Ein utopischer Visionär

Kim Stanley Robinson – Erzähler des Klimawandels

„Wir wissen auch, dass wir uns als soziale Primaten entwickelt und durch unaufhörliche Solidarität und gegenseitige Hilfe überlebt haben und in unseren Kräften gewachsen sind, sodass Altruismus genauso tief steht wie Egoismus. Nur wenn wir miteinander kooperieren und uns um alle lebenden Elemente kümmern, können wir als Zivilisation gedeihen.“ (Kim Stanley Robinson im Gespräch mit Fritz Heidorn, in: Heidorn / Robinson, Erzähler des Klimawandels, Berlin, Hirnkost, 2022)

Kim Stanley Robinson (links) und Fritz Heidorn. Foto: privat.

Kim Stanley Robinson ist einer der besten Science Fiction Schriftsteller der Gegenwart, spezialisiert auf Themen für den nahen Zukunftsbereich, insbesondere auf die Auswirkungen des Klimawandels. Sein Roman Das Ministerium für die Zukunft (2021, The Ministry for the Future, 2020) ist eine Fundgrube für die Diskussion des Themas Klimawandel und wurde zu einem internationalen Bestseller. Robinson hat sich in dem Werk nicht das erste Mal mit dieser komplexen Menschheitsthematik beschäftigt. Seine erste Erzählung zum Thema Klimawandel ist die Kurzgeschichte Venice Drowned (1981) und seine erste größere literarische Bearbeitung des Themas Klimawandel findet sich in der Science-In-The-Capital-Trilogie, die bislang noch nicht auf Deutsch erschienen ist: Forty Signs of Rain (2004), Fifty Degrees Below (2005) und Sixty Days and Counting. Diese Trilogie war der Anlass für unser erstes Treffen in Davis, Kalifornien, im Jahre 2007. Seitdem verbindet uns eine literarische Freundschaft.

Lebenslauf

Kim Stanley Robinson wurde am 23. März 1952 in Waukegan, Illinois, geboren und zog mit seinen Eltern zwei Jahre später nach Orange County, Kalifornien, um. Zur Science Fiction kam der junge Student Robinson, als er im Jahre 1971 auf dem College war und seine Liebe zu dieser Literaturgattung verstärkte sich im Laufe seines Studiums. Robinson studierte Literaturwissenschaft an der University of California – San Diego (UCSD), an der er im Jahre 1974 seinen B.A. in Literaturwissenschaft erhielt. In dieser Zeit entwickelte er die Idee für eine Trilogie von Romanen, die sich mit unterschiedlichen Zukunftsentwicklungen von Süd-Kalifornien beschäftigen würden. Daraus entstanden die Romane The Wild Shore (1984, deutsche Ausgabe: Das Wilde Ufer, 2016, Heyne), The Gold Coast (1988, deutsche Ausgabe: Goldküste, 2016, Heyne), Pacific Edge (1990, deutsche Ausgabe: Pazifische Grenze, 2016, Heyne).

Robinson verließ Kalifornien für kurze Zeit, um seinen M.A. in Englisch an der Boston University im Jahre 1975 zu machen und kehrte dann an die UCSD zurück, um mit einer Dissertation über die Romane von Philip K. Dick seinen Doktortitel in Literaturwissenschaften, den Ph.D., zu erwerben. Einer seiner Betreuer für die Dissertation Arbeit war Fredric Jameson, der ihn zu der Arbeit über Philip K. Dick ermutigte, weil er diesen für den größten amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart hielt. „Der Doktortitel war ein Job, er hat mich bezahlt.(…). Doktortitel in englischer und amerikanischer Literatur mit ein bisschen Französisch drin, also kenne ich diese Literatur. Fredric Jameson (für Französisch) als Berater, der sagte: Ja, schreib über Philip K. Dick, er ist der größte amerikanische Schriftsteller.“ Robinson bekam seinen Doktortitel im Jahre 1982 und veröffentlichte seine Arbeit in veränderter Form auch in Deutschland, erschienen als Die Romane des Philip K. Dick (2005) im Shayol Verlag Berlin.

Im Jahre 1978 war Robinson für einen Unterbrechungszeitraum von seiner Dissertation nach Davis, Kalifornien, gezogen und lernte dort seine spätere Frau, Lisa Howland Nowell, eine Umweltchemikerin, kennen. In dieser Zeit arbeitete Robinson in einem Buchladen und begann seine Bergwandertouren in der Sierra Nevada von Kalifornien mit steigender Intensität. Nach dem Abschluss seiner Promotion im Jahre 1982 zog Robinson zurück nach Davis, Lisa und er heirateten und bekamen später zwei Söhne. Robinson unterrichtete an der University of California in Davis Studienanfänger in Literatur und intensivierte sein Schreiben. Lisa und er gingen dann für ein Post-Doc-Studium seiner Frau für zwei Jahre nach Zürich in der Schweiz und lebten dort in den Jahren 1986 und 1987, zwei der besten Jahre ihres Lebens, wie Robinson in einem Artikel für eine Zeitschrift in Zürich im Jahre 2021 schreibt. Für den Weg von Kalifornien nach Zürich nahmen sie sich vier Monate Zeit und machten Station in Thailand, Nepal, Ägypten, den griechischen Inseln Kreta, Rhodos und Santorini, Venedig und von dort aus mit dem Zug über die Alpen nach Zürich. Aus dieser Reise, insbesondere dem Trekking in Nepal, sowie aus dem Aufenthalt in der Schweiz sind mehrere Ideen für Romane von Kim Stanley Robinson entstanden.  Robinson begann sein Leben als professioneller Schriftsteller.

Nach dem Aufenthalt in der Schweiz gingen die Robinsons für vier Jahre nach Washington, D.C., wo seine Frau als Chemikerin arbeitete und er ein Leben als Schriftsteller und Erzieher seines ersten Sohnes David verbrachte. Die später erschienen Trilogie Science in the Capital ist maßgeblich in dieser Zeit entstanden: Forty Signs of Rain (2004), Fifty Degrees Below (2005), Sixty Days and Counting (2007). Im Jahre 1991 zogen die Robinsons zurück nach Davis und erwarben ein Haus in einer Gemeinschaftswohnanlage, in Village Homes. Der zweite Sohn Tim wurde geboren. Lisa Nowell arbeitet seitdem als promovierte Umweltchemikerin beim United States Geological Survey/USGS und dem California Water Science Center und Kim Stanley Robinson als zunehmend berühmt werdender Schriftsteller.

Der Werdegang zum Schriftsteller, erste Veröffentlichungen

Die erste verkaufte und publizierte Erzählung von Kim Stanley Robinson basiert auf einer Förderung durch die Organisatoren des CLARION-Schreibwettbewerbs, von dessen Verkauf Robinson zunächst einmal gar nichts wusste. Er hatte sich im Sommer 1974 für eine Teilnahme am CLARION beworben, war angenommen worden, konnte allerdings in diesem Jahr nicht teilnehmen, weil er in Boston war. In den USA sind die CLARION-Schreibwerkstätten für angehende Science Fiction Schriftstellerinnen und Schriftsteller von sehr großer Bedeutung bei der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und beim Aufbau von Netzwerken. Die Gründer des CLARION sind Damon Knight und Kate Wilhelm. Die nach Meinung vieler Autoren beste Anleitung zum Schreiben von Science Fiction ist das Buch von Damon Knight „Creating Short Fiction“ (1981). Er schreibt darin über Schriftsteller die folgenden bemerkenswerten leicht ironischen, aber für die Zeit gültigen Sätze: „Psychologen haben ein wenig über die Persönlichkeiten von Schriftstellern herausgefunden. Sie sind Individualisten, Skeptiker, Tabubrecher, Spötter, Einzelgänger; sie sind unzuverlässig, bleiben oft mit ihrer Miete im Rückstand; sie haben unregelmäßige Arbeitszeiten und seltsame Freunde. Professionelle Schriftsteller leben, wie Kriminelle, wirklich außerhalb der Gesellschaft: Sie haben keine regulären Jobs, sie kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, sie leben von ihrem Verstand.“

Und über den Beruf der Schriftstellerei sagte er: „Meiner Erfahrung nach sind Schriftsteller wissbegieriger als die meisten Menschen; sie sind intelligenter, interessanter im Gespräch und unkonventioneller in ihrer Einstellung. Schriftsteller sind Menschen, die nicht gerne für andere Menschen arbeiten. Sie haben ein lebhaftes Fantasieleben, und sie haben das Bedürfnis, ihre inneren Erfahrungen in einer Form auszudrücken, die man sehen, hören oder anfassen kann.“

Robinson hatte zwei Erzählungen als Teil seiner Bewerbung für CLARION eingereicht und eine davon trug den Titel In Pierson’s Orchestra, die später zum ersten Kapitel von The Memory of Whiteness (1985) wurde. Robinson durfte im nächsten Jahr am CLARION-Schreibwettbewerb teilnehmen und die Organisatoren hatten seine Story, ohne ihn zu informieren, an Damon Knight zur Veröffentlichung in der Zeitschrift ORBIT geschickt. Dieser nahm die Story an und veröffentlichte sie in „ORBIT 18“ (1976), zusammen mit der zweiten verkauften Erzählung von Robinson, mit Coming Back to Dixieland. In dieser Erzählung geraten einige Asteroidenarbeiter, die als Hobby traditionellen Jazz spielen, in einen Musikwettstreit mit Musikern, die abstrakte futuristische Musik bevorzugen, und gewinnen den Wettbewerb durch ihren Einsatz von Herz und Seele in ihrer traditionellen Musik. Die nächsten Veröffentlichungen wurden ebenfalls von Damon Knight ermöglicht, der gemeinsam mit seiner Frau Kate Wilhelm zu einem Freund und Förderer von Robinson geworden war. Die Kurzgeschichte The Disguise wurde in Orbit 19 (1977) veröffentlicht und die Story On the North Pole of Pluto als letzte Erzählung der letzten Ausgabe von Orbit, in Orbit 21 (1980).

Lernen von Ursula K. Le Guin: die klare Linie

Eine wichtige Förderin von Robinson war Ursula K. Le Guin, die er an der Universität von San Diego in einem Schreibwettbewerb traf und die ihn zum Schreiben ermutigte und herausforderte. Mit ihr hat Robinson später eine Reihe von Veranstaltungen und Lesungen in den USA durchgeführt. Sie waren bis an ihr Lebensende befreundet. Einige Videos kann man auf Youtube finden. Robinson sagt über Ursula K. Le Guin: „Ich habe von (Ian Banks) und von Le Guin gelernt. Sie ging immer direkt zum Kern der Widersprüche: Wenn jeder frei ist zu tun, was er will, wer bringt dann den Müll raus? Was passiert, wenn es eine Dürre gibt? Gibt es eine Polizei? Und wenn nicht, wie kontrolliert man einen gewalttätigen Menschen? In „Die Enteigneten“ ging sie im Grunde auf jedes einzelne der Probleme ein, die eine Utopie in Bezug auf Widersprüche haben würde, und dramatisierte das. Ich habe auch viel von ihr gelernt.“

In dem Youtube-Video Learning From LeGuin der Long Now Foundation erzählt Kim Stanley Robinson von seinem ersten Treffen mit Ursula Le Guin, die im Frühjahr 1977 eine Vorlesung und eine Schreibwerkstatt an der UC San Diego, wo er studierte, abgehalten hatte. Die beiden freundeten sich an und Le Guin unterstützte ihn beim Schreiben und bewerteten seine Ridge Running (1984) als pretty damn good story“, also als „verdammt gute Geschichte“. Robinson hat von Ursula K.  Le Guin vor allem gelernt, die „Clean Line“ zu beherzigen, also die klare Linie beim Schreiben – und beim Surfen, denn aus diesem Sport stammt der Begriff der klaren Linie, die perfekt zu der Welle passt. Robinson sagt selbst, dass ihm dies oft schwerfalle, denn er versuche, alles in seine Erzählungen reinzupacken, was ihm einfalle. Die beiden haben später zusammen den ersten Teil von Star Wars – A New Hope im Kino gesehen, und Robinson erzählt in dem Video, dass sich Ursula Le Guin über dieses Science Fiction Märchen vor Lachen geschüttelt habe.

Umweltaktivist und Science Fiction Schriftsteller

Robinson wurde im Jahre 2008 von Time Magazine als „Hero of the Environment“ für sein umweltpolitisches Engagement ausgezeichnet. Die Zeitschrift The New Yorker hat ihn als einen der wichtigsten politischen Schriftsteller, der heute in Amerika arbeitet, bezeichnet. Robinson hat für seine Romane zahlreiche Preise erhalten, unter anderem im Jahre 2016 den Robert Heinlein Award „für außergewöhnliche Veröffentlichungen im Bereich der Science Fiction oder technischer Veröffentlichungen, die die menschliche Erforschung des Alls inspirieren“ – sowie im Jahre 2017 den Arthur C. Clarke Award for Imagination in Service to Society. Robinson wurde zweimal, in den Jahren 1995 und 2016, von dem U.S. National Science Foundation´s Antarctic Artists and Writer´s Program in die Antarktis geschickt, um Literaturstudien zu betreiben. Entstanden ist daraus der Roman Antarctica (1997, deutsche Ausgabe: Antarktika, 2001, Heyne).

In einem Interview mit John Plotz schildert Kim Stanley Robinson (The Realism of Our Times), was er unter Science Fiction versteht: „Eine andere Sache, die ich seit langem sage, ist etwas ganz anderes: Wir sind jetzt in einem Science Fiction-Roman, den wir alle zusammen schreiben. Was will ich damit sagen? Dass wir alle Science Fiction-Autoren sind, wegen einer mentalen Angewohnheit, die jeder hat und die nichts mit dem Genre zu tun hat. Stattdessen hat es mit Planung und Entscheidungsfindung zu tun, und damit, wie man sich bei seinen Lebensprojekten fühlt. Man hat zum Beispiel Hoffnungen und plant dann, sie zu erfüllen, indem man Dinge in der Gegenwart tut: Das ist utopisches Denken. Währenddessen haben Sie mitten in der Nacht Ängste, dass alles auseinanderfällt, dass es nicht funktionieren wird. Und das ist dystopisches Denken. (…) Es ist also nichts Besonderes, wenn man an Science Fiction denkt. Es ist etwas, das wir alle die ganze Zeit tun. (…) Und die Weltzivilisation steht gerade am Abgrund: Es könnte gut gehen, aber es könnte auch schlecht gehen. Das ist eine gefühlte Realität für jeden. Auch in diesem Sinne ist Science Fiction also der Realismus unserer Zeit. Utopie und Dystopie sind beide möglich, und beide starren uns ins Gesicht. Nehmen wir an, Sie wollen einen Roman darüber schreiben, wie es sich jetzt, hier im Jahr 2020, anfühlt. Sie können es nicht vermeiden, den Planeten einzubeziehen. Es wird nicht um ein Individuum gehen, das in seinem Bewusstsein von sich selbst umherwandert, wie es in modernistischen Romanen oft dargestellt wird. Jetzt gibt es das Individuum und die Gesellschaft, und auch die Gesellschaft und den Planeten. Und das sind sehr stark Science-fiktionale Beziehungen – vor allem die letzte.“

Science Fiction und die Utopie

Kim Stanley Robinson genießt in den USA ein hohes Ansehen nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als politischer und philosophischer Kommentator des Zeitgeschehens und möglicher gesellschaftlicher Veränderungen. Die L.A. Times Review of Books nannte Robinson „unseren letzten großen utopischen Visionär“ und das Magazin The New Yorker bezeichnete ihn als „einen der bedeutendsten politischen Autoren, der heute in Amerika arbeitet“. Kim Stanley Robinson genießt ein hohes Ansehen als moralische Instanz der Science Fiction Literaturszene und ist als fast so bedeutend am Beginn des 21. Jahrhunderts zu Fragen von Klimawandel und Utopien einzuschätzen wie Arthur C. Clarke als Visionär der Weltraumfahrt und geopolitischer Zukunftsdenker im 20. Jahrhundert. Sein Rat wird gefragt und publiziert und seine Bücher haben Bestseller-Status. Sein letztes Buch, The Ministry for the Future (2020), war Teil der Empfehlungsliste von Barack Obama für die besten Bücher des Jahres 2020.

Robinson ist ebenso wie Arthur C. Clarke der Meinung, dass Science Fiction nicht die Zukunft voraussagen kann. Allerdings arbeitet er mit Ideen, Visionen und Modellierungen alternativer und ganz unterschiedlicher Zukunftsvorstellungen, die man auch Visionen verschiedener Zukünfte nennen könnte. In dem bereits genannten Interview mit John Plotz schildert Kim Stanley Robinson, was er unter Science Fiction versteht: „Die Leute denken manchmal, dass es bei Science Fiction darum geht, die Zukunft vorherzusagen, aber das stimmt nicht. Da es unmöglich ist, die Zukunft vorherzusagen, wäre das eine hohe Messlatte für Science Fiction, die es zu überwinden gilt. Sie würde immer scheitern. Und in diesem Sinne versagt sie auch immer. Aber Science Fiction ist eher eine Modellierungsübung oder eine Art zu denken.“

Science Fiction hat nach den Vorstellungen von Robinson eher etwas mit konstruktiver Modellierung zu tun. „Wenn man sich Science Fiction als eine Art Modellierung vorstellt, ist jeder in seinem Leben ein Science Fiction-Autor. Man macht Pläne, die auf Modellierung im Kopf basieren. Wenn man sich hoffnungsvoll fühlt, hat man eine Art utopischen Plan: Wenn man diese Dinge tut, wird man an einen guten Ort gelangen. Und wenn man Angst hat, macht man sich Sorgen, dass man, wenn man diese Dinge tut, an einen schlechten Ort kommt. Die Grundübung der Science Fiction ist also eine ganz natürliche menschliche Sache. Und wenn es dann in langen erzählerischen Formen niedergeschrieben wird, wie in Science Fiction-Romanen, erkennt jeder die Übungen, die damit verbunden sind. Obwohl, wenn ich das sage, merke ich, dass viele Leute eigentlich keine Science Fiction lesen wollen, also erkennen sie nicht, dass die Art und Weise, wie Bücher geschrieben werden, mit dem übereinstimmt, was sie in ihrem eigenen Leben tun. Das ist für mich überraschend, aber es passiert sehr oft. (…)

Jedenfalls ist Science Fiction eine Modellierung, bei der alle Science Fiction zusammengenommen, vor allem die ganzen Nah-Zukunfts-Visionen, die reichen von total schrecklich bis vielleicht ganz nett. Der Katastrophenbereich ist stärker gewichtet als der utopische Bereich, vielleicht, weil es einfacher ist, vielleicht aber auch, weil es schockierender zu lesen ist. Es ist nicht so, als würde man zu Stadtversammlungen gehen und Baupläne für Sanitäranlagen lesen. Das utopische Ende der Science Fiction hat den Ruf, eine langweilige, ‚Eß dein Grünzeug‘-artige Fiktion zu sein, also gibt es davon weniger als von den Katastrophen. Aber es gibt beides. Und wenn man viel davon liest, hofft man, dass man auf alles vorbereitet ist. (…)

Das ist nicht 100%ig wahr, aber man ist vielleicht besser vorbereitet, als wenn man es nicht gelesen hätte. In diesem Sinne denke ich, dass Science Fiction ein großartiges Lehrmittel für Menschen sein kann. Man kann nicht alle Science Fiction lesen, und wenn man nur Space Opera liest, würde man nichts davon erhalten. Denn die Probleme von Raumschiffen, die schneller als das Licht durch die Galaxie fliegen, sind nicht immer unmittelbar auf die Situation anwendbar, in der wir uns hier auf der Erde befinden. Es ist also ein spezifischer Flügel der Science Fiction, von dem ich spreche, der hilfreich sein könnte, wenn die Leute ihn lesen.“

Science Fiction als Realismus unserer Zeit

Kim Stanley Robinson ist ein philosophisch gebildeter und politisch interessierter Schriftsteller der US-amerikanischen Gegenwart, der Erzählungen über die Entwicklung der Menschheit in den nächsten denkbaren Zukunftsvariationen schreibt. Science Fiction in der Definition von Robinson ist naturwissenschaftlich basiert, technologisch interessiert, obwohl diese nicht im Zentrum der Handlungen stehen müssen, sowie ethisch, moralisch, politisch und philosophisch begründet – und – nicht zuletzt, auf gute Entwicklungen hin ausgerichtet.

Science Fiction kann die Zukunft nicht voraussagen, aber Entwürfe für denkbare, machbare, vorstellbare Szenarien liefern, die eine gewisse Eintrittswahrscheinlichkeit besitzen. Robinson bezeichnet Science Fiction als Realismus unserer Zeit und sagt, dass wir in einem großen Science Fiction Roman leben, den wir alle gemeinsam schreiben. Er führt weiterhin aus, dass wir uns mit einigen fundamentalen Problemen konfrontiert sehen, die in der mittleren Zukunft liegen, also in den nächsten 100 oder 200 Jahren. Robinson benennt diese Zeitspanne, in der er bevorzugt seine Erzählungen ansiedelt, als „Zukunftsgeschichte“. Diese Zukunftsgeschichte ist nicht planbar und verläuft nicht gradlinig, sondern ist komplex, kontrovers und widersprüchlich. Von Ursula K. Le Guin habe er gelernt, immer direkt zum Kern der Widersprüche zu gehen und über diese zu schreiben. Dies ist das Zentrum seiner Erzählungen.

Die Zeit der Covid-Pandemie war die Zeit für Science Fiction. Die Realität ist dystopischer geworden und die Science Fiction wird zumindest für einen gewissen Zeitraum realer werden und das wirkliche Leben wird in Science Fiction Romanen auftauchen, die aus der Vergangenheit zu kommen scheinen und die wir alle in der Gegenwart gemeinsam schreiben, um für die Zukunft vorbereitet zu sein. Dies ist nichts Neues für das Genre der Science Fiction und Kim Stanley Robinson selbst hat bereits in seiner Studie über das Werk von Philip K. Dick darauf hingewiesen, dass dieser in seinen ersten Jahren als Schriftsteller die Realität der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft dargestellt habe, um sie einer umfassenden Kritik auszusetzen, die einer Anklage gleiche. In seinen späteren Arbeiten habe Dick dann zunehmend über das Zusammenbrechen der Realität seiner Protagonisten geschrieben. Irgendwie gehören bei Philip K. Dick und bei Kim Stanley Robinson gleichermaßen die Beschreibung von Realität, die Kritik von Realität, die Beschreibung des Zusammenbrechens von Realität und die Konstruktion neuer Realitäten zusammen, allerdings mit dem Unterschied, dass Dick mehr in phantastisch-irrationale Welten abhebt, während Robinson bei nüchtern-realen und nachvollziehbaren Szenarien verweilt.

In einem Interview von Richard Lea mit Kim Stanley Robinson im Guardian (Science fiction: the realism of the 21st century) sagt Robinson: “Ich glaube, ich schreibe Science Fiction, weil ich das Gefühl habe, dass, wenn man Realismus über unsere Zeit schreiben will, Science Fiction einfach das beste Genre ist, in dem man das machen kann. Das liegt daran, dass wir jetzt in einem großen Science Fiction Roman leben, den wir alle gemeinsam schreiben. (…) „Man schreibt innenpolitischen Realismus, und man ist in einem winzig kleinen Teil einer viel größeren Realität gefangen. Man schreibt Science Fiction und schreibt tatsächlich über die Realität, in der wir uns wirklich befinden, und genau das sollten Romane tun. (…) Wir mögen uns in einem sehr steilen Moment des technologischen und historischen Wandels befinden, aber das bedeutet nicht, dass er so steil bleiben oder sich sogar beschleunigen wird. Praktische und theoretische Zwänge, die selbst über Probleme wie den Klimawandel, mit denen wir jetzt kämpfen, hinausgehen, werden uns schließlich bremsen. Ich gehe davon aus, dass es einige fundamentale Probleme gibt, die uns davon abhalten werden, die Dinge viel spektakulärer zu tun, als wir es jetzt tun.“

Zukunftsgeschichte

Robinson sagt über seine Erzählungen in einem Gespräch mit Tascha Robinson (We asked Kim Stanley Robinson: Can Science fiction save us?): „Hier ist, was ich sagen könnte: Es gibt viele verschiedene Arten von Science Fiction. Es gibt die Art, die eine verkleidete Version von heute ist. Es gibt die Space Opera, die uns in die Galaxie entführt, und es ist Millionen von Jahren von jetzt an, und es ist im Grunde genommen Magie. Und dann gibt es diese mittlere Zeit, in der es um verschiedene Zukünfte geht, die etwa 100 Jahre in der Zukunft liegen, vielleicht höchstens 200 Jahre. Ich nenne das „Zukunftsgeschichte“, und das war mein Gebiet. Und sie ist relativ entvölkert, verglichen mit den anderen beiden. Ich habe eine Menge Near-Future, Übermorgen, Science Fiction gemacht, die wirklich im Jetzt spielt, wie der New York-Roman. Ich würde gerne sehen, dass diese Zone wirklich lebendig wird, so dass die Leute anfangen zu sehen, wie wichtig das, was wir jetzt tun, für die nächsten paar hundert Jahre ist, und diese riesige Bandbreite an Möglichkeiten. Ich würde also sagen, mehr Zukunftsgeschichte.“ 

Utopische Wissenschaft?

Kim Stanley Robinson ist einer der Schriftsteller, die vielfältig, tief und anrührend über mögliche Umgänge der Menschheit mit komplexen Zukunftsthemen erzählen. Er hat Visionen unterschiedlicher Zukünfte vorgelegt, in denen sehr vielfältige Narrative kongenial miteinander verschmolzen werden: Aktion, Handlung, Wissenschaft, Finanzen, globale Politik, Menschliches Versagen, menschliche Ohnmacht, aber auch menschliche Intelligenz, Lösungsversuche und Lösungserfolge, Irrtümer, Umwege, richtige Entscheidungen. Er beschreibt nicht nur, was passieren könnte und was passiert, er analysiert, philosophiert und begründet in seinen Erzählungen und zwar immer auf die Weise, dass seine Leserinnen und Leser das Geschriebene nachvollziehen können, es verstehen, mitfühlen und persönlich angeregt werden: Was kann ich, was sollte ich, was muss ich tun?

Robinson bezeichnet die Wissenschaft als seinen utopischen Weg“ und sagt: „Ein realistischer Roman ist eine Art verkleidete Utopie.“ Er nimmt ausführlich Stellung zu den Utopie-Entwürfen in seinen Romanen, die deshalb weiter unten ausführlich dargestellt werden sollen. Sein Denken ist entscheidend von einem seiner akademischen Lehrer, von Fredric Jameson, beeinflusst worden, der in seinem Buch „Archaeologies of the Future. The Desire Called Utopia and Other Science Fictions“ (2005, 2007) schreibt: Die utopische Form ist selbst eine repräsentative Meditation über die radikale Differenz, das radikale Anderssein (…)“. Diese Aussage kann auch als literarisches Gütekriterium für Science Fiction angesehen werden.

Andere Gütekriterien für Science Fiction liefert ein Förderer von Kim Stanley Robinson, der Schriftsteller und Herausgeber Damon Knight, der nach fünfzehn Jahren Publikation der Reihe Orbit in der letzten Ausgabe, in Orbit 21 (1980) über Science Fiction schreibt: Science Fiction ist ein Bereich der Literatur, der es wert ist, ernst genommen zu werden, und dass gewöhnliche kritische Standards sinnvoll darauf angewandt werden können: z.B. Originalität, Aufrichtigkeit, Stil, Konstruktion, Logik, Kohärenz, Vernunft, Gartensortenübliche Grammatik.“

Vielfalt der Themen im Werk von Kim Stanley Robinson

Die Erzählungen von Kim Stanley Robinson gehen weit über sein Hauptthema, den Klimawandel, hinaus. Seine Science Fiction zeichnet sich aus durch die Vielfalt von Themen, den philosophischen Tiefgang der Ausführungen, die wissenschaftliche Aufrichtigkeit und Genauigkeit, die imaginäre Grenzen überschreitende Reichweite und die visionäre Kraft, die Spannung in der Erzählung sowie das humanitäre Projekt als Zielstellung. Hier einige Anregungen zum Lesen:

Eine Welt ohne Europa: In dem Roman The Years of Rice and Salt (2002) schildert Robinson ein Europa, dessen Bevölkerung im 14. Jahrhundert durch die Pest zu 99% ausgerottet worden ist und das dann von Chinesen, Arabern, Indern und amerikanischen Ur-Einwohnern besiedelt wurde. Das Christentum existiert nicht mehr, die vorherrschenden Religionen sind Buddhismus und Islam. In dem Roman diskutiert Robinson die Evolution von (alternativer) Geschichte und die Richtung und den Sinn von Zivilisation. Sein Buch hatte zunächst den Arbeitstitel: A World without Europe.

Der Schamane: Der Roman Shaman (2013, deutsch: Schamane, 2014) handelt vom Leben im Jungpaläolithikum, also dem Leben von Cro-Magnon-Menschen vor 30.000 Jahren in Europa. Robinson schildert, wie sich die zwölfjährige Hauptfigur der Erzählung, der Junge, den alle „Loon“ beziehungsweise. „Eistaucher“ nennen, einem Initiationsritus unterziehen muss. Er ist elternlos und lebt bei der Heilerin und dem Schamanen des Stammes, der sich selbst „Wolf Pack“ nennt. „Eistaucher“ muss hinaus in die Wildnis, dort ohne Hilfe überleben und alle Gefahren meistern, um ein vollwertiges Mitglied des Stammes zu werden. Er muss eins werden mit der Natur. Die Hauptfigur stößt auf Neandertaler bei seinen Erlebnissen und findet schließlich eine Höhle, die er mit Tierzeichnungen bemalt, um sein Wissen an zukünftige Generationen weiter zu geben. In der Erzählung schreibt Robinson über eine schillernde Welt der Vorzeit mit ihren kulturellen Prägungen und Riten, die an dieser Stelle nur sehr verkürzt wiedergegeben werden soll. Das Buch ist sehr lesenswert und anregend für Leserinnen und Leser, die sich das Leben in der eurasischen Altsteinzeit bis zum Ende der letzten Kaltzeit vorstellen wollen und die sich für die Anfänge der Kunst interessieren.

Die Mars-Trilogie: Berühmt geworden ist Robinson durch die Mars-Trilogie, die einerseits eher dem Genre der klassischen Science Fiction zuzuordnen ist, andererseits aber eine Auseinandersetzung mit ganz irdischen Fragen beinhaltet. Die Mars-Trilogie wird von vielen Kritikern als eines seiner Meisterwerke und als Beispiel für die gelungene Beschreibung eines modernen Utopia in der gegenwärtigen Science Fiction Literatur angesehen. Er beschreibt die Kolonialisierung und das Terraforming des Planeten Mars durch Menschen und beginnt mit dem ursprünglichen Zustand des Roten Planeten bei deren Ankunft, während die Folgebände seine Veränderung hin zu einem durch Pflanzen besiedelten grünen und später zu einem durch flüssiges Wasser charakterisierten blauen Planeten illustrieren. Die ersten einhundert Kolonisten errichten im Jahre 2027 dauerhafte Siedlungen auf dem Mars und der Autor schildert die technischen Möglichkeiten und die sozialen Konflikte der ersten Siedler. Im ersten Band geht es um revolutionäre Aufbruchsstimmungen und um technische Großprojekte, im zweiten Band um die Ausbeutung der Ressourcen des Planeten und die Gegenpositionen ökologischer Gruppen, im dritten Band stehen die sozialen Probleme der alt und aristokratisch gewordenen ersten Einhundert im Vordergrund. Der Mars ist jetzt unabhängig und ein der Erde ähnlicher Planet geworden, von dem aus das Sonnensystem kolonialisiert wird.

Musik in Science Fiction Erzählungen

Der Untertitel von The Memory of Whiteness (1985) lautet bezeichnenderweise A Scientific Romance und schildert die Zeit nach dem Ableben des großen Physikers Arthur Holywelkin im Jahre 3229 nach unserer Zeitrechnung, der der Erfinder eines großartigen Musikinstruments ist. Die Menschheit lebt auf den Planeten, Monden und Asteroiden des Sonnensystems und profitiert von den technischen Ableitungen der Durchbrüche in der Physik. Arthur Holywelkin jedoch interessiert sich am Ende seines Lebens überwiegend für die Entwicklung eines sehr seltsamen, schönen und komplexen Musikinstruments, das er „das Orchester“ nennt. Der neunte Meister dieses Instruments, Johannes Wright, begibt sich auf eine Aufführungstour durch das Sonnensystem und gerät in unvorhergesehene Probleme, die mit seiner Musik scheinbar wenig zu tun haben. Der Roman ist im Jahre 2016 als deutsche Ausgabe unter dem schönen Titel Sphärenklänge (2016) bei Heyne erschienen.

In der Kurzgeschichte The Timpanist of the Berlin Philharmonic, 1942 geht Robinson der Überlegung nach, ob bei der Aufführung der Berliner Philharmoniker von Beethovens neunter Sinfonie am 19. April 1942 unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler in Anwesenheit der Hakenkreuz-Fahne, von diversen Nazi-Größen, Soldaten und Kriegsversehrten, der Kesselpauker vielleicht bei den Schlussakkorden den Sound von Bombern imitiert habe“. Man findet die Filmaufnahme des Konzerts auf youtube und es drängt sich in der Tat die Frage auf, warum die Kesselpauken in diesem historischen Filmdokument nach fast achtzig Jahren in den Schlussakkorden so gewaltig, im wahrsten Sinne des Wortes so bombastisch klingen.

Fritz Heidorn, Oldenburg

Zum Weiterlesen:

Dieses im Demokratischen Salon veröffentlichte Porträt beruht auf von Fritz Heidorn gemeinsam mit Kim Stanley Robinson gestalteten Buch Kim Stanley Robinson – Erzähler des Klimawandels, das 2022, im Berliner Hirnkost-Verlag erschien. Das Buch enthält neben ausführlichen Hintergrundinformationen und einem ebenso ausführlichen Werkverzeichnis folgende Texte von Kim Stanley Robinson (in der Reihenfolge im Buch, in Klammern die englischen Titel und die Daten der Erstveröffentlichung des Originals):

  • Das versunkene Venedig (Venice Drowned, 1981)
  • Gratlauf (Ridge Running, 1984)
  • Muir auf Mount Shasta (Muir on Shasta, 1991)
  • Rückkehr nach Dixieland (Coming Back To Dixieland, 1976)
  • Der Paukist der Berliner Philharmoniker, 1942 (The Timpanist of the Berlin Philharmonic, 2010)
  • Gletscher (Glacier, 1990)
  • Dystopien – jetzt! (Dystopia/Utopia, 2018)
  • Die Entdeckung des Lebens (Discovering Life, 2000)
  • Der entfesselte Prometheus, endlich (und keine Sekunde zu früh) (Prometheus Unbound, At Last, 2005)
  • Der Traum von Vinland (Vinland the Dream,1991)
  • Mein Interesse am Klimawandel

Übersetzungen aus dem amerikanischen Englisch von Anne-Marie Wachs und Jakob Schmidt.

Der Text Dystopien – jetzt! erscheint zeitgleich mit diesem Portrait als Editorial der Maiausgabe 2024 des Demokratischen Salons mit der freundlichen Genehmigung von Kim Stanley Robinson, Fritz Heidorn und des Verlegers Klaus Farin.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2024, Internetzugriffe zuletzt am 11. Mai 2024. Das Titelbild „Kyborg Dixit Algorismi“ – ein Ausschnitt – verdanke ich Thomas Franke, präsent im Demokratischen Salon mit verschiedenen Bildern und dem Gespräch „Parallele Welten – synergetisch gebrochen“.)