Ein Lehrstück des Wissensmanagements
Debatten in Zeiten der Corona-Krise – Teil I
„Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“ (WHO-Definition von Gesundheit, deutsche Übersetzung: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“)
Aus dem Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation ließen sich nicht nur Maßnahmen zum Infektionsschutz, sondern auch Programme für die soziale Weiterentwicklung einer Gesellschaft ableiten. Physisches und soziales Wohlergehen könnten geistige und seelische Gesundheit fördern, im Gleichgewicht. Ob dieses Gleichgewicht in der Corona-Krise des Jahres 2020 immer bedacht wurde und wird, ist Gegenstand zahlreicher Aufsätze, Essays, Stellungnahmen und wird in Zeitungen und Fachzeitschriften offen und kontrovers debattiert. Allerdings haben diese Debatten mitunter eine Schärfe erreicht, dass man*frau den Eindruck haben könnte, als stünden sich – die folgende Metapher hat Konjunktur – verfeindete Völkerstämme unversöhnlich auf dem gesellschaftlich-politischen Schlachtfeld gegenüber. Während die einen den Ernst der Lage betonen und diverse Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens mit dem Ziel der Verhinderung weiterer Erkrankungen verlangen und umsetzen, wehren sich andere gegen eben diese Einschränkungen mit dem Argument, sie wären übertrieben oder gar nicht erforderlich.
Die Vielfalt der wissenschaftlichen Disziplinen
Wissenschaft dient nicht nur sich selbst, sondern auch der Vorbereitung und Analyse politischer Entscheidungen. Aufgabe von Politiker*innen ist es, über Für und Wider möglicher Maßnahmen zu entscheiden. Zurzeit dominiert eine wissenschaftliche Sparte, die eigentlich als Teildisziplin betrachtet werden müsste, die Virologie. Es gibt in der Politikberatung Gremien, die mehr als diese eine Teildisziplin in sich vereinigen, wie beispielsweise den Deutschen Ethikrat und die Leopoldina, doch scheint auch bei diesen eine einzige Teildisziplin zu dominieren. Diese Dominanz, dieser Tunnelblick ist Teil des gesamten Problems, sodass manche schon glauben möchten, das Grundgesetz wäre durch das Infektionsschutzgesetz außer Kraft gesetzt und die Definition der WHO für Gesundheit beschränke sich auf das „physical well-being“.
Einen umfassenden Überblick über die wissenschaftlichen Disziplinen, die zurzeit nur im Hintergrund Aufmerksamkeit zu finden scheinen, bietet der transcript-Verlag. Er hat im Spätsommer 2020 zwei lesenswerte Sammelbände veröffentlicht. Michael Volkmer und Karin Werner haben den Band „Die Corona-Gesellschaft“ (Untertitel: „Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft“) herausgegeben, Bernd Kortmann und Günther G. Schulze den Band „Jenseits von Corona“ (Untertitel: „Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft“).
- Der Band „Die Corona-Gesellschaft“ enthält einschließlich Vorwort 40 Essays, an denen sich 25 Männer und 20 Frauen aus diversen deutschen und österreichischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, Stiftungen und Verlagen beteiligten. Ihre Disziplinen umfassen fast das gesamte Spektrum der Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Philosophie und Psychologie haben ebenso ihren Platz wie verschiedene Kulturwissenschaften.
- Der Band „Jenseits von Corona“ enthält einschließlich Vor- und Nachwort 31 Essays, geschrieben von 21 Männern und 13 Frauen, ebenfalls vorwiegend geistes- und sozialwissenschaftlich orientiert, darunter auch Vertreter*innen der Theologie, der Psychiatrie, der Literaturwissenschaften. Dieser Band hat ein Titelbild, das die öffentliche Debatte anschaulich illustriert.
Ein Autor ist in beiden Bänden vertreten. Der Band „Jenseits von Corona“ präsentiert ein die öffentliche Debatte anschaulich illustrierendes Titelbild. Eine dem Virus nachgebildete Kugel pendelt von der linken Bildseite kommend in Richtung von vier anderen Kugeln, sodass jede*r Leser*in sofort erkennt: das Pendel wird auch bald zur anderen Seite ausschlagen. Es ließe sich spekulieren, ob sich aus dem Pendel eine Art Perpetuum Mobile ergibt, sodass immer wieder neue, in ihrer Intensität gleichwertige Phasen der viralen Infektion, von Warnung und Entwarnung entstehen, oder ob sich die Pendelbewegungen irgendwann erschöpfen, sodass alles wieder in den ursprünglichen Ruhezustand zurückkehrt.
Mehr oder weniger regelmäßig veröffentlicht die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrer Reihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ Essays zur Pandemie, beispielsweise zum Mindestlohn und zum Parlamentarismus in den beiden Ausgaben des September 2020, zum Rassismus gegen Asiat*innen in der ersten Oktoberausgabe 2020, to be continued. Im August 2020 erschien eine Ausgabe mit dem Titel „Corona-Krise“. In der Zeitschrift äußern sich Jurist*innen, Bildungs-, Sozial- und Politikwissenschaftler*innen und Historiker*innen.
Die Zusammenstellung von Texten ersetzt kein Seminar. Der Austausch von Positionen, Rede und Gegenrede lassen sich bei der Lektüre der Beiträge nicht erleben. Möglicherweise trägt die Arbeit von Rezensent*innen dazu bei, einen solchen Austausch im Kreise der Leser*innen zu eröffnen, möglicherweise gelingt es, eine solche Debatte in die gängigen Medien hineinzutragen, die zurzeit im Wesentlichen gelegentlich auf die ein oder andere neu erschienene Studie, in der Regel auf Zwischenergebnisse beschränkt, die dann nach wenigen Tagen wieder an Aufmerksamkeit verliert. Wir brauchen jedoch grundsätzliche, interdisziplinäre, partizipative Debatten, Material gibt es in Hülle und Fülle, dies belegen zahlreiche Studien verschiedener Disziplinen, die inzwischen auch in diversen Medien vorgestellt und kommentiert werden. Letztlich bieten die diversen Veröffentlichungen zur Corona-Pandemie im Zusammenhang ein Lehrstück des Wissensmanagements.
Risiken der Komplexität – die Verantwortung der Politik
Gerd Folkers formuliert die Aufgabe in „Jenseits von Corona“ unter dem Titel „Beseitigung des Zweifels“: „Die Zahlenbasiertheit der Entscheidungen hat der Bewältigung der Krise, soweit, hervorragende Dienste geleistet. Jetzt gilt es, unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was genau die Zahlen benennen und wo Zweifel an der Zuordnung angebracht ist.“ Eva von Contzen und Julika Griem im selben Band: „Als Politikberatung ist Wissenschaftsberatung auf Vereinfachung angewiesen. Aber wir lernen gerade in einem Intensivkurs, wo auf Komplexität beharrt und diese erklärt werden muss.“ In diesen kurzen Sätzen wurde der entscheidende Gedanke zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik formuliert. Es ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, politische Entscheidungen zu treffen. Wissenschaft präsentiert immer nur Unvollständiges, Vorläufiges, Widerlegbares, das Rezipient*innen wissenschaftlicher Ergebnisse in größere Zusammenhänge einordnen, in Beziehung zu anderen, gegebenenfalls auch widerläufigen Ergebnissen bringen müssen.
Wissenschaftliche Konsense – wie beispielsweise über die Auswirkungen von Klimakrise und Rückgang der Biodiversität – sind davon unbenommen, aber die Tragweite der einzelnen daraus folgenden politischen Entscheidungen, Wirkungen und Nebenwirkungen, Kollateralnutzen – auch diesen gibt es, beispielsweise in der Corona-Krise der Rückgang von anderen Infektionskrankheiten, die Rückkehr bedrohter Tierarten an verlassene Strände – und Kollateralschäden müssen bei der Vorbereitung politischer Entscheidungen bedacht werden. Wirkungen haben in der Regel nicht nur eine Ursache, es gibt viele Ursachen, Wirkungen sind – dies ist der Fachbegriff – nur „multifaktoriell“ erklärbar. Es ist ein großes Verdienst, der beiden Bände des transcript-Verlages, für die Interdisziplinarität zu werben, mit der allein eine „multifaktorielle“ Analyse möglich wird.
Evelyn Moser vermutet in der Corona-Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ einen „Rückzug des Politischen“. „Mit Verweis auf Fremdexpertise griff die Politik umfassend in die Gesellschaft ein, anstatt einer sachlichen Begrenzung erfolgte lediglich eine Begrenzung in der Zeitdimension, etwa durch die Bezugnahme auf das Infektionsschutzgesetz und den Ausnahmecharakter der Lage:“ Der Wissenschaft wird eine in der öffentlichen Debatte um Corona eine Aufgabe zugewiesen, die sie nicht hat und auch nicht erfüllen kann.
Wenn eine komplexe Debatte über „Zweifel“ und „Risiken“, das Verhältnis von Ursachen und Wirkungen – beides im Plural zu formulieren erfolgen soll, müsste die nächste Frage lauten: Wer erhält Gehör? Wer hat Einfluss auf die Entscheidungen der Politiker*innen? Und wie lässt sich dies in der Öffentlichkeit vermitteln, damit niemand den Eindruck hat, ihr*ihm würden wichtige Informationen vorenthalten. Evelyn Moser: „Erklärt die Politik selbst Solidarität buchstäblich über Nacht nicht nur zum höchsten gesellschaftlichen Prinzip, sondern instrumentalisiert sie zudem für die Vermittlung und Durchsetzung einschneidender Regulierungsmaßahmen, entsteht unweigerlich Reibung.“
Wenn „Denunziation“ oder „Exklusion“ zum gängigen Modus des Mit- und Gegeneinanders in einer Gesellschaft wären, nimmt „die Politik sich selbst die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit Gegner*innen – jenen, die abweichende, aber grundsätzlich als legitim erachtete Positionen vertreten. Übrig blieb stattdessen die binäre Unterscheidung, zwischen jenen, die Regierungsentscheidungen unterstützten, und dem widerständigen Rest, der den Rationalitätsanforderungen nicht entsprach.“
Evelyn Moser beschreibt einen Prozess der Entpolitisierung. Der*die einzelne Bürger*in erfährt ihre*seine „Nicht-Existenz als öffentliche Person und damit den Ausschluss von der Beteiligung an der Gemeinwohlgestaltung.“ So wie die Corona-Krise zumindest zu Beginn kommuniziert wurde, trifft die Analyse von Evelyn Moser zu: „Das Politische verschwindet, sobald Pluralismus mittels universeller Vernunftkriterien in Homogenität überführt wird und Entscheidung als letztgültig einrasten. Was dann bleibt, sind allein kollektiv verbindliche Regeln.“ Ich hätte vor den Begriff der „universellen Vernunftkriterien“ das Wort „scheinbar“ eingefügt, denn wer definiert, was „Vernunft“ ist? Letztlich kann Politik zu einer Spielart von Moral werden, sodass die Frage entsteht, ob Politik und Wissenschaft im Duett zum Religionsersatz mutieren.
Politiker*innen dürfen in dieser Komplexität auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als delegierten sie ihre Aufgaben an Externe, sei es an Wissenschaftler*innen, sei es an die Bürger*innen, beispielsweise, in ihren Eigenschaften als Verbraucher*innen. In der Tat besteht eine Mitverantwortung jedes*jeder Einzelnen, aber Politiker*innen können das, was nicht gelingt, nicht ausschließlich auf Fehlverhalten jedes*jeder Einzelnen zurückführen. Dies wäre eine unzulässige Form der Rückdelegation. Sie dürfen auch nicht den Eindruck erwecken, als gäbe es nur eine einzige unabänderlich feststehende Lösung. Politiker*innen riskieren in dieser Komplexität natürlich auch Fehlentscheidungen. Das jedoch gehört sozusagen zu ihrer Berufsbeschreibung.
Diffuse Gefühle
Da es immer Menschen gibt, die das Gefühl haben, dass sie unter den Wirkungen von Krisen leiden, weil die verantwortlichen Politiker*innen die jeweiligen Krisen nicht bewältigt hätten, entsteht das Bedürfnis, Verantwortliche zu suchen. Damit muss noch keine Schuldzuweisung verbunden werden. Frank Biess schreibt in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ über „Corona-Angst“: „Globale Ereignisse wie die Corona-Pandemie unterlaufen selbstzufriedene Fortschrittsnarrative und lassen die Ungewissheit der Welt erscheinen.“ Damit sind jedoch viele Menschen überfordert. Dies war schon in der Zeit „der ‚Asiatischen Grippe‘ 1957/58 und der ‚Hongkonggrippe‘ von 1968 bis 1970“ der Fall.
Die Tatsache, dass damals „zwischen 20 000 und 30 000 Menschen, weltweit eine bis zwei Millionen Menschen“ starben, wurde – so Frank Biess – nicht weiter beachtet, doch inzwischen kam es „zu einer deutlichen kulturellen Aufwertung der Angst“. So „traf die Corona-Pandemie auf eine Gesellschaft, für die der vorzeitige Tod generell unakzeptabel war.“ Frank Biess formuliert die These, dass „Epidemien und Pandemien (…) die Krisenhaftigkeit der Globalisierung in sinnlich erfahrbare Körperängste“ überführten.
Ute Frevert, Leiterin eines Forschungsbereichs mit dem programmatischen Titel „Geschichte der Gefühle“, dekonstruiert in ihrem Beitrag zu „Jenseits von Corona“ die Gefühle „Angst, Solidarität, Vertrauen“. „Angst war das allgegenwärtige Grundgefühl, das die anderen Gefühle besänftigen und in Schach zu halten suchten.“ Allerdings „war das weniger Solidarität als Empathie. Denn Solidarität geht über das in den letzten Jahren so beliebte Mit-Fühlen weit hinaus, verlangt nach einer aktiven Handlung, die sich nicht im Beifallklatschen erschöpft.“ Solidarität wäre dann etwas, das auch von Politiker*innen in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber*innen von Kranken- und Altenpflegepersonal, von Erzieher*innen und Mitarbeiter*innen in Gesundheits- und Jugendämtern verlangt werden könnte, die über die Personalausstattung und Vergütung der von ihnen für „systemrelevant“ erklärten Berufsgruppen entscheiden.
Ute Frevert belegt, dass der Konsens über Solidarität geringer ist als politisch vermutet. Es entstand beispielsweise „der neue Volkssport der Abstandsbeschämung, im Englischen heißt er social distancing shaming“, der nicht nur zu Distanzierung und Beherbergungsverboten führte, sondern zu offenem Rassismus. Dies betraf „Besitzer von Ferienwohnungen und Häusern“ in anderen Bundesländern, in Mecklenburg-Vorpommern mit eindeutigen Verschiebungen auf unverarbeitete „Ost-West-Spannungen“, aber auch „Deutsche asiatischer Herkunft“, denen auf offener Straße „Abwehr, Misstrauen, manchmal sogar blanker Hass“ begegneten. Als die Infektionszahlen Ende September 2020 in Berlin zu steigen begannen, wurden die Berliner*innen öffentlich beschimpft. Vermutete Verantwortliche wurden geradezu „in Sippenhaft genommen“.
Die Invektiven des amerikanischen Präsidenten gegen das „China-Virus“ taten das Ihrige hinzu. Verschwörungstheorien kamen hinzu, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident erntete immerhin öffentliche Kritik, als er die Corona-Ausbrüche in Fleischereibetrieben ausschließlich auf die südosteuropäischen Arbeiter*innen zurückführen wollte. „Fremde“, „Juden“ wurden und werden pauschal verdächtigt, Bill Gates, der kein Jude ist, wird beispielsweise von vielen Gegner*innen als „Jude“ apostrophiert, Antisemit*innen und Rassist*innen werden ermutigt, sich öffentlich und offen zu ihrer Menschenfeindlichkeit zu bekennen, einer der Kollateralschäden des Pandemie-Managements.
Verschwörungstheorien sind im Übrigen keine „westliche“ Erfindung. Susan Sontag zitiert in „Aids und seine Metaphern“ (1988/1989) eine afrikanische Version: „Eine in Afrika weit verbreitete Version bezüglich der Herkunft der Krankheit lautet folgendermaßen: Das Virus ist in einem CIA-Laboratorium in Maryland fabriziert worden, von dort nach Afrika gelangt und durch homosexuelle amerikanische Missionare, die aus Afrika nach Maryland heimkehrten, in sein Ursprungsland zurückgekommen.“ Ähnliche Vermutungen gab es in sowjetischen Medien und fanden ihren Weg in die britische Presse. Susan Sontag: „Aber die Geschichte wird noch immer aufgewärmt – von Mexiko bis Zaire, von Australien bis Griechenland.“
In dieser diffusen Stimmungslage kann „Vertrauen“ verspielt werden. Shalini Randeria in „Jenseits von Corona“: „Neben der Entwicklung eines sicheren und wirksamen Impfstoffs, zu dem weltweit ein gerechter Zugang gewährleistet werden muss, könnte sich letztendlich auch die öffentliche Akzeptanz und das Vertrauen in eine Impfung gegen Covid 19 als entscheidend dafür herausstellen, wie wir in Zukunft mit dem Corona-Virus leben werden.“ Die deutsche Bundesregierung hat schon sehr deutlich verkünden lassen, dass es keine Impfpflicht geben wird. Ob diese Ansage eher daher rührt, dass es möglicherweise nicht genügend Impfdosen geben wird, mag vermutet werden. Vertrauen fördernd ist sie nicht, zumal sie in unmittelbarer Reaktion auf aggressiv auftretende Impfgegner*innen publiziert wurde, die sich in ihrer Ablehnung damit sogar bestätigt fühlen dürften.
Die Diffusion der Gefühle hat Folgen nicht nur für die Sicht auf vergangene Krisen und Pandemien, die Wissenschaftler*innen für seriös erklären, sondern auch für Verschwörungstheorien, die den „Wahrheitsbeweis (…) in die (falsche) Analogie und die (falsche) Generalisierung verschoben“. Diese lassen sich nicht ohne Weiteres widerlegen, wenn Befürworter*innen und ihre Gegner*innen sich lediglich ein „Wahr“ oder „Falsch“ entgegenrufen. Im Gegenteil: Möglicherweise rächt sich, dass die potenzielle Popularität von Verschwörungstheorien nicht von Anfang an in die Debatte einbezogen worden ist.
„Konjunkturen des Rechthabens“ und Verschwörungsglaube
Und so erhalten Verschwörungstheorien Konjunktur. Es gibt in den Bänden „Die Corona-Gesellschaft“ und „Jenseits von Corona“ mehrere Hinweise auf Parallelen, Analogien und Unterschiede zu Pandemien vergangener Zeiten, durchaus im Bewusstsein des „Konstruktionscharakter(s) des Vergleichens“ (Angelika Epple in „Die Corona-Gesellschaft“): „Es geht darum, welche Vergleichsgegenstände einbezogen werden sollen, wenn die Politik Entscheidungen zu fällen hat.“ Es entstehen „Konjunkturen des Rechthabens“ – so Sybille Krämer in „Jenseits von Corona“: jede*r hat die Chance, das, was er*sie schon immer als Ursache jedweder Ungerechtigkeit betrachtete, auch für die Corona-Krise verantwortlich zu machen, die Globalisierung, den Staat, Bill Gates oder George Soros, den Jüdischen Weltkongress und „kann nun ein neues Kettenglied, wenn nicht gar eine ‚Perle‘ einfügen: Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Corona-Krise.“
Im Grunde geht es um die Suche nach Schuldigen, möglichst leicht identifizierbar und daher mit dem bestimmten Artikel zu bezeichnen. „Verantwortung“, die als Begriff wertneutral verstanden werden kann, wird – wie in kryptoreligiösen Theorien üblich – ausschließlich als „Schuld“ bewertet. Magnus Striet gibt seinem Essay in „Jenseits von Corona“ den Untertitel „Ein theologischer Versuch im Zeichen der Pandemie“. Und in der Tat geht es um die Frage, wer zu erklären vermag, was geschieht und was geschehen sollte. Wissenschaft könnte dazu beitragen. „Man vertraut nicht mehr auf einen Gott, der wunderwirkend in die Naturverläufe eingreift. Überhaupt muss zumindest solange, wie man Naturwissenschaften betreibt, auf das Konzept eines allmächtigen Gottes, dem möglich ist, Unregelmäßigkeiten im Naturverlauf zu provozieren, verzichtet werden. Vorsichtiger formuliert: Es mag einen allmächtigen Gott geben. Die Welt aber ist so zu beschreiben, als ob es ihn nicht gäbe. Naturwissenschaften setzen als Minimum ihrer Möglichkeit eine relative Verlässlichkeit der zu erklärenden Phänomene voraus.“
Ähnlich Herfried und Marina Münkler im selben Band: „Die wissenschaftliche Prognostik hat in der modernen Gesellschaft die Rolle übernommen, die das Gottvertrauen in der alten Gesellschaft hatte. Über die Folgen des geschwundenen Vertrauens in sie müssen wir nachdenken.“ Da aber Wissenschaften nie unabänderliche Glaubenssätze verkünden können, wenn sie nicht zum Religionsersatz mutieren wollen, werden im guten Falle moderate Religionen, im schlechten Falle kryptoreligiöse Verschwörungstheorien attraktiv.
Michael Butter hat in seinem Buch „‘Nichts ist wie es scheint‘ – Über Verschwörungstheorien“ (Berlin, Suhrkamp, 2018) dieses Dilemma beschrieben: „Wenn Verschwörungstheoretiker also behaupten, dass alles miteinander verbunden ist, es keinen Zufall gibt und dass alles, was geschieht, so von jemandem beabsichtigt wurde, geben sie einer zutiefst menschlichen Neigung Ausdruck, die evolutionär sinnvoll, aber eben auch irreführend wird.“ Auf Corona bezogen bedeutet dies beispielsweise, dass nicht das die Krankheit verursachende Virus, sondern der Impfstoff, als dessen Hauptinteressent und -verteiler Bill Gates benannt wird, den Körper der Gläubigen infizieren wird. Das könnte plausibel klingen, wenn – und das ist bei Verschwörungstheorien immer die erste Voraussetzung – die grundlegende Prämisse der Gedankenkette akzeptiert beziehungsweise geglaubt wird.
Strukturell unterscheiden sich Verschwörungstheorien nicht von religiösen Überzeugungen. Michael Butter versteht in seinem Beitrag zu „Jenseits von Corona“ Verschwörungstheorien als „Reaktion auf Unsicherheit und Kontrollverlust.“ Er verweist auf Ergebnisse psychologischer Forschung, „dass Menschen, die Ambivalenzen oder Unsicherheit schlecht akzeptieren können oder sich ohnmächtig fühlen, besonders empfänglich für Verschwörungstheorien sind. (…) Verschwörungstheorien schaffen so die Sicherheit, die Wissenschaft und Politik nicht bieten können.“
Verschwörungstheorien werden – so Michael Butter – „besonders gefährlich“, wenn sie „von Regierenden artikuliert werden, die entweder von ihrer Richtigkeit überzeugt sind oder sie strategisch einsetzen.“ Donald Trumps Rede vom „China-Virus“ erfüllt diese Bedingung. Ob Trump selbst daran glaubt, ist irrelevant, entscheidend ist die Wirkung. Seriöse Wissenschaft wird durch ein solches Vorgehen delegitimiert. Mit wissenschaftlichen Ergebnissen zur Klimakrise gehen Trump und vergleichbare Politiker – in der Regel fast alle Männer – ebenso um.
Immerhin: „In Deutschland gibt es über das politische Spektrum hinweg noch immer eine breite Mehrheit, die Verschwörungstheorien ablehnt und der Wissenschaft vertraut.“ Die Debatte um die Feinstaubbelastung um den Jahreswechsel 2018/2019 belegt allerdings, dass auch deutsche Medien und deren Nutzer*innen anfällig für sogenannte „alternative Fakten“ sind, die sich nachher als unhaltbar herausstellen. Andererseits deutet das Tempo, in dem die Unhaltbarkeit von alternativen Thesen und Fakten erwiesen und akzeptiert wurde, darauf hin, dass Michael Butter mit seiner optimistischen Einschätzung Recht behalten könnte. Trotz Internet und sogenannten sozialen Netzwerken „glauben jedoch noch immer noch deutlich weniger Menschen an Verschwörungstheorien als vor 100 oder 200 Jahren.“ In Deutschland, in anderen Ländern könnte es anders aussehen.
Gleichwohl sollten wir uns nicht nur mit der beschriebenen diffusen Gefühlslage befassen, wenn wir darüber nachdenken, warum Verschwörungstheorien zurzeit ein größeres Publikum erreichen. Herfried Münkler (in „Die Corona-Gesellschaft“) versucht ihre Attraktivität damit zu erklären, dass die bisherigen Lösungsansätze für Konflikte – „Frieden als Lösung nahezu aller Probleme“ – angesichts der Pandemie nicht mehr zureichen. „Diese Paradoxie zu begreifen oder überhaupt in Paradoxien zu denken, hat einen erheblichen Teil der Bevölkerung intellektuell überfordert (…). Verschwörungstheorien sind eine strukturelle Leugnung des paradoxen; indem sie auf einer linearen Beziehung zwischen intendierter Ursache und Wirkung bestehen, verlangen sie zu einer beobachteten Wirkung auch einen Verursacher.“ Das mag etwas arrogant gegenüber der Bevölkerung klingen, ist es im Grunde auch, aber Politiker*innen sind ebenso Teil der Bevölkerung und ähnlich „überfordert“.
Über Jahrzehnte standen Auf- und Abrüstung von Militär, Friedensverhandlungen und internationale Verträge im Mittelpunkt der politischen Bemühungen. Auseinandersetzungen um Handelsinteressen wurden zu „Handelskriegen“ hochgejazzt. Und gleichzeitig ist die Hilflosigkeit der Politik vor allem von NATO, USA und EU bei den aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Zeit nach dem sogenannten Arabischen Frühling sichtbar. Wie soll diese Generation von Politiker*innen dann mit einem unsichtbaren Gegner fertigwerden? Martialisches Vokabular fiele von vornherein als geeignetes Gegenmittel aus, doch auch dieses hat Konjunktur.
So weit die Analyse. Was dies für die einzelnen Menschen bedeutet, die sich auf Demonstrationen und anderweitig gegen die verhängten Maßnahmen engagieren, ist eine andere Frage. Möglicherweise verstärkt die Form der Kritik an dem Verhalten dieser Menschen das Problem, das die Kritik beseitigen möchte. Ein Gastbeitrag von Christoph Brauer, Johannes Pantenburg, Johanna Puth und Benedikt Sepp in der Süddeutschen Zeitung versuchten diese Frage zu beantworten: „Denn viele dieser Wissensmanufakteure sind keine hartgesottenen Verschwörungstheoretiker. Sie sind eher von der Komplexität, der Wandelbarkeit und Mehrdeutigkeit der akademischen Wissenschaft verunsichert. Sie klammern sich an die Hoffnung, dass gesunder Menschenverstand und Intuition der akademischen Epistemologie überlegen seien. Dabei sind sie vom nachvollziehbaren Wunsch getrieben, die alte Normalität wiederherzustellen. Sie jetzt mit Fachbegriffen und Nazi-Vorwürfen von oben herab widerlegen zu wollen, würde den Großteil der ‚Querdenker‘ jedoch tatsächlich zu jenen Verschwörungstheoretikern machen, als die sie jetzt schon gesehen werden.“
Die Autor*innen beschließen den zitierten Absatz mit dem Wunsch nach einer „kluge(n) Informationspolitik vonseiten der Regierung und Wissenschaft (…), um den Großteil dieser Menschen ohne subjektiven Gesichtsverlust auf den Boden der Tatsachen zurückkommen zu lassen.“ Ob dies angesichts der allgemeinen Diskussionskultur überhaupt (noch) möglich ist, wäre eine weitere Frage. Oder ist dieser Zug längst abgefahren? Die Art und Weise, wie der Berliner Innensenator und drei Teilnehmende der Berliner Corona-Demonstration miteinander in einem Streitgespräch der ZEIT zu kommunizieren versuchten, stimmt mich offen gestanden nicht sehr hoffnungsfroh.
Ambiguitätstoleranz und „Risikopolitik“
Ambiguitätstoleranz ist ein sperriges Wort. Noch viel schwieriger ist es, sich ambiguitätstolerant zu verhalten. Sybille Krämer schreibt in „Jenseits von Corona“: „Wenn der Zusammenhang der Welt gerade darin besteht, dass jedes Ereignis notwendige Begleitfolgen und mögliche Kollateralschäden hat, die nicht in der Absicht derjenigen standen, die dieses Ereignis intendierten, und falls dies einen Kern der Ambivalenzen des Realen ausmacht, dann bedeutet dies, der vertrauten Geste des Rechthabens, des Immer-schon-gewusst-Habens, die ruhige Aufmerksamkeit für das Reale entgegenzusetzen.“
Andreas Reckwitz plädiert in seinem Essay mit dem programmatischen Titel „Risikopolitik“ (in „Die Corona-Gesellschaft“) dafür, dass Politik von vornherein abwägen müsse, welche Haupt- und Nebenwirkungen ihre Maßnahmen haben könnten. Vergleiche mit „historisch lange vergangenen Seuchen wie der mittelalterlichen Pest“ erklärt er für „irreführend“. Er schreibt mit Bezug auf Niklas Luhmann (1991): „Entscheidend ist jedoch, ob man Epidemien oder andere negative Ereignisse als Gefahr von außen oder als beeinflussbares Risiko betrachtet.“ Konsequenz: „Die Politik des Negativen muss also häufig eine Risiko- und Folgenabwägung betreiben. Die größte Gefahr der Risikopolitik wäre damit ein Maximalismus, der absolute Sicherheit in einem Bereich anstrebt und damit andere Risiken systematisch unberücksichtigt lässt. Bildlich gesprochen: Am Ende stirbt man aus Angst vor dem Tod.“
Die Frage liegt nahe, wie in diesem Kontext repressive Maßnahmen wie Ausgangssperren, Begrenzungen der Bewegungsfreiheit, Maskenpflicht, Schließungen von Geschäften, Restaurants und Schulen zu bewerten sind. Stefan Hirschauer, Professor für Soziologie und Gender Studies, in „Die Corona-Gesellschaft“: „Die allgemeine Erhöhung körperlicher Distanz ist nur ein physischer Ausdruck für ein akutes Wissensdefizit. (…) / Bei der Behebung dieses Defizits muss sich die Gesellschaft mühsam auf die Zeithorizonte und die Streitkultur bei der Generierung wissenschaftlichen Wissens einstellen.“ Wenn eine öffentliche Debatte sich jedoch auf Fragen des Infektionsschutzes beschränkt, werden viele Menschen den Eindruck haben, es werde über ihre Köpfe hinweg entschieden. Und so schwindet mit der Zeit die Akzeptanz von Maßnahmen. Alternativen scheint es nicht zu geben, sodass sich viele Menschen diese Alternativen selbst schaffen.
Markus Gabriel fragt in „Jenseits von Corona“ mit Recht danach, „welche politischen Akteure sich in den kommenden Jahren die Deutungshoheit über die Corona-Krise sichern werden, da wir derzeit noch im Modus von Infektionsschutzgesetzen und Ausnahmezuständen regiert werden.“ Diese Frage ist auch in der Zeit zwischen Niederschreiben dieser Sätze, ihrer Veröffentlichung und meiner Rezeption nicht weniger aktuell. An dem Tag, an dem ich die ersten Sätze dieses Essays schrieb, lagen die täglichen Infektionszahlen erstmals nach Monaten wieder über 4.000, inzwischen liegen sie bei etwa 14.000, Tendenz steigend.
Welche Risiken bestehen? Welche Risiken sind wir schon eingegangen? Welche Risiken haben wir (noch) nicht bedacht? Das sind Fragen, die sich Politiker*innen stellen müssen, nicht nur in der guten Absicht des deutschen Gesundheitsministers, der im März 2020 darauf hinwies, dass wir nach Ende der Pandemie einander „viel zu verzeihen“ hätten. Erforderlich ist eine Analyse, welche Nebenwirkungen die Gesellschaft langfristig beschädigen und welche möglicherweise auch Vorteile mit sich brachten. Gefährlich ist auf jeden Fall eine Aufteilung der Welt in „Gefährder“ und „Gefährdete“. Gabriele Klein und Katharina Liebsch in „Die Corona-Gesellschaft“: „Aus Vorerkrankten werden ‚Gefährdete‘, aus Kindern ‚Gefährder‘. Neue Klassifikationen von Körpern kommen hinzu, so z.B. ‚Corona-Infizierte‘, ‚Getestete‘ und ‚Geheilte‘.“
Ist die Corona-Krise auch eine Verfassungskrise?
Franz Mauelshagen weist in „Die Corona-Gesellschaft“ darauf hin, dass wir im Grunde „nur die alten Mittel, die sich in der europäischen Geschichte schonmehr als einmal bewährt haben“, anwenden: „Die Mittel der Staatsgewalt“. Er zitiert Thomas Hobbes‘ Bild des „Leviathan“ und fordert, dass repressive Maßnahmen „die Ausnahme bleiben“. Gefahr droht, wenn das „Vertrauen in die Stabilität unserer politischen Systeme“ schwindet. „Wo es wankt, droht Instabilität. Und wo der Ausnahmezustand in Permanenz überführt werden soll, da ist die Demokratie in Gefahr.“ Es folgen die zurzeit gängigen Beispiele von Ungarn über Polen bis hin zu den USA.
Ist diese Gefahr so neu? Oder verstärkt die Corona-Krise lediglich Tendenzen, die in den vergangenen Jahrzehnten ohnehin schon debattiert wurden. Jedes Mal, wenn eine Partei in den Deutschen Bundestag einzog, die dort nicht schon 1949 vertreten war, wurde für die Zukunft Unregierbarkeit vermutet. Bildeten mehr als zwei Parteien die Regierung oder wurde eine Minderheitsregierung ins Amt gewählt, wurde der baldige Zusammenbruch dieser Regierung prognostiziert. Nichts davon geschah.
Viel entscheidender ist ein anderer Diskurs. Stefan Marschall schreibt in der Ausgabe von “Aus Politik und Zeitgeschichte“ zum Thema „Parlamentarismus“ (Ausgabe vom 14. September 2020) über „Entparlamentarisierungsdiskurse, festgemacht am Informationsungleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative“ sowie „die Krisendominanz der Exekutive“, die sich zurzeit in der Corona-Krise zeige. Es geht damit meines Erachtens um Praxis und Praktikabilität von Gewaltenteilung. Von einer Art „Ermächtigung“ der Regierung, wie wir sie zu Beginn der Corona-Krise in Ungarn feststellten, sind wir in Deutschland weit entfernt. Es gibt in Deutschland auch nicht – wie in den USA – einen „Supreme Court“, der die Kompetenzen einer dritten legislativen Kammer hätte und damit jeden Beschluss von Kongress und Senat aushebeln könnte. Gerichte haben auch in Deutschland mehrfach der Exekutive Grenzen gezeigt, dabei aber stets die Entscheidung über die Umsetzung ihrer Monita an die Parlamente zurückverwiesen.
Diskutiert wird auch die Frage, ob es eine Art „Notparlament“ geben könnte, das den Deutschen Bundestag oder einen Landtag auf eine geringe Zahl von Abgeordneten reduziere. Stefan Marschall verweist auf den aus 48 Mitgliedern aus Bundestag und Bundesrat (im Verhältnis 32:16) bestehenden „Gemeinsamen Ausschuss“, der „für den Fall des militärischen Angriffs auf das Bundesgebiet“ gebildet werden könnte. Der Bundestagspräsident sowie das Land Berlin schlugen vor, dass für den Fall einer Pandemie vergleichbar ein „Notparlament“ eingerichtet werden könnte. „Diese Initiative wurde durch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Abgeordnetenhauses (in Berlin) geprüft, aber letzten Endes als rechtlich problematisch eingestuft.“
Stefan Marschall spricht aber nicht ohne Grund von „Tendenzen einer ‚Exekutivierung‘ der deutschen Politik.“ Die Exekutive sei in der Corona-Krise „abermals gestärkt worden“. Zur Folge habe dies, dass vor allem die Rechte der Opposition nicht mehr in dem Maße wie erforderlich ausgeübt werden könnten. „Die ‚Stunde der Exekutive‘ ist vor allem keine ‚Stunde der Opposition‘. Sie ist keine Zeit der parlamentarischen Kontrolle und der kritischen Diskussion (…).“ Im Oktober 2020 fordern Abgeordnete verschiedener Parteien eine Rückgabe der Entscheidungskompetenz an die Parlamente. Die zurzeit entscheidende Runde der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsident*innen ist sicherlich ein wichtiges Konsultationsgremium, Entscheidungskompetenzen hat sie nicht, obwohl sie gerade diesen Eindruck erweckt. Im Grundgesetz ist eine solche Runde nicht vorgesehen. Über Gesetze entscheidet der Bundestag, bei die Länder betreffenden Gesetzen auch der Bundesrat.
In „Jenseits von Corona“ und in der Corona-Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ kommen zwei ehemalige Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts zu Wort, Hans-Jürgen Papier und Andreas Voßkuhle. Hans-Jürgen Papier kommt zu dem Schluss: „Für den epidemischen Notstand von nationalem Ausmaß fehlt indes nach wie vor eine rechtlich hinreichende Vorsorge.“ Dies liege auch daran, dass das 2002 in Kraft gesetzte Infektionsschutzgesetz von regional begrenzten Infektionslagen ausging. „Die gegenwärtige Besonderheit ist aber, dass die Corona-Pandemie Deutschland insgesamt und die ganze Welt erfasst.“
Zu prüfen sei regelmäßig Berechtigung und Rechtmäßigkeit der „Aufrechterhaltung oder Wiedereinführung“ von Maßnahmen der Regierung(en). Vor allem geht es um „Eingriffe in das Eigentum und in die Berufsfreiheit“, die als „ausgleichspflichtige Sozialbindungen“ bezeichnet werden könnten und daher „Entschädigungsregelungen von Verfassungs wegen“ nach sich ziehen müssten. Massiv betroffen sind im Hinblick auf die „Berufsfreiheit“ so unterschiedliche Gruppen wie Künstler*innen, Besitzer*innen und Mitarbeiter*innen in Hotellerie, Sexarbeiter*innen.
Hans-Jürgen Papier nennt „berechtigte Zweifel, ob die rechtfertigungsbedürftigen Beschränkungen – gerade in den Zeiten einer Lockerung – vonseiten der Entscheidungsträgerinnen und -träger immer richtig und plausibel begründet werden können.“ Als Beispiele nennt er Quadratmeterregelungen und Benennung von Branchen, die öffnen dürfen oder geschlossen bleiben müssen. Inwieweit Einschränkungen des Flugverkehrs oder wirtschaftliche Folgen für Restaurants, Bars, Kultureinrichtungen als Eingriffe in das Eigentumsrecht betrachtet werden könnten, wird von interessierter Seite vorgetragen. Beherbergungsverbote wurden kaum 24 Stunden nach Verkündung von Gerichten kassiert. Es gilt das „Übermaßverbot“.
Andreas Voßkuhle nähert sich in „Jenseits von Corona“ der Frage nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen grundsätzlich. Ein rechtspositivistischer Zugang ist nicht praktikabel: „Wir wissen wenig und trotzdem müssen wir handeln.“ In diesem Sinne besteht geradezu eine „Paradoxie der Prävention“: „Je zutreffender die Prognose ist und je effizienter die auf ihrer Grundlage getroffenen Maßnahmen, desto unklar ist, ob es letzterer wirklich bedurft hätte.“ Es gehe schließlich darum, „Rationalitätsdefizite immer wieder selbst zum Thema zu machen und dadurch einen dauerhaften gemeinwohlbezogenen Reflexions- und Argumentationszusammenhang zu kreieren. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich die dem Rationalitätsideal verpflichtete gesellschaftliche Ordnungsbildung grundlegend von anderen bekannten Formen der Ordnungsbildung, die z.B. auf Gewaltandrohung, charismatischer Führung oder Rekurs auf quasi-instinktiv wirksame Traditionsbildung beruhen können.“
Dies ist im Grunde ein konstruktivistischer Ansatz. Wir brauchen „Strategien im Umgang mit Unsicherheit“. Entscheidungen können sich als falsch oder als unwirksam herausstellen, Nebenwirkungen sind möglich und sogar wahrscheinlich. Sybille Krämer und Andreas Voßkuhle sprechen beide von Demut, Sybille Krämer nennt es „epistemische Demut“, Andreas Voßkuhle hofft darauf, dass „diese Demut unsere Neigung zur retrospektiven Besserwisserei etwas relativieren würde und unser Vertrauen in den rationalen Umgang mit Nichtwissen stärken sollte“. Aber dies ist möglicherweise weniger eine Frage des Verfassungsrechts als eine Frage der politischen Kommunikation. Solange Politiker*innen dazu neigen, sich selbst ultimative Problemlösungskompetenz zuzubilligen, fehlt diese „Demut“.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)