Eine starke Zivilgesellschaft
Ein Gespräch mit dem slowakischen Autor Michal Hvorecky über die ersten 100 Tage der Regierung unter Robert Fico
„Bloß trafen erneut Politiker Entscheidungen über die Vergangenheit. Die Oberhoheit über die Geschichtsschreibung zu erlangen, wurde zu einer der Hauptbestrebungen der Regierung.“ (Michal Hvorecky, Tahiti.Utopia, aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch, Stuttgart, Tropen, 2019)
Die absolute Herrschaft über die Geschichte ist ohne die Herrschaft über Medien und Rechtsstaat kaum denkbar. In seinem kontrafaktischen Roman „Tahiti Utopia“ wandern die Slowaken nach Tahiti aus, eine nicht ganz unrealistische Geschichte, denn der slowakische Gründer der Tschechoslowakei Milan R. Štefánik, hatte tatsächlich eine Zeitlang auf Tahiti verbracht. Nachdem Robert Fico zum vierten Mal Premierminister wurde, ein Politiker, von dem es heißt, er wäre der erste Slowake, der einen Ungarn, namentlich Viktor Orbán, bewundere, gibt es erhebliche Demonstrationen in Bratislava gegen ihn, sodass sein Wunsch, eine Art „Oberhoheit über die Geschichtsschreibung zu erlangen“, erst einmal an Grenzen stößt, ungeachtet seiner Bemühungen, die Gerichte, die Sicherheitsbehörden, die Medien und die Kultur nach seinem Bild neu zu modellieren. Die slowakische Zivilgesellschaft ist stark. Es geht zurzeit nicht um Auswanderung, sondern um die Verteidigung des Rechtsstaats und einer unabhängigen Kultur- und Medienlandschaft.
Der Titel der Dokumentation meines Gesprächs mit Michal Hvorecky über die Aussichten der neuen Regierung unter Robert Fico unmittelbar nach den Wahlen war eher pessimistisch. „Die illiberale Wende“. Gibt es heute vielleicht angesichts der Demonstrationen Anlass, optimistischer in die Zukunft der Slowakei zu schauen? Das war das Thema eines Gesprächs Ende Februar 2024, etwa einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen, deren zweiter Wahlgang, die Stichwahl, auf den 6. April 2024 terminiert wurde.
Demonstrationen gegen eine Regierung der Rache
Norbert Reichel: Die neue slowakische Regierung ist jetzt etwa ein halbes Jahr im Amt, Robert Fico zum vierten Mal Premierminister. Was hat sich verändert?
Michal Hvorecky: Es war eine turbulente Zeit. Es sind jetzt über 100 Tage mit der neuen Regierung und ihrer Dreierkoalition, die eigentlich gar nicht so neu ist. Es gibt viele bekannte Gesichter, einschließlich Robert Fico, der zum vierten Mal im Amt ist. Das ist vielleicht die größte Überraschung, denn man hat vor der Wahl eigentlich nicht mehr mit ihm gerechnet, weil man dachte, er wäre nach den Morden an Ján Kuciak und Martina Kušnírová eine politische Leiche, seine Zeit wäre vorbei. Vor fünf Jahren musste er zurücktreten. Heute sagt er, er bereue diese Entscheidung und würde so etwas nie wieder tun.
Die 100 Tage haben gezeigt, dass Robert Fico eine Regierung der Rache zusammengestellt hat. Er geht davon aus, dass es diesmal anders sein wird als bisher. Er arbeitet sehr fleißig, im Schnellverfahren, zurzeit an einem Gesetz zum Umbau des Rechtsstaats, das erfolgreich im Parlament durchgesetzt wurde, aber jetzt beim Verfassungsgericht liegt und bei der Präsidentin. Es ist dennoch eine schwache Koalition. So hat sie sie es nicht geschafft, einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen Ende März 2024 zu stellen. Die Zusammenarbeit funktioniert nicht so richtig.
Das vielleicht Wichtigste ist, dass sich in der Slowakei eine sehr starke Zivilgesellschaft zeigt. Sofort gingen sehr viele Menschen auf die Straßen, zuerst in Bratislava, inzwischen Ende Februar 2024 in über 40 Städten und Gemeinden, gerade auch in Erinnerung an den sechsten Jahrestag des Doppelmordes. Jeden Donnerstag gibt es große Demonstrationen im ganzen Land, die sich auch von den Demonstrationen vor fünf Jahren unterscheiden. Es sind politische Demos, die von drei oppositionellen Parteien organisiert werden, deren stärkste Progresívne Slovensko (PS) ist, die liberale Partei mit ihrem Vorsitzenden Michal Šimečka. Die Partei liegt bei den Umfragen inzwischen bei 21 Prozent und ist mit ihrem Vorsitzenden eine starke politische Kraft geworden.
Wir haben somit auf der einen Seite eine ziemlich effektiv arbeitende, aber umstrittene Regierung, auf der anderen Seite eine heftige Protestwelle. Man spürt die wachsende Unsicherheit in der Koalition. In Bratislava haben 30.000 Menschen gerufen: „Dost‘ bolo Fica“ („Genug von Fico“). Und das auch in vielen weiteren Städten.
Die demonstrierenden Menschen wenden sich dagegen, dass die Regierung die Rechtsstaatlichkeit attackiert. Es gibt große Befürchtungen, dass die Gesetzesänderungen eine Amnestie für viele regierungsnahe korrupte Oligarchen und Politiker bedeuten, einige sind immer noch Abgeordnete im Parlament, Fico-nahe Persönlichkeiten. Es gibt auch große Angst, dass das Gesetz Freilassungen für wegen sexueller Gewalt oder Vergewaltigung verurteilte Kriminelle bedeutet.
Man versteht andererseits Ficos Motivation nicht so ganz, denn er hat diesen Umbau des Rechtsstaats seinen Wählern nicht versprochen. Es geht ihm wohl mehr um seine Sponsoren, um befreundete Oligarchen, um bestimmte Interessensgruppierungen. Es ist eine beängstigende Entwicklung, aber die kritische Masse ist präsent.
Rückabwicklung der Anti-Korrupitonsgesetzgebung
Norbert Reichel: Der Kern scheint mir die Rückabwicklung der Anti-Korruptionsgesetzgebung zu sein.
Michal Hvorecky: Es geht vor allem um das Amt der Sonderstaatsanwaltschaft, die Fico als Institution komplett abschaffen will. Diese Behörde beschäftigt sich seit Jahren mit hochrangigen Korruptionsfällen, es sind über 1.000 Fälle, darunter Leute aus Ficos Umfeld. Der Direktor der Institution ist Daniel Lipšic. Fico stilisiert ihn zu seinem persönlichen Feind. Daniel Lipšic ist zwar auch ein konservativer Politiker, aber vor allem ein professioneller Jurist. Er hat diese Institution zu einer Garantie für die Rechtsstaatlichkeit aufgebaut. Damit kann Fico nichts mehr anfangen, er sagt, diese Institution müsse umgehend geschlossen werden. Daniel Lipšic sagt, er sei bereit zurückzutreten, es gehe ihm nicht um seine Person, sondern um die Institution.
Fico will das slowakische Strafrecht ändern. Er behauptet, er müsse es an europäische Normen anpassen, aber das stimmt so nicht. Dann sagt er, er wolle es nach österreichischem Vorbild ändern, auch das stimmt nicht. Offensichtlich geht es ihm darum, dass viele Korruptionsfälle, ein langjähriges slowakisches Problem, nicht mehr vor Gericht kommen. Das hat auch damit zu tun, dass die slowakischen Gerichte zu den langsamsten in Europa gehören. 1.000 Korruptionsdelikte können nicht in kurzer Zeit geklärt werden. Das macht viele Leute wütend. Damit hat Fico es geschafft, die Opposition zusammenzuführen. Es ist nicht nur die PS, sondern auch die liberale SAS („Freiheit und Solidarität“) und die KDH (eine christdemokratische Partei). Ginge es um andere Themen, beispielsweise eine Liberalisierung der Gesetze, wäre diese Zusammenarbeit der Oppositionsparteien sicherlich schwieriger, aber das Thema Rechtsstaatlichkeit hat diese drei unterschiedlichen Kräfte vereinigt. Michal Šimečka nannte das Vorhaben der Regierung ein „Pro-Mafia-Paket“. Das ist ein Schlagwort für die Proteste geworden.
Es geht auch um die Sicherheitsdienste SIS (Slowenská Informačná Služba). SIS ist eine Behörde, die in etwa dem Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst in Deutschland entspricht, ein integrierter Geheimdienst mit Aufgaben im In- und Ausland. Diese Behörde soll in den Händen sehr sehr Fico-naher Personen landen. Es geht um Änderungen auf sehr hochwertigen Positionen, Leitung der Polizei, Leitung des Sicherheitsdienstes, Staatsanwaltschaften. Das ist keine einzelne Änderung, sondern eine große Welle von Änderungen, die vielen Bürgern in der Slowakei große Sorgen machen. Es gibt nicht nur Kritik in der Slowakei. Auch das Europäische Parlament hat sich geäußert, dass die Umgestaltung der Justiz nicht dem entspreche, was ein demokratisches Land jetzt braucht. Viele warnen, Ficos Vorhaben ähnelten Reformen wie wir sie aus Ungarn kennen oder auch aus Polen.
Friktionen und die Präsidentschaftswahl
Norbert Reichel: Stehen beide Koalitionspartner unverbrüchlich zu Fico oder gibt es Friktionen?
Michal Hvorecky: Das ist eine gute Frage. Viele haben gehofft, es gebe bei Abstimmungen im Parlament angesichts der knappen Mehrheit Probleme. Aber bisher hat es funktioniert. Fico ist ein Machtmensch. Mit seinen Koalitionspartnern HLAS und SNS geht er pragmatisch und opportunistisch um. Das Gesetz wurde verabschiedet und liegt jetzt beim Verfassungsgericht. Man sieht aber auch erste Signale, die auf Friktionen hindeuten. Die Koalition hat zwei Kandidaten für die Präsidentschaftswahl, Peter Pellegrini aus der HLAS, und Andrej Danko für die SNS. Es funktioniert nicht alles so für Fico wie er sich das verspricht.
Norbert Reichel: Ficos Partei SMER hat bei den Wahlen etwa 23 Prozent erhalten. Das ist deutlich weniger als die PiS regelmäßig in Polen erhielt, zuletzt noch etwa 35 Prozent. Der PiS fehlte nur der Koalitionspartner, sodass sie den Weg in die Opposition antreten musste. In Ungarn hat es Orbán geschafft, das Wahlrecht so stark zu verändern, dass die Opposition kaum noch eine Chance hat, die Mehrheit seiner Partei FIDESZ zu kippen. In Italien versucht Meloni zurzeit Ähnliches. Sie will den Ministerpräsidenten direkt wählen lassen und dessen Partei soll dann automatisch 55 Prozent der Sitze im Parlament erhalten, auch wenn diese Partei gerade einmal 25 Prozent erhalten hätte. Ob sie damit durchkommt, ist offen. Ich bezweifele es. Renzi ist mit seinem Projekt einer ähnlichen Bevorzugung der regierenden Partei gescheitert und inzwischen so gut wie bedeutungslos. In der Slowakei habe ich den Eindruck, dass Ficos Mehrheit bei Weitem nicht so stabil ist wie man denkt.
Michal Hvorecky: Unbedingt. Man soll auch keine Angst vor Fico haben. Seine Partei liegt bei Umfragen inzwischen bei 22 Prozent, die größte Oppositionspartei PS bei 21 Prozent mit Potenzial für weiteres Wachstum. Die Präsidentschaftswahl ist ein wichtiger Test für die Opposition und die Zivilgesellschaft. Es war in der Vergangenheit eine eher langweilige Wahl.
Norbert Reichel: Welche Kompetenzen hat ein Präsident in der Slowakei? Ähnlich stark wie in Polen oder eher symbolisch wie in Deutschland?
Michal Hvorecky: Der Präsident beziehungsweise die Präsidentin ist eine sehr präsente und öffentliche Stimme. Das Amt der Präsidentin ist inzwischen sehr wichtig geworden. Das hat Zuzana Čaputova in ihrer Amtszeit gezeigt. Die Wahl ist wichtig für die Regierung, denn mit sehr großer Sicherheit werden Peter Pellegrini und Ivan Korčok, der keiner Partei angehört und von den Oppositionsparteien unterstützt wird, in der Stichwahl gegeneinander antreten. Wir haben insgesamt elf Kandidaten, aber nur die beiden haben eine relevante Chance.
Peter Pellegrini war früher Vizepräsident der Partei, der Fico vorsaß. Er hatte nach dem Doppelmord mit HLAS eine eigene Partei gegründet und galt lange Zeit als Favorit für die letzte Parlamentswahl. Das ist ihm nicht gelungen. Nach vielem Abwarten und zunächst vagen Signalen hat er sich für die Kandidatur entschieden, obwohl manche sagen, das wäre eher der Wille Ficos. Eigentlich ist es ungewöhnlich, dass ein Parteivorsitzender Präsident werden möchte, der im Grunde eher symbolische Macht hat. Pellegrini ist zurzeit die Nummer Eins in den Umfragen, aber der Abstand zu Ivan Korčok schrumpft.
Ivan Korčok ist ein wichtiger Diplomat, war mehrfach Botschafter, auch in Berlin. Er war auch mal Außenminister der Slowakei. Sein Nachteil ist im Vergleich zu Pellegrini sein geringer Bekanntheitsgrad. Aber er führt einen sehr sichtbaren Wahlkampf, ist im ganzen Land unterwegs, auch in Tschechien. In der Stichwahl wird es nach meiner Einschätzung sehr knapp.
Pellegrinis Gegner aus den Reihen der Regierung ist mit Andrej Danko der Vorsitzende der SNS, des zweiten Koalitionspartners Ficos. Er liegt in den Umfragen bei etwa zwei Prozent, ist ein absoluter Außenseiter. Selbst die eigene Partei warnt ihn, es könne eine Blamage für ihn werden. Die Partei liegt in den Umfragen bei etwa vier Prozent, leicht unter ihrem Wahlergebnis. Danko ist gefährlich, aber auch eine Lachnummer der slowakischen Politik. Er will aber nicht aufgeben, vielleicht auch um mehr Aufmerksamkeit zu erreichen. Er lehnt ab, dass seine Partei Pellegrini unterstützt.
Norbert Reichel: Wie argumentiert die Opposition?
Michal Hvorecky: Michal Šimečka spricht von einem erforderlichen Gleichgewicht. Die Regierung dürfe nicht alle Ämter in ihren Händen haben. Meines Erachtens ein guter Slogan. Es ist auch eine Warnung. Man kann schon einiges blockieren, verzögern. Zuzana Čaputova hielt zum Beispiel im Parlament eine wichtige Rede vor der Verabschiedung der Gesetze zum Umbau des Rechtsstaats, in der sie die Bedeutsamkeit der Rechtsstaatlichkeit betonte. Sie benannte die Probleme, erklärte sie einer breiteren Öffentlichkeit, nannte die Gefahren der neuen Gesetze. Das sind die Dinge, für die wir einen guten prodemokratischen, proeuropäischen, antiautoritären Präsidenten dringend brauchen.
Medien und Kultur
Norbert Reichel: Kann Fico in Gerichten und Presse Personen austauschen? So wie das für die Presse in Italien schon Silvio Berlusconi tat, jetzt auch Giorgia Meloni, oder in Polen die PiS-Regierung praktizierte? Ganz aktuell: Meloni hat vor wenigen Wochen dafür gesorgt, dass Roberto Saviano seine Sendung im italienischen Fernsehen verlor.
Michal Hvorecky: Bei Richtern ist das sicherlich komplizierter. Bei öffentlichen Sendern macht das Fico von Anfang an. Er hat mehrere kritische Medien, die Tageszeitung Dennik N, Dennik SME, auch noch einige andere, darunter der Fernsehsender Markisa, von den Pressekonferenzen der Regierung ausschließen lassen. Das ist unfassbar, inakzeptabel. Ficos Partei SMER verkündet, dass die Kanäle, denen sie es verdankt, dass sie in der Regierung ist, staatliche Förderung bekommen sollen. Das sind ausgewiesene Desinformationskanäle! Die Fake News dieser Kanäle sind geradezu Staatsdoktrin geworden. Ficos Strategie geht in die Richtung, dass er nur mit seinen Wählern kommuniziert, eigene Kanäle nutzt, die sozialen Medien. Er kommuniziert hauptsächlich über sein Facebook-Profil und andere Profile dieser Art, er kommuniziert nicht mehr mit den kritischen,demokratischen Medien. Das ist auch eine wichtige Botschaft der Regierung, die offen gegen die freie Presse hetzt.
Norbert Reichel: Ganz im Stile von Trump?
Michal Hvorecky: Fico hetzt so gegen kritische Medien wie Trump gegen die New York Times. Das ist kein rein slowakisches Problem, sondern ein europäisches, ein globales Problem. Wir haben es mit rechten Populisten zu tun, mal sind sie mehr religiös, mal eher sozial, mal auch pseudo-links, sie bemühen sich alle um eine neue sehr gefährliche Art von Politik, die auf Spaltung der Gesellschaft basiert, auf Ausgrenzung. Zwei Bereiche sind hier besonders betroffen, Kultur und Umwelt. Das ist neben den Entwicklungen um die Rechtsstaatlichkeit die andere gefährliche Entwicklung in der Slowakei. Beide Bereiche sind – das kann man so sagen – in den Händen von Neofaschisten. Die Unzufriedenheit in diesen Bereichen ist riesig.
In der Kultur gab es inzwischen eine Petition von 190.000 Menschen, die den Rücktritt der Kulturministerin Martina Šimkovičová forderten. Sie wird heftig kritisiert, ist sehr umstritten. Der Druck, der Frust wächst, aber sie will nicht zurücktreten. Sie spaltet, hetzt, sucht Feinde. Sie hat kaum Kontakt zu kulturellen Institutionen aufgebaut. Sie hat die Zeit nicht genutzt, Institutionen in ihrer Zuständigkeit zu besuchen, mit den Mitarbeitern zusprechen. Sie verbringt ihre Zeit mit dem Drehen von Hassvideos auf dem Kanal Sloban (deutsch: Fernsehen Slawe), den sie mit ihrem Lebensgefährten betreibt. Das ist ein Desinformationskanal, in dem sie Minderheiten angreift, die LSBTIQ*-Community, Roma, verbreitet Verschwörungserzählungen und Propaganda.
Ein kritisches Thema ist die Zukunft der Kunsthalle Bratislava, eine Galerie für zeitgenössische Kunst. Jen Kratochvil, der Direktor ist im Januar 2024 zurückgetreten. Die Ministerin sagte, in der Kunsthalle werde queere und feministische Kunst gezeigt, so etwas wäre unslowakisch, deshalb müsse er zurücktreten. Die Kunsthalle ist sehr gefährdet, es gibt sogar Stimmen, die behaupten, sie werde bald nicht mehr existieren. Die Ministerin will das System der unabhängigen Förderung der Kunst komplett reformieren. Sie behauptet, das, was zurzeit gefördert werde, wäre eine slowakisch-feindliche Kunst. Sie will völkische Kultur fördern. Ihr Gedankengut ist im Grunde rechtsextrem. In der Europäischen Union stehen wir für andere Werte. Ich glaube, sie hat nur wenige Unterstützer gefunden, außer in den Reihen völkischer, neofaschistischer Gruppen. 190.000 Unterschriften! Das hat es bisher in der Slowakei nicht gegeben.
Norbert Reichel: Nur zum Vergleich: Die Slowakei hat etwa fünf Millionen Einwohner. Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl in Deutschland wären das über drei Millionen Unterschriften. Die Ministerin scheint davon unbeeindruckt. Sie kann natürlich mit der parlamentarischen Mehrheit durchregieren und mit dem Haushalt Fakten schaffen. Was einmal zerstört ist, lässt sich kaum noch wiederaufbauen.
Michal Hvorecky: Das ist korrekt. Wir haben Mitte Februar Ficos Kommentar zu den Vorhaben der Kulturministerin erwartet. Er stellte sich vor seine befreundeten Medien und erklärte, er stehe hinter ihr, sie mache eine wunderbare Arbeit, genau das, was er von ihr verlange. Viele sagten, er lädt uns zu weiteren Protesten ein. Seine Rede lautet, wir wurden gewählt, es gibt ein paar Proteste, aber wir machen, was die Leute wollen. Unsere Wählerschaft steht hinter uns.
Wir werden weiter protestieren!
Norbert Reichel: Gibt es Gewalt gegen Menschen, die die Regierung kritisieren?
Michal Hvorecky: Die Regierung versucht Ängste zu schüren. Junge Parteimitglieder von SMER organisieren Jagden auf Gegner der Regierung. Ein Kollege von mir, Marián Leško, wurde nach einem Theaterbesuch in der Stadt angesprochen, mit Videoaufnahmen sollte er sich äußern, warum er die Regierung kritisiere. Als er das abgelehnt hat, wurde er als „feige“ diffamiert, auf allen Desinformationskanälen. Es wurde behauptet, er habe nicht die Courage, mit dem Volk zu sprechen. Das erinnert mich schon sehr an andere autoritäre Regime, in denen kleine selbsternannte Einheiten von vier oder fünf Männern in der Nacht kritische Journalisten öffentlich angefeindet werden und dann behauptet wird, sie hätten nicht den Mut, sich dem Gegner zu stellen. Gegen einen anderen Kollegen von mir, Martin Šimečka, dem Vater von Michal Šimečka, wird zurzeit prozessiert, weil er sich in einem Text kritisch gegen Fico geäußert haben soll. Solche Prozesse sind in Europa inzwischen gang und gäbe. Es wird nichts erreicht, aber es kostet viel Zeit, Geld.
Norbert Reichel: Es geht um Einschüchterung. Mich erinnert das durchaus an die Politik von Erdoǧan. Nur mit dem Unterschied, dass kritische Journalisten in der Türkei hohe Gefängnisstrafen riskieren, manche längere Zeit inhaftiert sind, zum Beispiel Osman Kavala, manche sogar ohne Anklage.
Michal Hvorecky: Einschüchterung! Man wird vielleicht vorsichtiger mit dem was man sagt. Die slowakische Regierung macht vieles etwa so ähnlich wie Viktor Orbán in Ungarn. Zum Glück ist das Land anders eingestellt. Die Öffentlichkeit ist sehr achtsam geworden. Wir haben nach wie vor gute kritische Medien. Martin Šimečka arbeitet bei Denník N. Nach der Anklage gegen ihn stiegen sofort die Abonnementszahlen. Diese Zeitung ist vielen Menschen eben wichtig, gerade jetzt.
Umwelt, Wirtschaft und die Ukraine
Norbert Reichel: Und im Umweltbereich?
Michal Hvorecký: Da ist es ähnlich. Auf allen Ebenen sehen wir in den letzten vier Monaten unglaubliche Änderungen. Überall gibt es neue Direktoren, neue Beiräte. Der neue Minister, Tomáš Taraba, ist ein Neofaschist. Er war zuvor in einer rechtsextremistischen Partei, ist dann zur SNS gewechselt. Er ist Lobbyist der fossilen Industrie, ein Klimawandelleugner. Er hat verkündet, er wolle in einem Naturschutzgebiet einen Riesendamm bauen. Das wurde sogar von anderen Ministerien abgelehnt. Das, was zu befürchten war, als die Koalition ins Amt kam, hat sich bestätigt, zum Teil sogar Schlimmeres. Ich habe Gänsehaut bei dieser Entwicklung.
Norbert Reichel: Das Umweltthema ist gerade im Energiebereich auch ein zentrales außenpolitisches Thema. Damit wären wir bei Ficos Positionierung zu Russland und zur Ukraine. Zu Beginn seiner aktuellen Amtszeit befürchteten viele, er werde sich ganz auf die Seite Russlands schlagen oder zumindest in der EU im Bündnis mit Orbán alles zu verhindern versuchen, das der Ukraine nützt. Das ist nicht passiert. Er stellte zwar die Waffenlieferungen an die Ukraine ein, verhinderte aber bisher keinen einzigen europäischen Beschluss zur Unterstützung der Ukraine, auch nicht zur Aufnahme der Ukraine in den Kreis der Kandidaten für einen Beitritt zur EU.
Michal Hvorecky: Das ist eine sehr wichtige Bemerkung. Am Samstag, dem 24. Februar 2024, hat Fico ein Video veröffentlicht. Am 26. Februar 2024 reiste er nach Paris, um dort über die künftige Unterstützung der Ukraine zu beraten. In einem Video lobt er Putin, Putin werde Unrecht getan, er werde zu Unrecht kritisiert. Er verbreitete auch die Verschwörungstheorie, die Europäische Union verlange von der Slowakei, Soldaten in die Ukraine zu schicken. Davon war nie die Rede.
Norbert Reichel: Das hat er schon im Wahlkampf erzählt.
Michal Hvorecký: Und jetzt erzählt er es wieder, diesmal als Premierminister. Er sagte, er habe „Gänsehaut, große Angst um slowakische Männer, die an die Front müssten“. Völlig irre. Das hat sich zugespitzt. Narrative der Regierung haben sich verändert. Vor dem 24. Februar 2022 hat Fico Putin unterstützt und behauptet, dass der Westen die Schuld an dem sich abzeichnenden Konflikt trage. Nach dem 24. Februar 2022 hat er seine Strategie verändert, weil er sah, dass Putin in der Slowakei sehr unpopulär ist. Er behauptet, die Ukraine sei an allem schuld, geopolitisch, an wirtschaftlichen Problemen in der Slowakei, jetzt kommt die Agrarpolitik hinzu. Er will Agrarimporte aus der Ukraine in die Slowakei stoppen. Die Stimmung in der Slowakei hat sich verändert und Fico spielt geopolitisch immer eine Doppelrolle. Er sagt seiner Wählerschaft das eine, stimmt dann aber in Brüssel anders ab.
Das Problem liegt auch daran, dass man gegen die Algorithmen, gegen die sozialen Netzwerke kämpft. Fico hat eine unfassbare Reichweite. Seine Videos erreichen bis zu einer halben Million Zuschauer. Das ist deutlich mehr als er in einer Tagesschau oder in einer politischen Gesprächsrunde erreichte. Er lässt keine kritischen Fragen zu. Es ist etwa so wie in dem Gespräch zwischen Tucker Carlson und Putin. Er hat keinen Gegner in diesen Gesprächen.
Und so macht es auch die Kulturministerin. Sie spricht in ihrem Telegramkanal mit ihrem Moderator, der ihr Lebensgefährte ist. Dieser ist inzwischen der Beauftragte der Regierung für die Aufarbeitung der Corona-Pandemie. Ein Corona-Leugner ist beauftragt worden, Prozesse im Zuge der Bekämpfung der Pandemie, das Krisenmanagement, aufzuarbeiten und zu bewerten.
Viele unerfreuliche Nachrichten aus dem Osten Europas, aber die Zivilgesellschaft gibt nicht auf.
Das Goethe-Institut Bratislava
Norbert Reichel: Zum Abschluss – wie beim letzten Mal – noch ein Exkurs zur Zukunft des Goethe-Instituts, bei dem du arbeitest. Die die deutsche Bundesregierung tragenden Fraktionen haben im Bundestag den Kürzungen im Kulturhaushalt des Auswärtigen Amtes zugestimmt. Mehrere Goethe-Institute, unter anderem in Frankreich und in Italien, werden geschlossen. Dafür gibt es ein neues Goethe-Institut auf Fiji. Der Deutsche Kulturrat hat die Goethe-Institute auf die Rote Liste der bedrohten Kultureinrichtungen gesetzt. Wie hat sich eure Lage in Bratislava entwickelt?
Michal Hvorecky: Die Goethe-Institute kommen nicht zur Ruhe. Wir arbeiten weiter, aber die finanzielle Lage ist weiterhin kompliziert. Wir geben uns alle Mühe, sodass unser Programm weiterhin sehr bunt und breit aufgestellt wird. Ich erwarte von der deutschen Kulturszene und der deutschen Bundesregierung mehr Klarheit, was sie eigentlich wollen. Gerade höre ich im Radio, dass sich deutsche Arbeitgeber wünschen, dass mehr Menschen in der Welt Deutsch lernen, in Deutschland mangelt es an kompetenten deutschsprachigen Fachkräften. Wozu sind die Goethe-Institute da? Genau das, die Vermittlung deutscher Sprache, deutscher Kultur, das wollen wir gerne tun. Dazu sind wir bereit. Aber wir brauchen auch Unterstützung. Wir haben in Bratislava auch ein starkes ukrainisches Programm, einen ukrainischen Buchclub, ukrainische Filmabende. Wir sind gut in der slowakischen Kulturszene verankert. Nur wir haben deutlich weniger Geld. Früher konnten wir Gastspiele, Kunstausstellungen, Fotoausstellungen, den Besuch eines wichtigen Kulturwissenschaftlers fördern. Inzwischen müssen wir oft ablehnen und sagen, dass wir kein Geld haben.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2024, Internetzugriffe zuletzt am 1. März 2024. Das Titelbild zeigt eine der großen Demonstrationen in Bratislava. Alle Fotos außer der Ausstellung in der Kunsthalle © Michal Hvorecky.)