterschiede je nach Alter der Kinder?

Meltem Kulaçatan: Natürlich. Fünfzehnjährige sind in dieser Phase der Adoleszenz auf der Suche nach ihrer Identität. Da können die Herkunftsbiographien der Eltern oder der Großeltern eine Rolle spielen, wenn sie diese Herkunft als möglichen Aspekt ihrer Identität entdecken. Das kann empowernd, selbstermächtigend sein, es kann aber auch zu einer Distanzierung führen, wenn man sich die eigene Peer-Group sucht. Dies geschieht mittlerweile über Social Media und über Freizeiträume, in denen sich die Jugendlichen treffen. Bei jüngeren Kindern können erfahrungsgemäß Aspekte wie Spracherwerb, Multilingualität im Vordergrund stehen. Ich sage „können“, nicht „müssen“. Das hängt auch davon ab, welche internationale Biographie die Eltern besitzen. Ich habe in meinem Umfeld Kolleg:innen, Jugendpsychiater:innen, die sehr viel mit Akademiker:innen aus dem globalen Raum zu tun haben, die in internationalen Firmen arbeiten, Expats. Das sind oft Expats aus der Türkei, die um 2015 und danach ausgewandert sind. Geflüchtete aus der Türkei, oft Hochschulabsolvent:innen.

Wenn wir über Kinder und Jugendliche sprechen, dürfen wir auf keinen Fall generalisieren, weil die soziale Schichtung in der Regel deutlich ausschlaggebender ist als das bloße Vorhandensein einer internationalen Familiengeschichte. In der psychotherapeutischen oder sozialarbeiterischen Praxis spielt diese natürlich eine Rolle, aber den Ausschlag gibt nicht die Migrationsgeschichte, sondern die soziale Schichtung im Kontext der Migrationsgeschichte.

Norbert Reichel: Was bedeutet das konkret: „soziale Schichtung im Kontext der Migrationsgeschichte“.

Meltem Kulaçatan: Eltern, die beispielsweise erst vor Kurzem aus der Türkei geflüchtet sind, oft über Stationen in mehreren europäischen Ländern, haben in der Regel eine gute Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden. Sie bewerben sich auf Englisch, bringen vielleicht noch andere Sprachen mit, haben somit gute Zugangsvoraussetzungen, um sich in dem Aufnahmeland zurechtzufinden. Das sind keine traumatisierenden Fluchtgeschichten, die sich auf die Kinder abfärben oder an sie weitergegeben werden können. Sie sind aus politischen oder aus wirtschaftspolitischen Gründen geflohen, vielleicht auch, weil sie aus welchen Gründen auch immer ihre Arbeit in der Türkei verloren haben. Diese Eltern sind in der Lage, ihre Kinder, beispielsweise in der Schule, zu unterstützen. Ganz anders ergeht es Menschen, die sich nach der Flucht erst einmal um existenzielle Fragen kümmern müssen, erst einmal sicher ankommen müssen, bevor sie sich um Arbeit oder Schule kümmern können. Der Unterschied liegt im Einstieg der Kinder und Jugendlichen und der ist hier schon sehr groß.

Norbert Reichel: Eine Rolle spielt sicherlich die Frage, ob die Berufs- und Studienabschlüsse der Eltern in Deutschland anerkannt werden oder nicht.

Meltem Kulaçatan: Damit steht und fällt es. Wir haben jetzt das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das – so würde ich es sagen – schon einige Fortschritte ermöglicht, aber doch nicht der große Wurf ist. Eigentlich sollten Menschen, die hier ankommen, sofort eine Arbeitserlaubnis erhalten, auch während der Zeit, in der ihr Asylverfahren noch läuft. Wir wissen, dass die Integration über die beruflichen Aspekte alles Weitere erleichtert. Das wissen wir aus den Berichten der Expert:innen in den Arbeitsämtern, aus den Erzählungen der Betroffenen. Die Erwerbstätigkeit ist zentral. Sagen zu können: „Ich sorge für mich selbst, ich bin nicht auf Sozialleistungen angewiesen.“ So erleben sich Menschen als durch ihre eigene Kraft angekommen. Es ist eine grundlegende Erfahrung von Selbstwirksamkeit…

Norbert Reichel: … die sich dann auch auf die Kinder überträgt. Aber die deutsche Politik ist da ja noch ziemlich ängstlich.

Meltem Kulaçatan: So kann man das diplomatisch sagen.

Norbert Reichel: Eine andere Gruppe wären noch die Kinder der dritten oder gar vierten Generation, Kinder und Jugendliche, die von Lehrkräften, von Fachkräften migrantisch gelesen werden. Wie sieht es bei dieser Gruppe aus?

Meltem Kulaçatan: Erfahrungsgemäß kommt es auch da wieder auf die soziale Schichtung, die sogenannte „Klassenzugehörigkeit“ an. Die Problemlagen unterscheiden sich dann nicht von denen der Herkunftsdeutschen. Ich nenne ein Beispiel, ein junger Mensch der vierten Generation, der, als „younger carer“, Care-Aufgaben in der Familie übernimmt. Zu dieser Care-Arbeit gehören die Versorgung der Geschwister, die Versorgung eines kranken Elternteils oder der Großeltern, die Begleitung zum Arzt, zu Ämtern. Bedeutsam ist die Übersetzungsleistung, die Jugendliche oft übernehmen müssen. Sie gewährleisten, dass der Alltag funktioniert. Vor allem Mädchen!

Das ist keine Aufgabe, die Minderjährige stemmen sollten, neben Schule, Freizeit, eigener Orientierung, bei ihrer Suche nach dem eigenen Platz in der Welt. Insofern unterscheiden sich diese jungen Menschen nicht unbedingt von denen mit deutscher Herkunftsgeschichte. Aber die Problemsituationen, die Belastung können sich verstärken, für den Fall, wenn dieser junge Mensch die Aufgabe und Rolle eines Erwachsenen einnimmt, damit die Eltern gut durch den Alltag kommen, nicht zuletzt dann, wenn der Aufenthaltsstatus der Eltern nicht abgesichert ist. Das betrifft die dritte oder vierte Generation der Nachkommen von sogenannten Gastarbeitern, von denen du gesprochen hast, nicht automatisch, aber auch da gibt es solche Fälle. Solche Unsicherheiten färben sich auf die Kinder und Jugendlichen ab.

Stereotype der Fachkräfte

Norbert Reichel: Gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung durch die Fachkräfte in unterschiedlichen Settings, in der Kindertagesseinrichtung, in der Schule, der außerschulischen Jugendarbeit, von den Offenen Türen bis zur Jugendverbandsarbeit.? Unterschiedliche oder stärkere Formen der Rassifizierung, verweigerter Inklusion? Was wissen Fachkräfte? Ich nenne ein Beispiel: ein Kind aus einem anderen Land hat gelernt, Respektpersonen wie beispielsweise den Lehrer:innen nicht in die Augen zu schauen. Das Kind schaut auf die eigenen Füße und der Lehrer sagt, das Kind kann mir nicht in die Augen schauen, das hat bestimmt etwas zu verbergen. Das ist nur ein Beispiel interkultureller Missverständnisse.

Meltem Kulaçatan: Wir erleben immer wieder, dass viele Fachkräfte der Sozialen Arbeit Stereotype als abrufbar besitzen, die sie nicht kritisch reflektieren, die ich auch immer wieder höre, wenn ich mit Fachkräften spreche. Kinder aus sogenannten „fremden Kulturen“ sind oft Projektionsflächen, Projektionen der „Kulturlosigkeit“, des „fehlenden Benehmens“, der „fehlenden Anpassungsfähigkeit“. Das sind die drei Punkte, die immer erwähnt werden: „Bei uns ist das so, bei denen ist das anders.“ Solche verinnerlichten Stereotype führen ein Eigenleben. Es wird oft sogar als störend, als lästig empfunden, das reflektieren zu sollen. Es ist ähnlich wie bei männlichen oder weiblichen Stereotypen. Ich spreche von einer gesellschaftlichen Einverleibung dieser Stereotype.

Das ist die eine Baustelle. Die andere Baustelle: Wir haben viel zu wenig flächendeckende obligatorische Inhalte der rassismuskritischen Arbeit und der Migrationspädagogik in der universitären und in der außeruniversitären Ausbildung. Hier könnten die entsprechenden Kompetenzen eingeübt werden, um sich in einer pluralen Gesellschaft mit plural orientierten, mit diversen Adressat:innen zurechtzufinden. Das wird einfach abgekoppelt. Ich erlebe oft, dass das Erlernen dieser Kompetenzbereiche von vielen nicht als integraler Bestandteil ihres Handwerks begriffen wird, sondern als etwas, für das zusätzliche Zeit aufgewendet werden muss. Das ist ein Denkfehler, denn die Arbeit mit Menschen findet immer in einem diversen und pluralen, in einem strukturellen Umfang statt. Das wird aber weder bewusst wahrgenommen noch ist es Teil des beruflichen Selbstverständnisses. Diese Stereotype entladen sich oft einfach verbal, verletzten oft auch die Kinder. Kinder und Jugendliche können das nicht einordnen, auch wenn diese Stereotype erst einmal gar nichts mit ihnen zu tun haben, weil sie den Lehr- und Fachkräften in einem asymmetrischen Machtverhältnis begegnen. Kinder und Jugendliche können das nicht auffangen, es ist auch nicht ihre Aufgabe.

Kurz: die Fachkräfte als Expert:innen müssen sich in einem diversen Umfeld orientieren, sie müssen diversitätssensibel arbeiten können.

Norbert Reichel: Wie reagieren deine Studierenden?

Meltem Kulaçatan: Das ist sehr unterschiedlich. Es hängt sehr stark davon ab, woher die Studierenden selbst kommen. In einer Metropolregion wie Frankfurt am Main ist das deutlich leichter als in ländlich geprägten Räumen. Es gibt in diesen Räumen eher ein homogenes Umfeld, in dem die Studierenden wenig oder keinen Kontakt mit „den Migranten“ haben. Das bezeichnen sie dann auch so: „Ich habe nicht so viel mit den Migranten zu tun.“ Ich schlage ihnen dann vor, sich einfach einmal die Straße anzuschauen, in der sie zu Mittag essen gehen.

Es ist erst einmal ein Schock für die Studierenden, wenn sie mit Verhältnissen konfrontiert sind, die hoch divers sind. Eigentlich müsste dieser Schritt deutlich früher stattfinden, unabhängig von der Figuration „migrantisch“. Wir müssen als Lehrende, auch schon in den Schulen dafür sorgen, dass Diversität nicht bloß etwas mit Migration zu tun hat. Es hat etwas mit der Gesamtgesellschaft zu tun und lässt sich auf Geschlecht, Familienbilder (Patchwork- wie Regenbogenfamilien), sexuelle Orientierung übertragen. Das muss bewusst werden und eingeübt werden, auch wenn man erst einmal niemanden trifft, auf den das ein oder andere Merkmal oder vielleicht sogar mehrere zutreffen.

Das heißt: Weg von einem Sozialtyp des hilfsbedürftigen, fremden Migranten, der als komisch wahrgenommen oder abgelehnt wird, den man uns anpassen müsste, zu einem großzügigen Diversitätsbewusstsein. Ich möchte das als „großzügiges Diversitätsbewusstsein“ bezeichnen, mit den entsprechenden Kompetenzeinübungen.

Diversitätsbewusstsein

Norbert Reichel: Du sprichst von Diversitätsbewusstsein, das ist noch etwas mehr als Diversitätssensibilität. Wie kann man das trainieren?

Meltem Kulaçatan: Durch grundlegendes theoretisches Wissen zunächst über die Geschichte des eigenen Landes. Da bleiben schon viele auf der Strecke. Die Stunde Null ist die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die wird als ein ziemlich homogenes Konzept verstanden.

Auf dieses Phänomen stoße ich immer wieder und zunehmend. Ich finde das spannend, mir klarzumachen, dass es hier Vorstellungen über die Bundesrepublik gibt, die völlig homogen sind. Die jungen Studierenden haben oft ein Bild der 1950er Jahre im Kopf. Bewusst ist ihnen das nicht. Die Hartnäckigkeit dieses Bildes habe ich nicht für möglich gehalten. Ich wurde eines Besseren belehrt. Aber Empirie schlägt die Konstruktion der eigenen Bilder. Spätestens seit den 1990er Jahren haben wir manches in den Curricula verankert, in einem relativ breiten Segment. Es wäre einiges möglich, aber es reicht leider einfach nicht.

Ich versuche dann bei historischen Aspekten anzusetzen, beispielsweise bei der Zerstörung der jüdischen Sozialarbeit in Deutschland, an Vorstellungen des pluralen Deutschlands. Bei der historischen Betrachtung der sozialen Arbeit wird dann oft eingeworfen: „Als Hitler an die Macht kam“. Ich sage dann jedes Mal: „Hitler kam nicht an die Macht, er wurde an die Macht gewählt und er wurde ernannt.“ Damit fängt es an. Ich versuche peu à peu die Wiederaufnahme des Pluralismus in der Bundesrepublik anzusprechen. Du hast eben die dritte und vierte Generation der sogenannten „Gastarbeitergeneration“ erwähnt. Ich erlebe immer häufiger, wirklich spannend, junge Menschen, deren Großeltern eingewandert sind, die dann sagen, ja, mein Großvater hat das mal erwähnt, aber er hat nie darüber gesprochen. Diese jungen Menschen machen sich mit diesem Erkenntnismoment dann auf die Suche als angehende Sozialpädagog:innen. Sie entdecken über die eigene Familiengeschichte die Kompetenzbereiche, die notwendig sind, damit sie adressatengerecht arbeiten können.

Norbert Reichel: Diversität wird über die Familiengeschichte entdeckt.

Meltem Kulaçatan: Das ist der Effekt, den ich beobachte. Wie nachhaltig das sich dann im Berufsleben auswirkt, ist eine andere Frage. Es sind aber junge Menschen, die auf den Arbeitsmarkt kommen, aber sich kaum Gedanken gemacht haben, wie ihre Großeltern nach Deutschland kamen, wo und wie die Eltern in die Schule gingen.

Norbert Reichel: Interessant wären auch die Familiengeschichten der Deutschen. Die Zuwanderung aus Polen im Ruhrgebiet, die Zuwanderung der Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten nach 1945. Homogen war Deutschland nach 1945 nicht, abgesehen von der dann 1949 endgültig vollzogenen Teilung von Bundesrepublik und DDR. Auch der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wird von vielen ignoriert, so als habe sich insgesamt aus der Sicht des Westens gar nichts verändert. All das wäre eigentlich eine Aufgabe des Geschichts- und Politikunterrichts in den Schulen, aber das ist eine andere Frage. Wie diversitätsbewusst sind deine deutschen Studierenden?

Meltem Kulaçatan: Das ist sehr unterschiedlich, je nach schulischer Vorprägung und Ausbildungsort und vor allem Wohnort oder Alltagserlebnis und folglich Beziehungsgestaltung. Letzteres bedeutet, dass hier Alltagskontakte ausschlaggebend sind, die quasi die Grundlage der hochdiversen Gesellschaft bilden und folglich einen selbstverständlichen Bestandteil des eigenen Alltags auf der Kontaktebene bedeuten. Ein Bewusstsein für Diversität bedeutet zunächst einmal sich darüber klar zu werden, dass die Gesellschaft, in der wir leben per se divers IST, dass Menschen divers sind – und dass hier Diversität nicht über Migration oder migrationsgesellschaftliche Verhältnisse ausschließlich sowie obsessiv in den „Tunnelblick“ genommen werden kann. Diversität besteht auch ohne Migration.

Lehr- und Fachkräfte mit Zuwanderungsgeschichte

Norbert Reichel: Wieder zurück zu den Studierenden, die eine internationale Familiengeschichte haben oder die diese in deinen Kursen entdecken. Für Lehrkräfte gibt es in mehreren Ländern Netzwerke von Lehrkräften mit Zuwanderungsgeschichte. In der Politik heißt es oft, man müsse nur mehr Migrant:innen einstellen, dann würde sich das Problem mit der sogenannten „Integration“ schon richten. Ich halte das für etwas naiv.

Meltem Kulaçatan: Vor zehn oder fünfzehn Jahren hätte ich das auch so formuliert. Mein Blick hat sich jedoch gewandelt. Ich fange mal so an. Ein Mensch mit einem sogenannten „Migrationshintergrund“ im Lehramt macht noch keinen guten Pädagogen aus, der sich in einem pluralen Setting automatisch positionieren kann. Das sind eben keine Automatismen. Andererseits gibt es so etwas wie Erfahrungswissen, ein Begriff, der vor allem in der feministischen Theoriebildung Bedeutung hat. Das bedeutet, dass Menschen, die eine Lehramtsausbildung aufnehmen und migrationsbiografische Elemente mitbringen, sich vielleicht doch besser orientieren können, nicht nur im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen, sondern auch im Umgang mit den Eltern. Das wird oft vergessen: Schule ist nicht nur Unterricht für junge Menschen, sondern auch Elternarbeit. Das muss Hand in Hand gehen.

Zum Netzwerk, das du eben nanntest: ich habe im letzten Jahr an einer Tagung teilgenommen, zu der ich eingeladen war. Ich war sehr beeindruckt von den unterschiedlichen Herkunftsgeschichten und von der Arbeit mit den Schüler:innen und den Eltern, den anstehenden Fragen, die oft auch herkunftsspezifische Fragen sind. Ein Klassiker sind die Feiertage. Oder wie geht man mit Diskriminierungsfragen bei der Suche nach einem Praktikums- oder Arbeitsplatz um? Hier können die Lehrkräfte – wenn sie gut ausgebildet sind – mit ihrem eigenen Erfahrungswissen, das sie mitbringen, gut unterstützen. Ich würde aber dringend vor einem Automatismus warnen. Die eigene Migrationsgeschichte reicht natürlich nicht aus.

Norbert Reichel: Die Einstellung mancher Politiker:innen ließe sich vielleicht so karikieren, als wären alle Herkunftsdeutschen nur weil sei Deutsch sprechen in der Lage, ein Seminar über Thomas Mann durchzuführen.

Meltem Kulaçatan: … oder einen schweizerischen oder österreichischen Dialekt zu verstehen. Ich sage meinen Studierenden immer, überlegt euch mal, ihr kommt in eine ganz andere deutschsprachige Region, geht einmal nicht davon aus, dass ihr alle versteht, nur weil ihr Deutsch kennt.

Norbert Reichel: Oberdeutsch wie Niederdeutsch. Dialekte verorten manche nur im Süden, gibt es aber auch im Norden. Diejenigen, die in den Netzwerken mitmachen, sind irgendwie doch eine privilegierte Auswahl.

Meltem Kulaçatan: Sie sind gut im Beruf angekommen, haben eine gute Ausbildung. Und sie sind alle deutsche Beamt:innen. Aber sie haben sich auch hochgearbeitet. Ich kenne einige persönlich. Wirklich gut aufgestellt ist das Netzwerk in Nordrhein-Westfalen. Darunter sind einige Menschen, die über den Zweiten Bildungsweg gekommen sind. Ich habe einen sehr hohen Respekt vor ihnen und ihrem Lebensweg.

Die Frage nach der Anwerbung für pädagogische und soziale Berufsfelder enthält jedoch auch noch eine andere Frage. Wir haben eine Schieflage an den Universitäten. Nur ein Bruchteil kommt aus sogenannten Arbeiterfamilien. Was auch immer das heißt. Das sind Familien, in denen die Eltern keine akademischen Abschlüsse besitzen. Ich habe vor Kurzem noch die Zahl gelesen, nur etwa 20 Prozent kommen aus Haushalten, in denen die Eltern nicht studiert haben. Wenn wir genauer hinschauen, stellen sich dann mehrere Fragen, zum Beispiel wer begleitet diese jungen Menschen, wer sagt ihnen, auch du kannst das studieren, für dich stehen diese Studiengänge offen, du wirst gebraucht. Dieses Selbstverständnis wird aber nicht eingeübt, und zwar in einer Alterspanne vor dem Schulabschluss, in der Schule, im Alltag. Wir brauchen – bundesweit – mehr Multiplikator:innen, die in diesen sehr sensitiven Phasen an die Schulen herantreten und gezielt auf diese Jugendlichen zugehen: „Schau mal, das kannst du auch studieren, du kannst auch Lehrerin werden, du kannst deutsche Beamtin, deutscher Beamter werden.“ Ich möchte das nicht generalisieren, aber wenn wir uns die 20 Prozent anschauen, sehen wir immer wieder die gleichen schwierigen Voraussetzungen.

Norbert Reichel: Der Lehrberuf war lange Zeit der klassische Aufstiegsberuf. Die ersten Akademiker:innen waren in vielen Familien Lehrer:innen, zunächst die jungen Männer, später auch die jungen Frauen. Inzwischen ist der Lehrberuf zumindest für jüngere Männer nicht mehr attraktiv, wohl aber für junge Frauen. Der Beruf ist inzwischen ein weitgehend weiblich geprägter Beruf, sodass es inzwischen sogar Bestrebungen gibt, junge Männer für diesen Beruf zu begeistern. In den Berufen der Sozialen Arbeit sieht es ähnlich aus. Über die Erfolgsaussichten dieser Bestrebungen möchte ich jetzt nicht spekulieren. Wie sieht das bei migrantischen Familien aus?

Meltem Kulaçatan: In migrantisch geprägten Familien ist der Lehrberuf viel besser angesehen als in herkunftsdeutschen Familien. Das Wissen einer Lehrkraft, das Unterrichten haben einen deutlich höheren Stellenwert. In herkunftsdeutschen Familien spielen jedoch die fehlenden Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten in pädagogischen und sozialen Berufen eine Rolle. Was auch immer Karriere meint. Aber dies ist gerade bei jungen herkunftsdeutschen Männern ein Grund, den Lehrberuf nicht zu wählen. In migrantischen Familien ist der Beruf noch ein wichtiger Aufstiegsberuf. Es spielt eine ganz wichtige Rolle, dass es um „unsere“ Kinder geht, es gibt auch den Wunsch, der Gesamtgesellschaft etwas zurückgeben zu wollen. Das ist eine ganz hohe Motivation, die sich bei der Nacherzählung der Biographien von jungen Menschen aus migrantischen Familien immer wieder bestätigt.

Norbert Reichel: Das hört sich nach einer guten Perspektive an.

Meltem Kulaçatan: Ja, das ist eine Perspektive. Ich bin da ganz optimistisch.

Blindheit auf dem rechten Auge

Norbert Reichel: Gibt es auch Entwicklungen, die Sorgen bereiten?

Meltem Kulaçatan: Wir haben es leider auch in der Sozialen Arbeit mit Studierenden zu tun, die rechtspopulistische Ansichten verinnerlicht haben. Deren Ansichten führen dazu, dass sie den menschenrechtlichen Charakter der Profession nicht verstehen. Das erlebe ich jetzt im zweiten Jahr mit großer Sorge. Es wird überhaupt nicht erkannt, dass solche Einstellungen mit der Ausrichtung der Sozialen Arbeit nichts zu tun haben. Wir haben allerdings sogar rechtspopulistisch eingestellte junge Menschen, die ganz gezielt in die Soziale Arbeit gehen. Das haben wir als Problemfeld noch viel zu wenig auf der Agenda.

Norbert Reichel: Früher war die Soziale Arbeit ein in der Wahrnehmung eher links besetztes Feld. Es gab ja mal in der Zeit, als es darum ging, ein Bundesgesetz für die Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen, das heutige SGB VIII, einen Brief von Franz Josef Strauß, er werde eine solche gesetzliche Regelung verhindern, weil er nicht wolle, dass diese linken Sozialarbeiter in die guten Familien gingen und die kaputtmachten. Das sieht heute kaum noch jemand so. Im Gegenteil: es wird von allen demokratischen Parteien immer wieder gefordert, wir bräuchten mehr Sozialarbeiter:innen, gerade auch in den Schulen. Kann man aber von einem Trend sprechen, dass jetzt rechtsgerichtete Sozialarbeiter:innen den Beruf nutzen, um ihre Propaganda zu platzieren?

Meltem Kulaçatan: Das weiß ich nicht. Dazu müsste ich mich noch mehr mit meinen Kolleg:innen austauschen. Ich sehe aber zwei Faktoren, die einen solchen Trend begünstigen könnten. Einmal haben wir einen Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit. Zweitens haben wir einen Mangel an männlichen Sozialarbeitern. Diese beiden Faktoren begünstigen meines Erachtens eine Blindheit auf dem rechten Auge. Die Arbeitgeber schauen viel zu wenig auf die Haltung der Bewerber. Sie können problematische Haltungen in Vorstellungsgesprächen nicht dechiffrieren. Und wenn eh schon eine Einstellung gegen Migration, gegen Diversität gegeben ist, wird diese schon gar nicht als rechtspopulistisch und menschenfeindlich eingeordnet. Wir haben ein politisches Vakuum, in Gebieten, die von starker Abwanderung geprägt sind, im eher ländlichen Raum, wo anti-diverse, anti-migrantische Einstellungen akzeptiert werden. Diese strukturelle Problematik haben wir durchaus. Ich denke, beobachten zu können, dass sich hier ein Phänomen entwickelt hat, dass eine weitere negative Entwicklung noch verstärken könnte.

Norbert Reichel: Dann könnten sich migrantische Kinder und Jugendliche vor die Alternative gestellt sehen: Anpassung oder Ausreise. Dazwischen gibt es dann nichts. Der Gedanke der „akzeptierenden Jugendarbeit“, den Franz Josef Krafeld entwickelt hatte, bekommt dann noch einmal eine ganz andere Ausrichtung. Franz Josef Krafeld hat die Kritik an seinem Ansatz aufgenommen und die „akzeptierende Jugendarbeit“ zur „gerechtigkeitsorientierten Jugendarbeit“ weiterentwickelt. Ob dies ausreicht, wäre eine weitergehende Frage. Ich befürchte, dass die aktuelle gesellschaftliche migrations- und in Teilen menschenfeindliche Stimmungslage im Gegenzug Radikalisierungsprozesse auf der migrantischen Seite befördern könnte. Dann steht die eine menschenfeindliche Position der anderen menschenfeindlichen Position gegenüber und das bleibt kein Stalemate.

Meltem Kulaçatan: Das könnte ein realistisches Szenario sein. Wir können davon ausgehen, dass rechtspopulistische Fachkräfte auch negative Einstellungen gegenüber Frauen und Mädchen und gegenüber nicht-binären Menschen haben, die sie anfeinden, abwerten oder gar ausschließen. Dieses Ausschließen kann zu Mobbingstrukturen führen, zu Gewalttätigkeiten, eben auch unter den Jugendlichen. Ich würde mir das Menschenbild bei Bewerbungsgesprächen schon einmal genauer anschauen, es ist ein sehr einseitiges Menschenbild.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2024, Internetzugriffe zuletzt am 4. April 2024. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)