Don’t panic!

Land of Hope and Glory – eine ganz schlechte Aufführung

„Hell is empty and all the devils are here.“ (William Shakespeare, The Tempest)

Die Tories haben eine neue Partei„führung“ und Großbritannien eine neue Premierministerin. Von 81.000 der 172.000 Tory Mitglieder, mehrheitlich weißen, älteren Männer, auserkoren versucht sich nun Liz Truss zumindest bis zur nächsten regulären General Election, spätestens im Januar 2025 ohne Mandat der Wahlberechtigten aus den 650 Wahlkreisen als Chefin im noch Vereinigten Königreich. Die Performance der Regierenden wirkt wenig beruhigend: die Furcht der Bevölkerung und die Warnung der Expert*innen vor einem sozialen und ökonomischen Gau angesichts hoher Energiepreise, absoluter Wasserknappheit, Pandemie und instabiler wirtschaftlicher und sozialer Versorgungslage drang nicht bis auf die Bühnen des Tory internen Wahlkampfes vor kleinem Publikum.

Politisch geschah – nichts, um wenigstens Vorbereitungen dafür zu treffen, den GAU zu verhindern. Großbritannien schlingerte und schlingert ohne merkliche Regierungstätigkeit immer weiter auf ein Desaster riesigen Ausmaßes zu.

Die große Show

„Don’t panic, don’t panic“, ruft der schreckhafte Lance Corporal Jack Jones zu passenden und unpassenden Gelegenheiten in der britischen Fernsehserie „Dad’s Army“, die zwischen 1968 und 1977 in 80 Folgen und über neun Staffeln verteilt zum Familienprogramm gehörte: Im fiktiven südenglischen Städtchen Wilmington-on-Sea warten ein halbes Dutzend mehr oder eher weniger wehrtüchtiger zur British Homeguard rekrutierten Herren jeden Alters während des Zeiten Weltkriegs auf die Invasion der Deutschen, zu Lande, zu Wasser oder aus der Luft. Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Beunruhigend wie frustrierend: der Feind kommt nicht. Die Herren um den von sich so sehr überzeugten Cpt George Mainwaring (Arthur Lowe) exerzieren völlig sinnfrei und räumen mit beeindruckender Inkompetenz ständig dem selbstproduzierten Chaos hinterher.

Das politische Gerangel bei den Tories um die Macht in der Partei – und fast neben bei um nichts weniger als die Führung des noch United Kingdoms – erinnerte an die Konkurrenzkämpfe bei der Homeguard von Wilmington-on-Sea. Statt gegen eine deutsche Invasion muss das Land nun gegen Inflation, Pandemie, die Folgen des Brexits und das wie immer unverständige europäische Festland verteidigt werden, nach Lesart einiger führender Tories ohnehin die Wurzel allen Übels, dem das Archipel in der Nordsee ausgesetzt ist.

Allerdings kommen die aktuellen Darstellenden mit ihren schauspielerischen Leistungen nicht annähernd auf das Niveau von Arthur Lowe und seinen Kollegen. Niemand nimmt Liz Truss die Rolle der Eisernen Lady ab, niemand Rishi Sunak den netten Underdog mit Selfmade-Karriere. Rishi Sunak ist sein politisches Machtkalkül grade um die Ohren geflogen, er steht in der Partei da als Verräter, der Boris Johnson stürzte. Mal sehen, wo er als nächstes seine Pfründe zu sichern versucht.

Liz Truss, von der Remain-Befürworterin in Rekordzeit zur Brexiteer mutiert als es der Karriere förderlich war, kalkulierte und kalkuliert eiskalt die Chancen für den eigenen Aufstieg. Dabei scheint es kaum von Interesse zu sein, dass der eigentliche Sinn von politischem Handeln nicht in der persönlichen Bereicherung, sondern im Streben um das Wohl eines Staates und seiner Einwohner*innen besteht. Der premierministernde Mr Johnson hat vorgemacht, wie einzig und allein Narzissmus und absolute Skrupellosigkeit ausreichen, um in Number 10 einzuziehen. Das Wohl des Landes? Eine drohende wirtschaftliche Krise von gewaltigem Ausmaß, die längst auch den sogenannten Mittelstand existentiell bedroht? Alles nur Kulisse für die große Personality Show: Ignorieren aller möglicher sozioökonomischen Folgen bei gleichzeitiger Überzeugung von der eigenen Großartigkeit.

Can you hear me Major Truss?

Liz Truss, da kommt nichts Gutes auf das ohnehin schon völlig ausgedörrte und wortwörtlich an den Rändern in die See bröckelnde Archipel zu fürchten Leitmedien wie der New Statesman und der Guardian. Truss, Garant*in für die Fortsetzung der Radikalisierung, des Rassismus, der Diskriminierung und der Ausdünnung des Sozialsystems im Sinne der Kräfte um die ultrarechten Think Tanks und Seilschaften.

Weiß Liz Truss eigentlich, was sie tut und was im Land vor sich geht oder lebt sie in einer Paralellwelt? Marina Hyde hat es am 26. August 2022 im Guardian unter der Überschrift „Ground Control to Major Truss“ bitter so formuliert: Liz Truss leugne und verdränge die aktuelle brenzlige Situation wie ein schmächtiger Schiffsjunge, der auf der sinkenden Titanic Dienst tut und „den Sturm auf die Rettungsboote als Beweis für den Erfolg der von der Reederei angebotenen Landexkursionen“ erklärt.

Ganz schlechtes Theater. Andrew Marr vom New Statesman wählt am 31. August die Überschrift A Liz Truss government means the return of the UK’s radical right wing“. Er sieht die Insel vor einem politischen Paradox: eine Regierung ohne Mandat aus einer General Election, die jetzt das, was immer sie für das Steuer hält, in die Hand nimmt. Sie ignoriert die Mehrzahl der Bevölkerung, die eine echte Wahl wollen. Die Bevölkerung – alles nur Statist*innen?

Bei einer neuen Wahl hätte Labour, zwar derzeit auch nicht gerade mit scharfen Profil und überzeugenden Konzepten unterwegs, die Nase vorne. Kaum anzunehmen, dass die Tories unter diesen Umständen eine General Election vor der Zeit ausrufen werden.

Es brennt auf allen Ebenen im ausgedörrten Land

Unterdessen steht zu befürchten, dass Liz Truss und ihre Getreuen keine schnellen und nachhaltigen Maßnahmen zu der drohenden Omnikrise finden geschweige denn zur Anwendung bringen werden. Es fällt, mit britischem Understatement formuliert, schwer zu glauben, dass diese neue Regierung auch nur ansatzweise ein vollständiges Bild dessen, was die Insel in den nächsten Monaten erwartet, vor Augen hat. Es brennt auf allen Ebenen. Und es ist keine Zeit mehr für lautes Geschrei und effekthascherischen Wettbewerb der schlechten Stand Up Comedians, die sich für Politiker*innen halten.

Die angekündigten Steuersenkungen werden denen, die durch die erwartete etwa 80%ige Erhöhung der Energiekosten und eine Inflation von vorausgesagten 18-20% um ihre Existenz gebracht werden, wenig helfen. Eine Energiepreisbremse liegt auf der Hand.

Boris Johnson setzt auf Atomkraft, hat den Bau neuer Atomkraftwerke angekündigt und besuchte als einer seiner letzten Amtshandlungen folgerichtig die seit Jahrzehnten umstrittene Anlage Sizewell in Suffolk. Großbritannien verfügt dabei durchaus über erhebliche Ressourcen an erneuerbarer Energie.

Und auch da geht kein Weiterso. Der ungewöhnlich trockene Sommer hat selbst Großbritannien, von Rudyard Kipling wegen seiner guten geographischen und metereologischen Lage angesichts der üppigen Flora gerade in Südengland als Garten Eden bezeichnet, in die Dürre getrieben. Nicht nur, weil der Regen fehlte, sondern auch, weil seit der Privatisierung der Wasserwirtschaft durch Margaret Thatcher die Ressourcen zu kommerziellen Zwecken konsequent rigoros ausgebeutet wurden.

Die gelinde gesagt fahrlässige Nachlässigkeit mit Umweltressourcen bzw. deren Folgen hat es in den letzten Wochen mit Bildern von fäkalienbeschmutzten Stränden in alle Gazetten gebracht. Privatisiert ruhig weiter ehemals staatlich geführte Betriebe. Auch Müll spült Geld in die Kassen.

Die Insel hat sich politisch und wirtschaftlich einigermaßen isoliert, aber die Dringlichkeit der Themen wie z.B.  Energie, Klima, nachhaltiges Wirtschaften, soziale Sicherung und Bildung, nicht zuletzt die durch den Krieg in der Ukraine sichtbar gewordene totale Verschiebung und Auflösung geopolitischer „Gewissheiten“ machen nicht an den Küsten Englands, Schottlands Wales und Irlands halt. Der Blick in den historischen Tunnel, an dessen Ende das Licht des Empires längst ausgeknipst ist, hilft bei der Wegeplanung aus der Krise hinaus überhaupt nicht.

Es steht nur zu befürchten, dass eine Regierung Truss alle Vorschläge, die von europäischer Seite zur gemeinsamen Lösung an „London“ herangebracht werden, ablehnt, ignoriert oder als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Großbritanniens definiert, weil sie von der anderen Seite des Kanals kommen.

… und Boris liest Shakespeare

Der ehemals premierministernde Mr Johnson hat sich derweil nach Beendigung seiner Hochzeitsfeierlichkeiten eine neue Aufgabe gesucht. Es heißt, er schreibe ein Buch über William Shakespeare. Über Winston Churchill hat er ja schon geschrieben.

Ausgerechnet Shakespeare. Der große Theatermensch Peter Brook sieht in Shakespeare den einzigartigen Menschenkenner, der alle Nuancen menschlicher Fähigkeiten und Schwächen mit großer Hingabe beobachtet und benannt hat, mit einer Wort- und Analysekraft, die auch nach Jahrhunderten Gültigkeit und Strahlkraft hat.

Zweifelsohne sind Shakespeares Stücke und die darin handelnden Figuren nach wie vor schlüssig und gültig, wenn es darum geht, Krisen und den Zusammenbruch von Wertvorstellungen und Weltbildern und die Torheit und Hybris von Regierenden verstehen zu wollen. Theater, das war zu Shakespeares Zeiten authentische Darstellung von Leben und Zeitläuften. Da wurde mit Herzblut und allen Kräften auf die Bühne gebracht, was die Menschen in der Zeitenwende vor 400 Jahren umtrieb. Über Shakespeares Verständnis von Theater schreib Peter Brook schon im Jahr 1996 in „The Empty Space“: „Drama, Schauspielen, das war ein sich Aussetzen, Konfrontation, es enthielt Widerspruch und führte zu Analyse, Involviertheit und Erkenntnis, um dann schließlich wach zu machen und zu Verständnis und verstehen zu führen.“ Ein Orkan zieht auf über dem Archipel, der Sturm wird auch den Kontinent nicht ungeschoren lassen. „Im Januar werden wir nicht mehr funktionsfähig sein – gerade rechtzeitig, um unseren Oligarchen-Faschisten die heimliche Einführung von „Freihäfen“ oder „Charter Cities“ zu ermöglichen,“ prognostiziert A.L. Kennedy am 6. September 2022 in ihrem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung.

Annette Dittert zeichnet in ihrem Essay für die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ im September 2022 ein ähnlich düsteres Bild: „Der für einen kurzen Moment möglich scheinende Selbstreinigungsprozess der Partei ist damit längst verspielt. Und das in einer Situation, in der die Insel im Herbst in eine Wirtschaftskrise schlittern wird, neben der die deutschen Ängste vor höheren Energiepreisen wie müde Luxusprobleme wirken. Eine Krise, die ganz wesentlich auf das Konto der seit zwölf Jahren regierenden Tory-Partei geht und die Liz Truss sogar noch auf die Spitze treiben dürfte, wenn sie bei ihren jetzigen Ankündigungen bleibt, die vor allem weitere Steuererleichterungen für Besserverdienende versprechen.“ Und für diese Steuererleichterungen sollen sogar neue Schulden aufgenommen werden!

Bislang konnte man davon ausgehen, dass sich die Menschen auf der Insel eher in eine Schlange stellen, höchstens leise murrend eine Tasse Tee aufbrühen. Öffentlicher Protest ist eher unbritisch. Noch. Liz Truss, die neue Margaret Thatcher? Man denke an die endlosen Streiks, die erbitterten Aufstände in den Kohlegebieten im Norden des Landes, an die nach gewaltsamen Demonstrationen gegen die Poll Tax zerstörten und geplünderten Geschäfte auf der Charing Cross Road in London. Ein Sturm zieht auf: „Hell is empty all devils are here.“

Beate Blatz, Köln

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2022, Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin, alle Internetzugriffe zuletzt am 7. September 2022, Rechte der Fotos bei der Autorin.)