Drehbuch zur Demontage der Demokratie

Ficos Verfassungscoup in der Slowakei im September 2025

Das slowakische Parlament hat mit den erforderlichen 90 Stimmen eine Novelle zur Verfassungsänderung verabschiedet. Was so nüchtern und fast langweilig klingt, könnte weitreichende Folgen haben, für die Slowakei selbst und für ganz Europa. Vor allem zeigt der Prozess, der zu diesem knappen, aber ausreichenden und für die meisten Beobachter überraschenden Ergebnis geführt hat, einen gefährlichen Mechanismus: Den gezielten Missbrauch des Themas „Gender“ im politischen Machtkampf.

Das Thema „Gender“ ist der Köder – gemeint ist Europa

Die Novelle, um die es geht, enthält verschiedene Formulierungen: Zentral ist der neue Verfassungsartikel, der festlegt, dass in der Slowakei nur zwei Geschlechter anerkannt werden: Mann und Frau. Weitere Regelungen betreffen die Möglichkeit der Adoption (nur verheiratete Paare dürfen adoptieren, damit sind homosexuelle Paare ausgeschlossen, denn in der slowakischen Verfassung steht bereits seit Jahren, dass eine Ehe nur aus Mann und Frau bestehen könne), ein Verbot von Leihmutterschaft und größere Mitsprache der Eltern in Bildungsfragen. Außerdem hat die sozialdemokratische Partei Hlas, Teil der Regierungskoalition, die Formulierung durchgesetzt, dass Männer und Frauen im Erwerbsleben gleich bezahlt werden müssen. Darüber hinaus ist nun festgelegt, dass die slowakische Verfassung in „kulturell-ethischen“ Fragen Vorrang vor internationalen Verträgen und internationalem Recht habe.

Eine Abstimmung der Novelle war bereits für Juni 2025 angekündigt, wurde aber kurzfristig abgesagt, weil nicht genügend Stimmen gesichert waren. Über den Sommer wurde heftig diskutiert, aber eine Annahme des Entwurfes erschien nicht wahrscheinlicher. Verschiedene Gutachten stellten die Rechtmäßigkeit insbesondere des Verfassungsvorranges in Frage, was die Regierung jedoch einfach ignorierte bzw. ausdrücklich bestritt. Ende September wurde eine erneute Abstimmung angesetzt – sehr passend, um von den für die Regierung äußerst unangenehmen Debatten über einen hochproblematischen Haushaltsentwurf abzulenken. Nun stand der 25. September, 17 Uhr auf dem Programm, bis Premierminister Robert Fico die Sache erneut kurzfristig verschob: Auf den nächsten Tag: 11 Uhr. Das Ergebnis war unerwartet. Der Entwurf erhielt 90 Stimmen, die Verfassung war geändert. Wenige Tage später unterzeichnete der Präsident Peter Pellegrini das Gesetz.

Man kann es nur als bemerkenswert bezeichnen, mit welchem politischen Geschick und welcher machiavellistischen Skrupellosigkeit Robert Fico diese Änderungen durchgebracht und damit die gesamte politische Landschaft des Landes verändert hat – zu seinen Gunsten und mit aktuell noch unabsehbaren Folgen. Diese Folgen sind vereinfacht auf vier (miteinander verwobenen) Ebenen zu erwarten: Eine systematische Diskriminierung von Menschen aus der LGBTQ-Gemeinschaft, eine radikale Schwächung der Opposition, ein Freifahrtschein für weitere antidemokratische Maßnahmen der Regierung und eine noch stärkere Abwendung von der EU.

Alles begann mit einer Rede, die Fico im Juli 2024 auf der Burg Devín bei Bratislava hielt, wenige Wochen nach dem auf ihn verübten Attentat. In diesem ersten Auftritt nach seinem Krankenhausaufenthalt, spektakulär inszeniert, versprach Fico dem ausgewählten und ihm wohlgestimmten Publikum, eine „Barriere gegen den Progressivismus“ zu errichten und „verrückte Ideologien“ aus Brüssel konsequent abzuwehren. Damit wurde die schon länger betriebene Hetze gegen die LGBTQ- Gemeinschaft, insbesondere gegen non-binäre und Trans-Menschen, auf eine systematische Ebene gehoben. Fico selbst, vor allem aber seine Smer-Parteifreunde Ľuboš Blaha und Erik Kaliňák, dieser eine Art Posterboy slowakischer toxischer Maskulinität, machen sich regelmäßig in kurzen Anspielungen oder ausführlichen Tiraden über „76 Geschlechter“ und Menschen lustig, die angeblich morgens aufwachen und sich plötzlich als Katze oder Hubschrauber identifizieren. Auf diese Weise sprechen sie nicht nur einer Bevölkerungsgruppe die Würde ab; es wird auch jede ernsthafte politische Debatte über das Thema unmöglich gemacht, LGBTQ wird zu einem Klischee und zur Chiffre für vermeintlich völlig absurde Gleichstellungsmaßnahmen in „Brüssel“ und im „Westen“.

Im Januar 2025 dann trat Fico erneut mit diesem Thema vor die Kameras. Er wolle sein Versprechen vom Devín einhalten und nun die Verfassung entsprechend ändern. Letztlich ginge es um Werte, um Familie und um die Nation, die geschützt werden müsse – erneut vor „Brüssel“ und dem „Progressivismus“.

Christdemokratie in der Falle

Es war lange fraglich, ob die erforderlichen drei Fünftel des Nationalrates (also 90 Stimmen) zusammenkommen würden. Die Koalition verfügt nur über 76 Stimmen. Von Beginn an warb Robert Fico deshalb insbesondere bei den Christdemokraten (KDH) um Zustimmung; eine ideologische Nähe zum Thema schien gegeben. Für die KDH ergab sich so ein gefährliches Dilemma. Auf der einen Seite hatte die konservative Partei tatsächlich seit Langem, oft in Kooperation mit Vertretern der katholischen Kirche, für eine Stärkung der traditionellen Familie geworben und dies mit einer Entrechtung queerer Menschen verknüpft. Die Festlegung von nur zwei Geschlechtern war also einem Großteil der Partei und ihrer Wählerschaft durchaus willkommen, insbesondere als die KDH außerdem noch ihre Vorstellungen zum Adoptionsrecht, das Verbot von Leihmutterschaft und ihre Bedenken hinsichtlich des schulischen Sexualkundeunterrichts in den Entwurf einbringen konnte. Auf der anderen Seite aber hatte Fico den Christdemokraten schon länger den Kampf angesagt. Ganz unverblümt hatte er angekündigt, die Partei – auch und gerade durch die Nutzung des Gender-Themas – „auszunehmen“.

Über Monate wurde gewarnt und debattiert: Sollte die KDH mit Fico zusammenarbeiten und in seine Falle laufen? War es überhaupt eine Falle oder vielmehr eine Gelegenheit, die eigenen Werte durchzusetzen? Der Versuch, das Dilemma zu umgehen, gegen den Regierungsvorschlag zu stimmen und später einen eigenen, gleichlautenden Entwurf einzubringen, scheiterte absehbar. Als Fico die Abstimmung Ende September ankündigte, machte er nochmals klar, dass er solche Tricks nicht dulden würde: Dies sei der letzte Versuch, und bei einem Scheitern würde er für den Rest der Legislaturperiode keinerlei entsprechenden Entwürfe mehr akzeptieren. Für die KDH war dies also die letzte Chance. Neun von elf Abgeordneten ergriffen sie und unterstützten so das Vorhaben der Smer-Partei.

Welche Auswirkungen dies auf die KDH selbst haben wird, ist noch nicht abzusehen. Die Reaktion der Wählerschaft ist ebenso unklar wie die Frage, wie sich die Partei zu den beiden Abgeordneten verhalten wird, die gegen die Novelle gestimmt haben – insbesondere, als einer der beiden, František Mikloško, zu den wichtigsten antikommunistischen Dissidenten zählte und bis heute sehr prominent und beliebt ist. Es ist zu befürchten, dass die Slowakei in Zukunft keine wirklich starke konservative Partei mehr haben wird.

Geschwächte Opposition

Klar ist: Die Opposition ist zutiefst geschwächt. Bislang hatten die Christdemokraten trotz einiger ideologischer Konflikte mit der liberalen Partei Progressive Slowakei (PS) zusammengearbeitet. Eine solche Kooperation ist bis auf Weiteres nicht mehr vorstellbar. Ähnliches gilt für die Partei Bewegung Slowakei des ehemaligen Premierministers Igor Matovič. Diese Partei galt ohnehin als schwierig, Matovič hat sich schon mehrfach als unberechenbar erwiesen. Nun aber hatte die Bewegung Slowakei eigentlich gegen die Novelle stimmen sollen. Offenbar im letzten Moment, in der Nacht, die Fico durch das Verschieben des Abstimmungstermins gewonnen hatte, entschieden sich zwei Abgeordnete anders. Was genau in dieser Nacht geschah, ist bislang unklar. Diskutiert wird über Telefonanrufe durch Kirchenvertreter, Fico selbst deutete nur an, alle Hebel in Bewegung gesetzt zu haben. Ob und wann der Parteiführer Matovič von den Pro-Stimmen wusste, ist ebenfalls unklar. Sowohl die KDH als auch Bewegung Slowakei fallen also möglicherweise als Verbündete bei Protesten aus, ganz sicher aber als Koalitionspartner für eine künftige Regierung. Die PS führt in Umfragen seit vielen Monaten. Im Falle einer Neuwahl (die angesichts der fragilen Regierungskoalition stets möglich ist) hätte sie gute Chancen auf den Sieg, bräuchte für die Regierungsbildung aber eine Koalition. Diese ist nun kaum mehr vorstellbar.

Fico hat also drei Parteien geschwächt und die Einheit der Opposition zumindest bis auf Weiteres zerstört. Bisher hatte es zwei entscheidende Trennlinien in der slowakischen Parteienlandschaft gegeben, entlang derer sich Partner und Gegner gruppierten. Eine dieser Linien hieß „Fico“, und die Gretchenfrage lautete, wie man zum Regierungschef und seinen autokratischen Ambitionen stand. Die andere Linie hieß „Europa“: Während die beiden Koalitionsparteien Smer und SNS klar prorussisch sind (und die dritte Regierungspartei Hlas bei diesem Thema unglücklich laviert), waren die demokratischen Oppositionsparteien klar auf der Seite der EU. Beide Linien haben nun ihre Bedeutung verloren, und die KDH hat einem anderen Thema den Vorrang eingeräumt: Gender.

Es lohnt sich, dies nochmals klar zu formulieren: Die Festlegung von nur zwei Geschlechtern in der Verfassung war einer konservativen christdemokratischen Partei wichtiger als die Sicherung von Demokratie und europäischer Integration.

Abkehr von Europa?

Ein weiteres großes, in seiner Dramatik noch nicht abzuschätzendes Problem ergibt sich durch die fundamental antieuropäische Bedeutung der Verfassungsänderung. Die Festlegung nur zweier Geschlechter selbst könnte bereits als Verstoß gegen europäische Regelungen gewertet werden. Entscheidend ist aber der sehr grundsätzliche Verfassungsvorrang: In der Verfassung steht nun, dass nationales Recht in „kulturell-ethischen Fragen“ und insbesondere Fragen der nationalen Identität sich nicht nach Vorgaben der EU richten müsse. Diese Regel steht an sich, wie beispielsweise die Venedig-Kommission feststellte, potentiell in Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen des Landes. Dies jedoch ist aus Ficos Sicht kein Problem, sondern vielmehr ein Vorteil.

Ficos gesamte Politik dreht sich um die Vorstellung, die slowakische Souveränität, nationale Identität, Wirtschaft seien durch europäische Regelungen bedroht. Die neue Regelung bestätigt diese antieuropäische Politik und bereitet den Boden für ihre Radikalisierung. Denn der Vorrang ist nicht nur sehr grundsätzlich formuliert, sondern auch sehr vage. Die explizit beispielhafte Aufzählung von Fragen wie „Lebensschutz“ (als Chiffre für ein mögliches Verbot von Abtreibungen), Familie, Ehe, Elternschaft, öffentlicher Moral, Kultur und Sprache, Gesundheitswesen, Wissenschaft und Bildung öffnet alle Türen. Es ist kaum ein Thema vorstellbar, das nicht mit ein bisschen Rhetorik so zurechtgedreht werden könnte, dass es in diese sehr vage, sehr offene Aufzählung fällt und damit von europäischem Recht ausgenommen ist. Wer definiert, was alles zu den „kulturell-ethischen“ Fragen zählt? Ein solch unbestimmter Rechtsbegriff ist in Zukunft jederzeit nach dem Willen der jeweils regierenden Personen und Parteien auslegbar.

Und tatsächlich erklärte Robert Fico nur wenige Stunden nach der Abstimmung, die weitere Einfuhr russischen Öls sei eine existenzielle Frage für das Lebensinteresse der Slowakei. Er treibt damit seine Politik der Nähe zu Russland als „souveräne Außenpolitik“ weiter. Jedes Interesse Robert Ficos, sei es die weitere Unterdrückung der Zivilgesellschaft, die Beschränkung der Versammlungsfreiheit, der Kampf gegen kritische Medien, kann nun als Frage der nationalen Identität beschrieben werden, und Widerspruch aus europäischer Perspektive wird diese Rhetorik nur bestärken – seht ihr, Brüssel will unsere Selbständigkeit zerstören.

Ob ein SlovExit realistisch ist oder nicht, ist umstritten; die Abhängigkeit der Slowakei von den wirtschaftlichen und finanziellen Strukturen des europäischen Marktes spricht eher dagegen. Dennoch ist die antieuropäische Politik der gegenwärtigen Regierung unübersehbar. Die Ziele sind vielfältig: Es geht um eine Polarisierung der Gesellschaft, um die Schwächung europäischer Strukturen und demokratieschützender Mechanismen, um die Nähe der Regierungsparteien zu Russland und das Interesse an einer Kooperation mit Moskau, Peking, Belgrad und anderen autokratischen Regimen. Über all dem steht das Ziel Ficos, die eigene Macht auszuweiten und so lange wie möglich zu erhalten. Fico laviert und hält sich verschiedene Wege offen. Mit der Verfassungsänderung hat er einen weiteren antieuropäischen Weg vorbereitet. Wo dieser hinführen wird, ist noch unklar.

Aus Beschimpfungen queerer Menschen ist eine Entscheidung erwachsen, die das Land in seinen Grundfesten ändert und bedroht. Das ist kein Zufall und keine Ausnahme. Populistische Kritik an der vermeintlichen „Genderideologie“ bildet ein Einfallstor für antidemokratische Politik, allzu häufig leider in einer Allianz konservativer und extremistischer Kräfte. Die Antigender-Bewegung in Europa und den USA ist seit Jahren stark, extreme und populistische Bewegungen nutzen das Thema als „ideologischen Kitt“, mit dem sie andere Konflikte überbrücken können.

Es ist auch kein Zufall, dass Fico im Frühjahr in Budapest, als er auf der rechtskonservativen Konferenz CPAC sprach, seine geplante Verfassungsänderung ankündigte – und an dieser Stelle erstmals Applaus erhielt. Fico versteht sich als Linker und trat in Budapest mit Viktor Orbán, Alice Weidel, Herbert Kickl, Andrej Babiš und anderen rechtspopulistischen bis rechtsextremen Persönlichkeiten auf. Er hielt eine Art Bewerbungsrede, die sich besonders auf Hetze gegen Brüssel und auf das Thema Gender verließ, mit großem Erfolg.

Und auch innenpolitisch gelang es ihm, Konservative anzusprechen und sie auf seine Seite zu ziehen. Probleme der Staatsfinanzen, des Gesundheitssystems, der Bildung, die Abwanderung insbesondere junger Menschen, drängende sicherheitspolitische Fragen und Korruption, von der Klimakatastrophe ganz zu schweigen – alles verlor an Bedeutung angesichts der Idee, die Existenz von trans Menschen könne die traditionelle Familie und letztlich eine ganze Nation bedrohen. Indem Fico das Thema Gender (das ihn im Grunde gar nicht interessiert) zu einem zentralen politischen Topos gemacht und als existenzielle Bedrohung inszeniert hat, gelang ihm ein ungewöhnlicher politischer Coup.

Es wäre zu wünschen, dass dieser Vorgang zu einem warnenden Beispiel wird. Zu befürchten ist allerdings eher, dass es sich um ein Drehbuch handelt, dem andere antidemokratische Parteien folgen werden: ein Drehbuch zur Demontage der Demokratie mit einem zur Existenzfrage hochgepuschten Thema.

Martina Winkler, Universität Kiel

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung Anfang Oktober 2025, Internetzugriffe zuletzt am 4. Oktober 2025, Titelbild: Demonstration in Bratislava gegen die Regierung, Foto: Michal Hvorecky.)