Ein Lob der Fragilität

Transnationale Perspektiven der Pandemie

„Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. / Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ (Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge – Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1974, französisches Original „Les mots et les choses, Paris, Editions Gallimard, 1966)

Ist dieser Augenblick, den Michel Foucault benennt, mit der Pandemie gekommen? Oder war die Pandemie nur das berühmte Tüpfelchen auf dem „i“ der diversen Krisen der vergangenen Jahrzehnte, der Klimakrise, der Bedrohung der Artenvielfalt, der Kriege um Wasser und andere Ressourcen, der Kämpfe gegen den Hunger, gegen die Armut, für die Rechte von Frauen, von Kindern? Die Liste der Krisen und Kämpfe wird nie vollständig benannt werden, zu Vieles hängt mit zu Vielen zusammen. Aber gleichwohl: Die Pandemie hat sehr viel mit den Themen, die spätestens seit dem Bericht des Club of Rome „The Limits to Growth“ von 1972 (dt. Die Grenzen des Wachstums oder dem Brundtland-Bericht „Our Common Future“ aus dem Jahr 1987 diskutiert wurden, zu tun. Und Brisanz und Tempo der diversen Krisen steigen.

Die unterdrückte „Polykrise“

Die internationale Staatengemeinschaft hat in Gestalt der Vereinten Nationen im Jahr 1992 mit den 40 Kapiteln der „Agenda 21“, im Jahr 2015 mit den 17 „Sustainable Development Goals“ umfassende Beschlüsse gefasst. Die Umsetzung dieser Beschlüsse ist jedoch eine andere Frage. Die lange Reihe der diversen Klimakonferenzen belegt, wie in den interstaatlichen Debatten die Verantwortung für wirksame Maßnahmen hin- und hergeschoben wird. Manche Staaten verabschieden sich Schritt für Schritt aus den internationalen Debatten. Dies galt nicht nur für die USA unter Donald J. Trump, in fast allen „westlichen“ Demokratien gibt es nationalistische Bewegungen, autoritäre Regierungen handeln nach eigenem Gusto. Während der Pandemie schien sich (fast) jedes Land nur noch mit sich selbst zu beschäftigen, „my country first“. Internationale Institutionen gerieten ins Abseits. Doch was macht das alles mit den Menschen? Was lassen Menschen mit sich machen?

Diesen Kontext möchte ich mit zwei im Jahr 2021 erschienenen Büchern illustrieren, die meines Erachtens zu den besten gehören, die in diesen Zeiten der Pandemie geschrieben wurden: es handelt sich um Adam Tooze, Welt im Lockdown – Die globale Krise und ihre Folgen (München, C.H. Beck, die englische Ausgabe erschien ebenfalls im Jahr 2021, ihr Titel: „Shutdown: How Covid Shook the World’s Economy“) sowie Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela, Post/Pandemisches Leben – eine neue Theorie der „Fragilität“ (Bielefeld, transcript).

Einen ausgezeichneten und bedrückenden Überblick über die Zusammenhänge gab bereits vor einigen Jahren Stephan Lessenich in seinem Buch „Neben uns die Sintflut – Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“ (Berlin, Hanser, 2016). Grundlage des weltweit wirkenden Dramas ist „Doppelmoral“ des Nordens: „Die Externalisierungsgesellschaft misst mit zweierlei Maß: Was man sich selbst erlaubt, das gesteht man anderen noch lange nicht zu. Und man wundert sich nicht nur, wenn die anderen sich anschicken, diese Doppelmoral in Frage zu stellen, sondern reagiert auf die Ansprüche der Ausgeschlossenen mit einer Vehemenz und Aggressivität, die Bände spricht: Auf den Aufstand der Verlierer hatte die Externalisierungsgesellschaft nicht gewettet.“

Das Land, das sich die von Stephan Lessenich benannte „Doppelmoral“ ausgesprochen geschickt zunutze macht, ist China. China verhält sich in Afrika nicht besser als die europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert, aber geschickter, nicht nur rhetorisch. China gilt in vielen Ländern als Erfolgsmodell für ein Land, das es schaffte, den kolonialistischen Fluch zu besiegen und sich aus eigener Kraft zu einer starken Weltmacht aufzuschwingen. Und eben dies gelang China auch in der Pandemie. Der chinesische Impfstoff beispielsweise wurde unbeschadet der Zweifel an seiner Wirksamkeit nicht nur in sogenannten Entwicklungsländern populär.

Adam Tooze spricht in „Welt im Lockdown – Die globale Krise und ihre Folgen“ von einer „Polykrise“: „Der Begriff der Polykrise erfasst das Zusammentreffen verschiedener Krisen, sagt aber nicht viel darüber hinaus, auf welche Weise sie zusammenwirken.“ Den Begriff verwendete in der EU erstmals der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Er folgte einer Analyse des im Jahr 1921 geborenen französischen Theoretikers Edgar Morin (Edgar Morin, Heimatland Erde – Versuch einer planetarischen Politik, Wien 1999, das Original erschien 1993 unter dem Titel „Terre patrie“).

Es gab einen Politiker, der den Zusammenhang formulierte, wahrscheinlich ohne Kenntnis der Texte Edgar Morins, aber das weiß niemand so genau, denn viele asiatische Politiker*innen und Intellektuelle sind über europäische und amerikanische Debatten und Publikationen oft erheblich besser informiert als dies umgekehrt der Fall ist. Dies liegt sicherlich auch daran, dass in europäischen Schulen außereuropäische Sprachen nur in Ausnahmefällen gelehrt werden, im außereuropäischen Raum die europäischen Sprachen jedoch sehr wohl, auch ein spätes Erbe von Imperialismus und Kolonialismus. „Im Januar 2019 (NB: ein Jahr vor der Pandemie!) hielt Chinas Präsident Xi Jinping eine viel beachtete Rede über die Pflicht der Kader der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), sowohl schwarze Schwäne als auch graue Nashörner zu antizipieren. Im selben Sommer veröffentlichten Study Times und Qiushi, die beiden Zeitschriften, über die die KPCh ihren eher intellektuellen Kadern doktrinäre Erläuterungen übermittelt, einen Aufsatz von Chen Yixin, der Xis aphoristische Beobachtungen näher erläuterte. Chen ist ein Protégé von Xi Jinping und wurde während der Corona-Krise dazu auserkoren, die Aufräumarbeiten der Partei in der Provinz Hubei zu leiten. In seinem Aufsatz von 2019 stellte Chen die Fragen: Wie wirkten die Risiken zusammen? Wie verwandelten sich wirtschaftliche und finanzielle Risiken in politische und soziale Risiken? Wie haben sich ‚Cyberspace-Risiken‘ zu ‚tatsächlichen sozialen Risiken‘ zusammengebraut? Wie wurden externe Risiken internalisiert?“

Vergleichbares hatten die Regierungen der EU-Staaten, der USA und anderer sich der westlichen Hemisphäre zurechnenden Staaten und Staatenbünde nicht zu bieten. China schaffte es, innerhalb von zwei Wochen Krankenhäuser im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden zu stampfen. In dieser Zeit hätten die jeweiligen Bauherr*innen in den meisten westlichen Demokratien noch nicht mal den Bauantrag geschrieben. Adam Tooze protokolliert ausführlich die Geschichte der verpassten Chancen zwischen Januar und März 2020, die schließlich dazu führten, dass es im Unterschied zu China und zu Südkorea nicht gelang, die drohende Pandemie weitestgehend zu beherrschen. Es fehlte an jeder differenzierten und differenzierenden Strategie von Wissensmanagement und Kommunikation. Das Ergebnis war ein Desaster: „Das Jahr 2020 zeigte, dass unsere Fähigkeit, um die Welt zu fliegen, unser Verständnis dafür, welche Folgen diese enge Vernetzung hat, bei weitem übertraf.“

Ob all diese Zusammenhänge vielen Menschen, die unter der Pandemie leiden, bewusst sind, ist eine andere Frage. Es gibt genügend Politiker*innen, die sie ignorieren. Insofern bleiben auch die Zusammenhänge der diversen zurzeit gleichzeitig virulenten Krisen im Dunklen: Pandemie, Klimakrise, Bedrohung der Artenvielfalt, soziale Ungleichheit, Wohlstand im Norden auf Kosten der Armut im Süden. Wir erleben im politischen Alltag eine De-Kontextualisierung der Pandemie, die eine treffende Analyse verhindert.

Die „Schattenpandemie“

Ich nenne nur einige Schlaglichter des Desasters. Adam Tooze: „Laut UNICEF hatten mehr als zwei Drittel der Kinder weltweit zu Hause keinen Zugang zum Internet- 830 Millionen junge Menschen.“ Nicht nur Kinder betraf der Lockdown. Beschäftigte sollten ins Home-Office. Doch es gab Ausnahmen. Ein Beispiel aus Indien: „Die Business-Process-Outsourcing Industrie mit ihren 1,3 Millionen Beschäftigten argumentierte, ihre Tätigkeiten gehörten zu den essenziellen Finanzdienstleistungen und müssten daher vom Lockdown ausgenommen sein. Westliche Kunden, die sich mit einer Flut von Beschwerden über lange Wartezeiten konfrontiert sahen, schlossen sich dieser Forderung nur zu gerne an.“ Eine Gruppe, die besonders litt, waren die Frauen.

Judith Langowski fasste die Ergebnisse von Untersuchungen des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) am 19. November 2021 im Berliner Tagesspiegel zusammen. Der Bevölkerungsfonds schätzt weltweit 1,4 Millionen ungeplanter Schwangerschaften, zwölf Millionen Mädchen und Frauen verloren den Zugang zu Verhütungsmitteln, die Müttersterblichkeit stieg in Peru um 45 %, in El Salvador um 72 %. „Ein Bericht des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen (Ecosoc) aus dem Frühjahr 2021 wies darauf hin, dass die Pandemie die Fortschritte etwa in der weltweiten Versorgung durch qualifizierte Geburtshilfe rückgängig machen könnte.“ In Uganda waren die Schulen fast zwei Jahre geschlossen. Schon vor der Pandemie konnten nur etwa 40 % der Kinder lesen und schreiben, wenn sie die Schule verließen.

Solche Zahlen müssen wir weder in Deutschland noch in anderen wohlhabenden Ländern im Norden des Planeten, auch nicht in Australien und Neuseeland befürchten, obwohl auch dort diejenigen, die ohnehin schon in sozial prekären Verhältnissen leben, erheblich mehr unter der Pandemie und den damit verbundenen Lock-Downs leiden als diejenigen, die ausreichende Ressourcen haben, um sich und ihre Kinder zu schützen. Sie können sich vielleicht nicht wie die zehn Florentiner*innen des Decamerone Giovanni Boccaccios auf ihre Landgüter zurückziehen, haben aber dennoch genug Möglichkeiten, ihren Lebensstandard zu halten, große Wohnungen, Einfamilienhäuser, Rückzugsmöglichkeiten für alle Familienmitglieder, Zugang zu digitaler Infrastruktur für jedes Familienmitglied, einen Beruf, der ohne viele direkte Kontakte mit anderen Menschen ausgeübt werden kann und vieles mehr.

Eine andere Variante der Reaktion auf die Pandemie ist wahrscheinlicher. Sie ist Thema des im Februar 2022 erscheinenden neuen Romans von Orhan Pamuk „Die Nächte der Pest“. Auf einer fiktiven Insel beschuldigen sich konkurrierende Gruppen gegenseitig, die Pest verursacht zu haben. Donald J. Trump und das von ihm erfundene „China-Virus“ lassen grüßen, Angriffe auf asiatisch gelesene Menschen in Europa und in den USA waren im Frühjahr 2020 an der Tagesordnung. Dieses China-Bashing hat durchaus Geschichte. Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela verweisen auf seine Tradition, vom Schlagwort der „Gelben Gefahr“ bis zu fiktiven Figuren wie „Dr. Fu Manchu“, der einem Roman von Sax Rohmer entstammt und zu einem Modell eines asiatisch gelesenen „Orientalismus“ im Sinne von Edward Said geworden ist. Japan und andere asiatische Staaten wurden in ähnlicher Weise „rassifiziert“. „Es sind stets die ‚Anderen‘, die Monster, vor denen die Machtvollen schützen müssen. Solche Denkmuster sind die gedanklichen Geburtshelfer von Ausgrenzungspolitiken und stabilisieren Nationalismus und Patriotismus.“ Und es ist insbesondere das Bild „einer toxisch-männlichen Stärke“, dass sich in den diversen Protesten gegen die Pandemie-Politik manifestiert, nicht nur bei den Staatschefs, die sich infizierten und nach überstandener Infektion ihre eigene Stärke so laut wie möglich verkündeten und damit ihre Anhänger darin bestätigten, dass ihnen niemand etwas anhaben könne.

Kwame Anthony Appiah schrieb am 23. November 2021 im Guardian (eine deutsche Übersetzung bietet die Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ vom Januar 2022) von zwei Pandemien, einer im Norden, einer im Süden dieses Planeten (wie gesagt mit Ausnahme Australiens und Neuseelands). In südlichen Ländern, in denen das Durchschnittsalter der Bevölkerung sehr deutlich unter dem der Bevölkerungen in nördlichen Ländern liegt leiden die Menschen nicht nur unter dieser und anderen Pandemien und Epidemien, sondern auch unter einem mehr oder weniger deutlichen Zusammenbruch der Gesundheitssysteme. Vorsorgende Gesundheitspolitik wird zum Ding der Unmöglichkeit. Armut, Hunger, Zusammenbruch von Subsistenzwirtschaft, abgebrochene Bildungswege – all dies belastet und aus dem Norden gibt es allenfalls den ein oder anderen Kommentar, dass dies ein unhaltbarer Zustand sei. Ambitionierte Entwicklungspläne afrikanischer Staaten liegen auf Eis. 11 Millionen Mädchen werden – so Schätzungen der Vereinten Nationen – nicht mehr in die Schule zurückkehren. Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela: „Fragilität ist ein Teil des Lebens, doch die damit verknüpften Verletzlichkeiten verteilen sich sehr unterschiedlich und treffen in Krisen- und Ausnahmezeiten bereits marginalisierte soziale Gruppen stets mit besonderer Härte.“

Kwame Anthony Appiah spricht von einer „Schattenpandemie im globalen Süden“. Er zitiert eine Studie, die begründet, „dass Covid in diesen relativ jungen Gesellschaften weniger gesundheitliche Auswirkungen zeitigte als in reicheren (und ausnahmslos älteren) Gesellschaften, wohingegen ihre ökonomische Vulnerabilität entschieden größer war. Die Haushaltseinkommen waren in der Regel gesunken, die Menschen verloren Jobs und konnten ihre Waren nicht mehr absetzen.“ Er nennt Beispiele aus Indien, Kenia, Namibia, Mosambik, Ghana und der Elfenbeinküste. Es wäre an der Zeit, „aus der durch die Pandemie offengelegten Vulnerabilität des globalen Südens Lehren zu ziehen. Eine dieser Lehren besteht darin, dass autonome Programme der Landesentwicklung nicht funktionieren, wenn sie Marktrealitäten schlicht ignorieren oder es versäumen, interne Hemmnisse zu überwinden.“

Kwame Anthony Appiah beschreibt am Beispiel Ghanas, einem der größten Exporteure von Kakao, den Versuch, „sich nicht länger vom Rohstoffexport abhängig (zu) machen“ und „selbst in die Schokoladenproduktion ein- und in der Wertschöpfungskette weit auf(zu)steigen“. Ob dieser Versuch der Autarkie langfristig halten wird, ist eine andere Frage und hängt nicht zuletzt von einer anderen großen Krise unserer Zeit ab, der Klimakrise, die die Länder des globalen Südens massiv bedroht. Kwame Anthony Appiah zitiert die Weltbank, die prognostiziert, dass „die pandemiebedingten Unterrichtsausfälle 72 Millionen Schülerinnen und Schüler, Auszubildende und Studierende in (…) ‚Lernarmut‘ zu stürzen drohen, (…). Wir haben es hier vielmehr mit einer immensen Verschwendung von menschlichem Potential zu tun.“ Das wäre die dritte Krise neben Pandemie und Klimakrise. Über innerstaatliche Konflikte zwischen rivalisierenden bewaffneten Gruppen ist damit noch kein Wort gesagt. „Deshalb dürfen wir die Pandemie nicht als eine aus heiterem Himmel über uns hereingebrochene Gesundheitskrise auffassen. Sie ist etwas viel Umfassenderes.“

Modell China oder Green New Deal?

Adam Tooze konzentriert sich in seinem Buch auf das Verhältnis zwischen China auf der einen Seite und den USA und der Europäischen Union auf der anderen Seite. USA und EU agieren nicht harmonisch, weder innerhalb der EU noch innerhalb der USA besteht Einigkeit. Vorschläge wie etwa der Green New Deal ließen sich nicht konsensual beraten. Das hatte allerdings verschiedene Gründe. Adam Tooze nennt dies „eine bitte historische Ironie“: „Während die Verfechter des Green New Deal eine politische Niederlage einstecken mussten, bestätigte das Jahr 2020 auf durchschlagende Weise den Realismus ihrer Diagnose.“ Der Green New Deal war eine Reaktion nicht nur auf die Krisen von Klima und Artenschutz, sondern auch auf die Finanzkrise von 2008. Die Pandemie „bestätigte (…) die wesentlichen Einsichten ökonomischer Doktrinen, die einst von radikalen Keynesianern vertreten worden waren und von Lehren wie der Modern Monetary Theory (MMT) neu in Mode gebracht wurden. Die Staatsfinanzen sind nicht wie die eines privaten Haushalts begrenzt.“ Die von Angela Merkel zitierte „schwäbische Hausfrau“ eignet sich eben nicht als Modell für staatliches Handeln.

Adam Tooze: „Das Ausmaß der stabilisierenden Interventionen im Jahr 2020 war beeindruckend. Es bestätigte die grundlegende Aussage des Green New Deal, dass demokratische Staaten, wenn der Wille vorhanden ist, über die nötigen Instrumente verfügen, um Kontrolle über die Wirtschaft auszuüben.“ Andererseits war all dies „krisengetrieben“, eine langfristige nachhaltig denkende Strategie war damit nicht verbunden. Wurden gegenwärtige Krisen im Zusammenhang gesehen und zukünftige Krisen antizipiert? Gab es eine präventiv angelegte Politik? Im zweiten Teil seines Buches – Titel „Eine globale Krise ohne Beispiel“ – referiert Adam Tooze die verschiedenen Ansätze der Staaten zur Bewältigung der Pandemie. Im dritten Teil beschreibt Adam Tooze, wie die USA unter Donald J. Trump diverse Akteure China in die Arme trieb, nicht nur ärmere Staaten, sondern auch reiche Industriestaaten wie Südkorea und Japan. Es entstanden neue Verbindungen wie die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), die von China betriebene Politik gewann an Attraktivität, sodass sich „der australische Bundesstaat Victoria gegen den ausdrücklichen Wunsch der nationalen Regierung in Canberra als Mitglied der ‚Belt and Road‘-Initiative bewarb.“ Nur Indien verpasste den Anschluss, alle umliegenden Staaten schlossen sich der „Belt and Road“-Initiative an.

Die USA verpassten die Entwicklung, agierten im Grunde orientierungs- und hilflos. „Die KPCh war in der Tat ein ideologischer Gegenspieler, aber war eine ‚Eindämmung‘ Chinas eine realistische Perspektive für das 21. Jahrhundert oder ein verzerrter Nachhall des Kalten Kriegs mit der Sowjetunion? (…) Was in Washington als neuer Realismus angepriesen wurde, war in Wirklichkeit Ausdruck einer zunehmenden nationalen Krise in den Vereinigten Staaten, welche die wirtschaftliche und politische Kräftekonstellation durcheinanderbrachte und die amerikanische Verfassung selbst in Frage stellte.“ Diese Entwicklung wirkte sich auch in Europa, auch in Deutschland aus. Ein Symptom war der gescheiterte Versuch der ZEIT, ein Streitgespräch zwischen Repräsentant*innen von Huawei und Vertreter*innen der deutschen Wirtschaft zu organisieren. Aus der deutschen Wirtschaft war niemand bereit, sich an dem Streitgespräch zu beteiligen. Zu groß war die Furcht vor Sanktionen Chinas, zu ängstlich achteten die angefragten Vertreter*innen der deutschen Wirtschaft darauf, nur ja nichts zu äußern, was ihre chinesischen Partner verärgern könnte. Hongkong, das Schicksal der Uiguren und vieles mehr, all dies war offenbar tabu und wurde nur anonym und hinter vorgehaltener Hand benannt.

China scheint ein attraktives Modell für den Aufstieg eines Entwicklungslandes zu bieten. Ich habe dies vor etwa 20 Jahren bereits einmal gesagt. Damals wollte mir kaum jemand glauben, dass die Koppelung wirtschaftlichen Aufstiegs und einer in höchstem Maße repressiven Politik gegenüber Opposition im Innern erfolgreich sein konnte. Zu sehr waren meine damaligen Gesprächspartner*innen noch der These verhaftet, dass eine mehr oder weniger soziale Marktwirtschaft und eine liberale Demokratie einander bedingen beziehungsweise dass Marktwirtschaft illiberale Diktaturen verhindert. Heute ist der Begriff der „illiberalen Demokratie“ in manchen Staaten populär, aber vielleicht nur eine Vorstufe zu einem autoritären Regime

Fragile Demokratien

Das gilt nicht nur für China. Timm Beichelt hat in der Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 3. Januar 2022 über „Transformation und Posttransformation“ in den ost- und südosteuropäischen Staaten seit 1989 geschrieben. „Zwar lässt sich kaum behaupten, dass ausgerechnet Autokratien mit diesen und weiteren Problemen besser zurechtkommen als Demokratien. Durch Repression und Zensur lassen sich dort allerdings die Debatten um die Problemlösung unterdrücken, und durch gezielte Kommunikation lassen sich Kontroversen in Demokratien als grundsätzliche Uneinigkeit darstellen Entsprechende Strategien sind insbesondere für Russland hinlänglich dokumentiert worden.“

Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela haben versucht, die Struktur nationaler und internationaler Debatten zur Pandemie und zu Perspektiven in einer Zeit nach der aktuellen Pandemie zu untersuchen. Ihre Methode orientiert sich an Thesen von Judith Butler (beispielsweise in „The Force of Nonviolence“ aus dem Jahr 2020). „Butler verwendet zwar den Begriff der Fragilität nicht, ihr Verständnis von Vulnerabilität ist jedoch sehr ähnlich mit dem, was wir unter Fragilität verstehen.“ Soziale Beziehungen sind individuell wie kollektiv gesehen immer instabil, und diese Instabilität oder Fragilität oder Vulnerabilität sollten als leitendes Prinzip politischen Denkens, Planens und Handelns verstanden werden können. Der verzweifelte Hilferuf von George Perry Floyd vom 25. Mai 2020 ist symptomatisch: „I can’t breathe“. Es geht um Inklusion und Exklusion. „Im Kern – und auf unsere Perspektive angewendet – geht es um die Fragen: Wer darf welches Territorium bewohnen? Wer darf meine Luft einatmen? Die Anwesenheit welcher Menschen wird als erstickend wahrgenommen? Wer verbreitet schlechte Luft?“

Es geht um Wissen und Unwissen sowie die Wirkungen, die der Umgang mit Wissen und Unwissen auf Menschen, aber auch auf Gruppen oder sogar ganze Staaten hat, es geht um – so schreibt es Hayat Erdoğan in ihrem Vorwort – „eine Theorie der Fragilität, eine die das eigene fragile Denken genauso anerkennt wie die Zerbrechlichkeit des Lebens im Allgemeinen. Die Autor*innen gehen das Wagnis ein, die Unsicherheit der Pandemie in Worte zu fassen und das Unbegreifliche zu vermitteln.“ Sie vertreten die These, dass manches, was sich mit und nach der Pandemie entwickele, möglicherweise zu völlig anderen Ergebnissen führen mag als von den handelnden Personen beabsichtigt. Der Einleitung geben sie den Titel „Post/pandemische serendipity“.

Jede Forschungsfrage kann daher möglicherweise zu anderen Ergebnissen führen als gewünscht, möglicherweise auch an den eigentlichen Themen vorbeigehen. „Wir hatten keine festgelegte Forschungsfrage (wenn auch viele drängende Fragen).“ Die Autor*innen nennen „die Frage der Fragilität“, die Frage nach „Solidarität“ in einer Gesellschaft, in der „Berührungen und Treffen unter Freund*innen illegitim sind“, „Zugehörigkeit in einer Welt, die gleichzeitig entgrenzt und begrenzt erscheint“. Was ist mit Verführbarkeit und Resilienz, welche Rolle spielen „die postkolonialen Kontinuitäten im digitalen Zeitalter“? Vielleicht ist die von den beiden Autor*innen gewählte Methode die einzige Methode, mit der sich Leben in und nach der Pandemie überhaupt erfassen und denken lässt, stets als etwas Vorläufiges, Risikobehaftetes: „Deshalb ist es durchaus sinnvoll, dass wir uns zick-zack-förmig durch Texte, Theorien, Bilder, Filme und Poesie bewegen und dabei unser Denken von zuvor Nicht-Gedachtem kontaminieren lassen. Zuweilen ist es auch zielführend, jenen zuzuhören, die nicht das sagen, was wir selber sagen würden. Nur so können wir den sozialen Blasen entkommen, die uns ein trügerisches Selbstbewusstsein bescheren.“

Und vielleicht entsteht aus einer solchen Methode so etwas wie eine konkrete Utopie einer gerechte(re)n Welt? „Ein post/pandemisches Leben ruft nach neuen Formen der Solidarität und nach der Fähigkeit, den uns einengenden Dystopien neue planetarische Utopien entgegenzustellen.“ Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela sind davon überzeugt, „dass wir weiterhin einer Utopiefähigkeit bedürfen.“ Diese Position hat María do Mar Castro Varela bereits 2007 in ihrem ebenfalls bei transcript erschienenen Buch „Unzeitgemäße Utopien: Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und gelehrter Hoffnung“ vertreten. Sie bekräftigt sie jetzt: „Denn Utopien ermöglichen, sofern sie nicht von Selbstkritik entkoppelt sind, eine Re-Politisierung und eröffnen so Handlungsmacht.“

Die faschistische Versuchung

Die größte Gefahr für eine zukunftsfähige Politik ist vielleicht die Entpolitisierung der Politik. Politik ist in vielen Wahlkämpfen zu einer Art Konsumgut verkommen. Gewählt werden diejenigen, die bestimmte Leistungen versprechen, die versprechen zu „liefern“, wie gerne verkündet wird. Die Wähler*innen bestellen, die Gewählten liefern oder werden – falls sie dies in den Augen der Wähler*innen nicht tun – wieder abgewählt. Meines Erachtens erklärt diese Entwicklung auch, warum ursprünglich links, sozialistisch oder kommunistisch wählende Menschen inzwischen zu Wähler*innen von Parteien der neuen Rechten geworden sind. Die polnische PiS hat das begriffen, indem sie ihre Wähler*innen mit lukrativen Sozialprogrammen zufriedenstellt und alles Übel dieser Welt auf anti-polnische Einflüsse zurückführt, vor allem auf Feminismus, Islam und Queers. Der ungarische Staatschef verteilt, um seine Wiederwahl fürchtend, soziale Wohltaten bis hin zu einer Einfrierung von Lebensmittelpreisen.

Die Pandemie triggert Einstellungen und Verhaltensweisen, Rassismus und Antisemitismus. „Antisemitisches und rassistisches Wissen entsteht nicht durch Verschwörungserzählungen und ebenso wenig durch Ängste und Unsicherheiten – es wird dadurch lediglich mobilisiert.“ Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela spielen mit der gemeinsamen Etymologie der Begriffe „Influenza“ und „Influencer“. Sie verweisen darauf, dass Texte wie „Die Protokolle der Weisen von Zion“ kaum gelesen aber oft zitiert werden. „Der Text erscheint geheimnisvoll, sodass die Lesenden das Gefühl haben, etwas zu erfahren, was sonst keine*r weiß.“ Für die fatale Wirkung reicht Mund-zu-Mund-Propaganda, die sich heute angesichts der sogenannten „sozialen Netzwerke“ in atemberaubender Geschwindigkeit verbreitet. Und wenn sich genügend Menschen finden, die solchen Thesen zustimmen, entsteht ein gefährliches Gewaltpotenzial. „In der Masse sind Menschen aber in der Lage, irrational und unethisch zu handeln und sogar mörderische Auseinandersetzungen zu rechtfertigen.“

Gefährlich sind nicht die sozialen Netzwerke, gefährlich sind die Ängste vieler Politiker*innen, die sich wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange vor dem nächsten „Shitstorm“ fürchten. Ihre Ängste begünstigen diejenigen, die keine Gewalt scheuen, ihre Ansichten als die einzig wahren durchzusetzen. Es geht letztlich um die Frage einer kritischen Masse, mit der – marxistisch gedacht – Quantität in Qualität umschlägt. Eben dies geschah Ende der 1920er Jahre im damaligen Deutschen Reich und führte dazu, dass binnen weniger Monate nach der Übernahme der Kanzlerschaft durch Adolf Hitler am 30. Januar 1933 ein ganzes Land unter die Herrschaft einer gewalttätigen antisemitischen Partei und ihrer Hilfstruppen geriet und die Mehrheit der in diesem Land lebenden Menschen dies guthieß. Andreas Nachama, der langjährige Direktor der „Topographie des Terrors“ hat dieses Tempo in seiner Chronologie des Terrors „12 Jahre – 3 Monate – 8 Tage“ eindrucksvoll dokumentiert.

Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela beziehen sich auf Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“ (1895) sowie Sigmund Freunds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921): „Die Masse entlastet von Verantwortung: nach dem Motto: ‚Ich tue etwas, weil alle anderes es auch tun.‘ In der Masse sind Menschen eher in der Lage, irrational und unethisch zu handeln und sogar mörderische Auseinandersetzungen zu rechtfertigen. Wie bereits erwähnt, konnte beim Genozid an den Rohingyas beobachtet werden, auf welche Weise online verbreitete Hassrede zu mörderischen Assemblagen führten. Die einstige UN-Sonderberichterstatterin in Myanmar, Yanghee Lee, ist überzeugt davon, dass Facebook einen großen Teil des öffentlichen Lebens Myanmars ausmacht und dass die Regierung des Landes dies nutzte, um Informationen und Hassrede öffentlich zu verbreiten.“ Die Zustimmung einer großen Mehrheit in der chinesischen Öffentlichkeit zu den Maßnahmen der Staats- und Parteiführung zur Bekämpfung der Demokratiebewegung in Hongkong, selbst innerhalb von Hongkong, ist ein weiteres Beispiel.

Es ist das Elend liberal-demokratischer Akteur*innen, dass autoritäre Regime mit Mehrheiten argumentieren können. Im Grunde kippen autoritäre Regime irgendwann – und die Beispiele zeigen, wie schnell und nachhaltig dies möglich ist – in eine totalitäre Massenbewegung. Von der „illiberalen Demokratie“ könnte ein direkter Weg über „Autoritarismus“ zu „Totalitarismus“ zu führen. Ein Staatsstreich ist dazu nicht erforderlich. Polen, Ungarn, die Türkei, Russland belegen dies. „Die Fragilität gewonnener Rechte kann nicht immer dadurch erklärt werden, dass scheinbar aus dem Nichts eine faschistische Regierung an die Macht kommt. Menschenrechte können sich auch ohne einen Regierungswechsel oder Systemwechsel verschlechtern.“ China war nie eine Demokratie. Die anderen genannten Staaten waren liberale Demokratien oder auf dem Weg dazu, haben diesen Weg jedoch aufgegeben. Staaten wie Myanmar oder Ägypten zeigen, was geschieht, wenn es Demokratiebewegungen nicht gelingt, die herrschenden Militärs von jeder Machtposition zu entfernen, Staaten wie Thailand, Südafrika oder Zimbabwe, was geschieht, wenn demokratische Eliten frei nach George Orwells „Animal Farm“ (1945) Verhaltensweisen der alten Eliten adaptieren.

Bei neuen faschistoid verfassten Bewegungen, die vielleicht nicht von vornherein als faschistisch markiert werden können, aber Verhaltensweisen faschistischer Parteien übernehmen und verstärken, dominieren Gefühle und erreichen über diese Gefühle sie zunächst skeptisch beobachtender Akteure der sogenannten „Mitte“. „Nicht Rationalität oder die Stringenz ihrer Argumente machen ihre Stärke aus, im Gegenteil, ihre Irrationalität macht diese Geschichte geradezu unwiderlegbar, denn sie folgen keinen nachvollziehbaren Mustern. Dennoch binden sie Gruppierungen der rechten Ränder mit Kreisen aus der Mitte. Sie nutzen hegemonietheoretische Überlegungen und gehen neue Allianzen ein, die ihre Macht deutlich vergrößert.“ Theoretiker*innen der neuen Rechten lesen nicht nur Carl Schmitt, sondern auch Antonio Gramsci, den sie ohne mit der Wimper zu zucken vereinnahmen und umwerten.

Diejenigen, die glauben, dass die liberale Demokratie in Deutschland stark genug ist, autoritären und totalitären Versuchungen, die auf der Leugnung von Fakten beziehungsweise deren Umwertung beruhen, zu widerstehen, sind laut Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela „gefährlich naiv. Demonstrationen, zu denen während einer Pandemie 20.000 Menschen mobilisiert werden können, sich nicht zu verharmlosen – sei stellen nur die Spitze des Eisberges dar.“ Und diese Demonstrationen agieren dezentral, sodass die Zahl von 2.000 oder 20.000 Teilnehmenden bundes- oder sogar europaweit gezählt deutlich höher angesetzt werden muss. „Ganz gleich, als wie klein diese Bewegungen eingeschätzt werden, ihr umstürzlerisches Potential darf nicht verkannt werden.“

Die Anliegen dieser Bewegungen dürfen auch nicht ausschließlich aus deren Forderungen zur Pandemie abgeleitet werden. Auch dieses Thema ist nur „die Spitze des Eisberges“ einer mehr oder weniger geschlossenen oder sich schließenden Weltanschauung: „Die Analyse der post/pandemischen Migrationspolitik und des europäischen Grenzregimes muss verflochten werden mit Überlegungen über die Demonstrationen von Querdenker*innen.“ Wenn wir die prognostizierbaren Migrationsbewegungen, die durch die schleichende Erderwärmung ausgelöst werden, oder die Möglichkeit der Verbreitung noch unbekannter Krankheiten aufgrund der immer enger werdenden Räume für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten bedenken, liegt dies auf der Hand. „Pandemien sind Fragilitäts-Katalysatoren und funktionieren zudem wie ein Vergrößerungsglas: Sie lassen uns das erkennen, was nicht evident ist. Anderseits wirken sie wie ein Brennglas und können rasch einen schwerlöschenden Brand auslösen.“ Niemand weiß, wie zu einem späteren Zeitpunkt ein Sturm auf das Capitol, wie wir ihn am 6. Januar 2021 erlebten, ausgehen wird, niemand weiß, ob es nicht doch eines Tages einer Art rechter „Sturmabteilung“ gelingen wird, das Reichstagsgebäude nicht nur – wie am 29. August 2020 geschehen – zu bedrohen, sondern zu stürmen.

Which Life matters?

Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela beschreiben, wie wissenschaftliche Erkenntnisse bis zur Unkenntlichkeit verfälscht werden. Sie beziehen sich auf einen Aufsatz von Robert Proctor aus dem Jahr 2008 mit dem Titel „Agnotology – A Missing Term“ (in: Robert Proctor, Londa Schiebinger, Hg., The Making & Unmaking of Ignorance, Standford University Press). „Agnotologische Vorgehensweisen sind im Modus Operandi des Nekrokapitalismus zentral. Mit ihnen werden Zweifel gestreut, um den eigenen Profit nicht zu gefährden. Das konstante wirre Debattieren erschwert und verhindert konkretes Handeln. Dies ist auch deswegen problematisch, weil Zweifel zu den essentiellen Grundlagen für kritisches Denken gehören.“ „Agnotologie“ ist die Lehre vom Nicht-Wissen, „Nekropolitik“ eine durchaus polemisch gemeinte Benennung des Gegenteils von „Biopolitik“. Letztlich stellt sich die Frage, wie viele Tote jemand in Kauf nimmt, um seinen eigenen Gewinn zu sichern. Das lässt sich – so Robert Proctor – mit dem Handeln der Tabakindustrie, der Bauindustrie im Hinblick auf Baustoffe, der Autoindustrie belegen. Letztlich bedeutet dies: „Which life matters“?

„Fragilität“ und „Vulnerabilität“ sind eine Grundlage jeder verantwortungsvollen Politik, sollten es zumindest sein. Demokratie ist eben nicht bloß die Frage von Mehrheiten, sondern vor allem auch eine Frage des Respekts vor Minderheiten. Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela berufen sich auf John Stuart Mills „On Liberty“ (1859) und Hannah Arendts „Wahrheit und Lüge“ (1964). Hannah Arendt verwies darauf, dass es „einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt“, John Stuart Mill betonte, „Freiheit auf Kosten anderer ist keine Freiheit.“ Wer jedoch „Freiheit“ und „Wahrheit“ verabsolutiert und ausschließlich aus den eigenen Spielräumen und dem eigenen gefühlten Wissen definiert, zerstört jede Möglichkeit zum Dialog. Das, was Adam Tooze die „dritt- und viertbesten Optionen“ nannte, verschwindet. Jede*r hat nur noch eine einzige Option.

Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela fordern Vielfalt des Wissens, das sich an fragilen Biographien und Kontexten orientiert, die jedoch im öffentlichen Diskurs viel zu oft „an die Ränder des Wissenschaftlichen gedrängt und als ideologisch abgestempelt“ werden. „Das gilt für queere Ansätze, postkoloniale Perspektiven, feministische Theorien, rassismuskritisches oder auch diasporisches Wissen.“ Diese Perspektiven lassen sich mit den Fakten, die Kwame Anthony Appiah referiert, verbinden. Letztlich geht es um transnationale – nicht nur internationale – Vorgänge und entsprechendes politisches Handeln. Anderenfalls droht eine Triage, die gegenüber bestimmten Gruppen, gegenüber bestimmten Ländern bereits stattfindet. Es sind all diejenigen bedroht, deren Leben, deren geistige wie körperliche Integrität und Identität in den politischen Verlautbarungen der jeweiligen Regierungen weniger zählt. „Zudem geht es um eine gewaltvolle Differenzpolitik, die alles dafür tut, die einen zu retten, sich aber nur wenig darum schert, wenn andere ihr Leben (symbolisch oder faktisch) verlieren.“

Dies lässt sich mit einem Gedicht von Zoe Leonard mit dem Titel: „I want a dyke for president“ illustrieren. Warum sollen nicht diejenigen regieren, „deren Leben schon immer fragil waren oder fragilisiert wurden. (…) Warum lernen wir von klein auf, dass Präsident*innen immer stark sind und niemals zerbrechlich.“ Eigene Schwäche zugeben, die eigene Unvollkommenheit akzeptieren, die eigenen Fragen benennen – das könnte ein Weg in eine Welt werden, die tatsächlich so etwas wie eine an einem inklusiv definierten Gemeinwohl orientierte Politik ermöglicht: „Es ist daher an der Zeit, die Erzählung eines ‚guten Lebens‘ durch die eines ‚fragilen Lebens‘ zu ersetzen.“ Das wäre dann eine „Normalität“ jenseits jeder Exklusion, die lediglich das „Glück der Wenigen“ bedenkt. „Die Pandemie hat uns erneut gezeigt, dass nicht nur das menschliche Leben, sondern auch die soziale Ordnung fragil ist.“

Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela verweisen auf Albert Camus‘ Docteur Rieux, der angesichts der Freudentänze der Bevölkerung von Oran darüber nachdenkt, dass die „diese Freude immer bedroht ist. Denn er wusste, was diese fröhliche Menge nicht wusste und dass man in den Büchern lesen kann, dass das Bazillus der Pest weder jemals stirbt noch verschwindet, dass es Dekaden in den Möbel und der Wäsche schlafen mag, dass es geduldig in den Schlafzimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und Papierstapeln wartet und dass vielleicht der Tag kommen werde an dem zum Unglück und zur Lehre der Menschen die Pest ihre Ratten wieder erweckte und sie zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.“ (Übersetzung NR) Vielleicht hätte ich „ignorer“ statt mit „nicht wissen“ mit „ignorieren“ oder mit „weder wissen noch wissen wollen“ übersetzen sollen, denn eben dies ist vielleicht der Kern. Oder im Sinne eines Ende 2021 erschienen Films: „Don’t Look Up“.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Für den Hinweis auf das Buch von Adam Tooze danke ich Christopher Reichel. Erstveröffentlichung im Januar 2022, Internetzugriffe zuletzt am 10.1.2022.)