Elefanten in allen Räumen
Meron Mendel über eine sehr deutsche Debatte
„In der deutschen Öffentlichkeit Position zu Israel zu beziehe, kommt mir manchmal wie die Kunst des Seiltanzes vor. Denn natürlich habe ich als linker Israeli weiterhin Kritik am israelischen Besatzungsregime und an einer Politik, die die Verhandlungen lieber in die Ferne verschieben als herbeiführen möchte – und ich möchte diese Kritik auch äußern können. Ich frage ich immer wieder, wie ich meine Kritik formulieren kann, ohne gleich von radikalen antiisraelischen Kreisen als Kronzeuge bejubelt zu werden. Zugegebenermaßen fällt es mir hier deutlich schwerer als bei der Distanzierung von Vereinnahmungsversuchen durch Antideutsche. Über die Jahre in Deutschland habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass meine Kritik aus dem Kontext gerissen wird.“ (Meron Mendel, in: Über Israel reden – eine deutsche Debatte, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2023)
In dem im Jahr 2016 veröffentlichten Film „90 Minuten – bei Abpfiff Frieden“ von Eyal Halfon beschließen die israelische Regierung und die Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde, dass ein Fußballspiel darüber entscheiden solle, wer im Land bleiben dürfe und wer es verlassen müsse. Gesucht werden ein neutraler Ort (gefunden wird Leiria in Portugal), ein neutraler und unpolitischer Schiedsrichter (unpolitischer als der, der gefunden wird, geht es nicht mehr) und Antworten auf die Frage, wer für welches Team spielberechtigt sein solle (es gibt einen israelischen Araber, der für beide Teams auflaufen könnte). Gegen das Spiel gibt es große Demonstrationen der Mütter der israelischen Spieler, im israelischen Fernsehen streiten sich gleich drei Moderator*innen, während in den palästinensischen Kanälen ein einziger Moderator für die palästinensische Sache predigt. Mag alles etwas holzschnittartig sein wie sich das für eine Satire gehört, aber die Darstellung der israelischen Seite und vor allem ihre engagiert-unterhaltsame Uneinigkeit prägen den Film. Das Ergebnis des Spiels erfahren wir nicht, wir erleben aber eine Diskussion in einer portugiesischen Kneipe, ob ein Tor ein Tor war oder nicht. The show will go on. Und die ist kein „Seiltanz”.
Das 17. Bundesland?
Seit die neue israelische Regierung im Amt ist, vergeht kaum ein Tag, in dem nicht in der deutschen Presse über die Zukunft Israels diskutiert wurde. Am 27. März 2023 verkündete Benjamin Netanjahu, dass er das Vorhaben zwar nicht absagen, aber doch verschieben wolle. Auch die Entlassung seines Verteidigungsministers hat er vorerst einmal zurückgenommen. Netanjahu sagte, er wäre an einem Konsens interessiert. Ein Erfolg der israelischen Zivilgesellschaft? Zum Vergleich: wenn das was in den letzten Wochen die israelische Demokratiebewegung auf die Straße brachte, in Deutschland geschähe, wären das über 10 Millionen Demonstrierende! Lebendige Demokratie – das ist die eine Seite.
Die andere Seite: die Dramatik der Lage beschrieb der Historiker Tom Segev am 20. März 2023 in einem Interview mit Alexandra Föderl-Schmid in der Süddeutschen Zeitung. Er sieht Netanjahu als Getriebenen, die Regierung als schwache Regierung, die sich der expansionistischen Lobby der Siedlerbewegung ergeben habe: „Es gibt eine sehr, sehr große Gefahr, dass Krieg kommt. Die großen Kriege kamen immer von schwachen Regierungen. 1967 war die Regierung nach Ben-Gurion verspottet, dann kam der Sechs-Tage-Krieg. 1973 war auch die Regierung schwach, es standen Wahlen bevor, und Golda Meir hätte fast ihren Sitz verloren. Ein Teil der Besatzung von 1967 wäre zu vermeiden gewesen. Nach der Zerstörung der ägyptischen Luftwaffe wäre es nicht mehr notwendig gewesen, noch das ganze Westjordanland zu erobern.“
Ebenso dezidiert äußerte sich Natan Sznaider am 25. Februar 2023 in einem Interview mit Tania Martini in der taz. Stattgefunden habe ein „Regime-Wechsel“, die liberale Welt von Tel Aviv wäre eine „Illusion“ gewesen. „Aber einer der Träume des Zionismus war, dass man im Nahen Osten ankommt, was nun auf verquere Weise real wird. Wir entfernen uns von Europa und werden Libanon, Jordanien oder Syrien ähnlicher.“ Der Konflikt sei „theologisch aufgeladen“, die rechtsextremen Parteien „treiben ihn (Netanjahu, NR) vor sich her und ihre Ideen sind nicht nur Rhetorik.“. Der Einfluss der USA oder von Deutschland sei begrenzt, die umliegenden arabischen Staaten interessiere die Entwicklung nicht. Es gehe auch nicht um „deutsche Erinnerungspolitik“ oder „das Geschnatter des BDS“. In der April-Ausgabe 2023 von „Politik & Kultur“ schreibt Natan Sznaider: „Es geht um mehr als um einen wahrgenommenen Kulturkampf. Konservative staatstragende Menschen sind auf der Straße, die Eliteeinheiten des Militärs denken laut darüber nach, ob sie nicht den dienst verweigern sollen. Mobile Hightechunternehmen planen, ihre Geschäfte ins Ausland zu verlegen.“
Josef Schuster äußerte sich bereits mehrfach, so am 23. März 2023 in der Jüdischen Allgemeinen: „Das Medienecho war eindeutig: Das Land wäre dabei, die Demokratie gänzlich abzuschaffen. (…) In einigen Kommentaren entstand dabei der Eindruck, bei dem jüdischen Staat handle es sich um das 17. Bundesland, dem man den Weg weisen müsse.“ Im Folgenden beschreibt Josef Schuster den verfassungsrechtlichen Kontext: „Dass es in Israel einer Justizreform bedarf, ist in dem Land weitestgehend Konsens. Der auf Gewohnheitsrechten basierende Einfluss des Obersten Gerichts gegenüber Parlament und Regierung ist kaum noch zeitgemäß. Im Einkammersystem Israels bildet das Gericht jedoch auch den einzigen Schutz vor einer ‚Tyrannei der Mehrheit‘. Eine einseitige Schwächung seiner Position wäre also kaum im Sinne der liberalen Tradition des Landes, die der Ministerpräsident vergangene Woche eindrücklich im Bundeskanzleramt unterstrich.“
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ob sich Israel zu einer illiberalen Demokratie nach ungarischem Vorbild entwickeln oder ob es seine liberalen Institutionen stärken wird, vielleicht sogar durch die Einführung eines Zwei-Kammer-Systems, bleibt offen. Und ob Netanjahu tatsächlich ein Getriebener bleibt oder sich wieder als geschickter Taktiker erweist, ebenso. Wie angemessen es sein mag, dass sich deutsche Journalist*innen, deutsche Politiker*innen in die israelische Debatte einmischen, ist allerdings eine andere und bezogen auf Deutschland vielleicht sogar die eigentliche Frage. Israel – so sagen manche – ist in Deutschland „der Elefant im Raum“. Meron Mendel und Saba-Nur Cheema benennen in „Frenemies“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2022) die Regeln für Debatten um Israel, die viel zu oft nicht bedacht werden: „Wir müssen über den Elefanten im Raum sprechen: den israelisch-palästinensischen Konflikt. Dafür gilt es zunächst einmal für jede Seite, ihre Grenzen zu kommunizieren: Weder das Existenzrecht des Staates Israel noch das Recht der Palästinenser*innen auf einen eigenen Staat sollen in Frage gestellt werden. Die Gesamtschuld für den Konflikt auf die Schultern einer Partei zu legen, ist per se falsch. Auch verbitten wir uns jeglichen Vergleich zwischen dem Handeln des israelischen Staates und den Nazis – genauso wie jede andere Form von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Über alles andere kann gestritten werden.“
Es geht eben nicht nur um den Gegenstand, über und um den gestritten wird, sondern um die Art und Weise, in der dies geschieht. Und dies ist Thema des im März 2023 in Köln bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buches von Meron Mendel: „Über Israel reden – Eine deutsche Debatte“ (eine Kurzfassung veröffentlichte er in der Ausgabe für April 2023 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ unter dem Titel „Adenauer, Merkel, Scholz, Israel als deutsche Staatsraison?“).
Israelischer Deutscher – deutscher Israeli
Meron Mendel ist in Israel geboren, er lebte dort etwa 25 Jahre und lebt seit 2001 in Deutschland. Er hat die israelische und die deutsche Staatsbürgerschaft und ist ein ausgewiesener Kenner du engagierter Kommentator israelischer wie deutscher Politik. Gemeinsam mit Deborah Schnabel leitet er die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main und hat 2021 eine Professur an der Frankfurt University of Applied Sciences mit dem Schwerpunkt „Transnationale Soziale Arbeit“ übernommen. Die Bildungsstätte Anne Frank hat er aus einer kleinen örtlichen Einrichtung zu einer der größten überregionalen Einrichtungen der politischen Bildung weiterentwickelt. Inzwischen arbeiten dort über 35 Menschen. Die Bildungsstätte ist Mitglied des Arbeitskreises Deutscher Bildungsstätten. Lesenswert ist ein Portrait Meron Mendels, das Tom Waurig am 16. April 2021 auf der Seite des Veto-Magazins veröffentlichte. Meron Mendel verlinkt auf seiner Internetseite auf dieses Portrait mit den Sätzen: „In einer offenen Gesellschaft sollten sich Menschen nicht rassistisch oder antisemitisch äußern. Nicht, weil sie Angst vor negativen Folgen haben, sondern weil sie ehrlich davon überzeugt sind, dass es falsch ist.“
Auf seiner Internetseite bekennt er sich zu klaren Worten: „In meinen Büchern, Fachpublikationen und Zeitungsbeiträgen scheue ich mich nicht davor, die Finger in die Wunden zu legen. Klare Kante gegen neurechte Positionen zu zeigen, wie beispielsweise gegen die AfD & Co. mache ich unerschrocken und unnachgiebig.“ In der Tat. Meron Mendel geht keinem Konflikt aus dem Weg. Er ist eine*r der Initiator*innen der Kampagne gegen die Finanzierung der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung aus Mitteln des Bundeshaushaltes. Das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen die Bundesregierung aufgefordert, ein Gesetz zur Finanzierung parteinaher Stiftungen vorzulegen, denn ein Haushaltsvermerk reiche nicht aus, einer solchen Stiftung die Finanzierung zu verweigern. Man darf dies als ersten Erfolg der Kampagne bewerten, auch wenn der Weg zu einem solchen Gesetz noch steinig werden dürfte. Eine regelmäßige Finanzierung der AfD-Stiftung aus dem Bundeshaushalt gibt es vorerst nicht.
Andererseits gibt es – ich formuliere es einmal ganz vorsichtig – genügend Gesprächsbedarf bei all denen, die sich gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und andere anti-demokratische und anti-liberale Positionen engagieren. Auch hier gelten die Attribute „unerschrocken und unnachgiebig“, mit denen sich Meron Mendel selbst charakterisiert. Er verweist in seiner Selbstdarstellung darauf, dass nicht alle seinen Kurs teilen, auch wenn man sich in den meisten Grundsätzen einig sei: „Im demokratisch-humanistischen Lager hingegen versuche ich Reflexen der Selbstzerfleischung und Spaltung entgegenzuwirken.“
Der Streit um die „Frenemies“
Konkret wurden diese „Reflexe“ bei dem von ihm gemeinsam mit Saba-Nur Cheema und Sina Arnold im Berliner Verbrecher Verlag herausgegebenen Band „Frenemies“. Ich habe das Buch im Demokratischen Salon im Januar 2023 unter dem Titel „Fragile Allianzen“ vorgestellt. Die Kontroverse um das Buch habe ich mit den Verleger*innen Jörg Sundermeier und Kristine Listau erörtert, nachzulesen in meinem im Februar 2023 unter dem Titel „Anarchische Ästhetik“ veröffentlichten Interview. Gesprochen habe ich auch mit Steffen Klävers, der sich ebenso wie Meron Mendel und seine Kolleg*innen der Bildungsstätte Anne Frank für eine liberale Demokratie einsetzt und gegen Rassismus und Antisemitismus engagiert, aber wie einige weitere Kolleg*innen seine Zusage für einen Beitrag – in seinem Fall zur Singularität der Shoah – zurückgezogen hatte, weil zunächst auch ein Text veröffentlicht werden sollte, an dem sich auf Vorschlag des angefragten Autors Kerem Schamberger mit Ramsis Kilani eine der zentralen Personen der Organisation „Palästina spricht“ beteiligte.
Der vorgesehene Titel des umstrittenen Textes lautete: „Die anwesenden Abwesenden der deutschen Israel-Debatte“. Die Herausgeber*innen von „Frenemies“ zogen ihn aufgrund der Proteste zurück (er wurde dann im „Freitag“ veröffentlicht). Die Autor*innen, die ihren Rückzug angekündigt hatten, blieben jedoch bei ihrer Entscheidung. Keine*r dieser Autor*innen hatte den von ihnen inkriminierten Text gelesen und auch nicht gebeten, ihn vor Drucklegung lesen zu dürfen. Kerem Schwamberger sprach dann auf seiner Internetseite vom „Ausschluss palästinensischer Perspektiven“, auch dies ohne Kenntnis weiterer in „Frenemies“ zur Veröffentlichung vorgesehener Texte. Hätte er diese gekannt, hätte er solche Perspektiven beispielsweise in den Texten von Hanno Loewy und Saba-Nur Cheema gefunden. Einseitigkeit kann man „Frenemies“ nicht vorwerfen. Abgesehen davon ließe sich darüber streiten, wer in welchen Debatten als „anwesende Abwesende“ bezeichnet werden könnte, beispielsweise in der documenta fifteen.
Es ging in dem Streit um „Frenemies“ ausschließlich um Ramsis Kilani und Kerem Schwamberger. Kilani bedenkt – das ist unbestritten – Israel durchweg mit Begrifflichkeiten, die in der Konsequenz die Zerstörung Israels bedeuten. Seine Identifikation mit der BDS-Bewegung ist offensichtlich. In einer gemeinsamen auf der Plattform „haGalil“ veröffentlichten Erklärung unter dem Titel „Beyond Frenemies“ begründeten acht Autor*innen am 10. November 2022 daher ihren Rückzug: „Beide sind in der Vergangenheit als Unterstützer der antisemitischen BDS-Bewegung in Erscheinung getreten und haben islamistischen Terrorismus gegen den Staat Israel als legitimen Widerstand verharmlost. Kilani, Aktivist der Gruppe ‚Palästina Spricht‘, war zudem zwei Mal Gast in der Radiosendung des Verschwörungsideologen Ken Jebsen (KenFM).“ Die zurückgezogenen und lesenswerten Texte sind auf „haGalil“ hinter ihrer Erklärung verlinkt und absolut lesenswert.
Ob Ramsis Kilani und Kerem Schwamberger in dem inkriminierten Text eine Pro-BDS-Position vertreten, möge jede*r Leser*in ihres Textes selbst beurteilen. In ihrem Text geht es in erster Linie um die Frage, ob BDS als „antisemitisch“ angesehen werden könne oder nicht. Diese Frage wird kontrovers diskutiert, wie auch die sogenannte „Jerusalem Declaration“ vom März 2021 oder auch Erklärungen von mehreren Bundestagsabgeordnetem belegen, die – wie beispielsweise die damalige Vizepräsidentin des Bundestags Claudia Roth – der Anti-BDS-Resolution des Deutschen Bundestags vom 17. Mai 2019 nicht zustimmen wollten und sich der Stimme enthielten.
Es ließe sich durchaus darüber streiten, ob nicht nur BDS, sondern auch jede einzelne Person, die BDS zuneigt, „antisemitisch“ ist. Die von der Hamas initiierte Erklärung fordert die Zerstörung Israels. Roger Waters kann angesichts seiner Bühnenauftritte als „Antisemit“ bezeichnet werden, auch wenn er das persönlich bestreitet, aber das tun heutzutage viele, wenn nicht alle Antisemit*innen. Eine der Autor*innen, die ihren Text aus „Frenemies“ zurückzogen, Monika Schwarz-Friesel, schreibt in diesem Artikel: „Der für Judenhass typische Veränderungs-, Auslöschungs- und Erlösungswille wird auf Israel projiziert: Die eliminatorischen Forderungen verlangen je nach politischer Richtung entweder die Zerstörung oder Auflösung bzw. die radikale Veränderung in einen multi-religiösen Staat. Und sie führen so die kulturhistorische Tradition fort, Jüdinnen und Juden als das Übel in der Welt zu sehen. Israel fungiert in diesem Prozess als ‚kollektiver Jude‘ (so bereits Léon Poliakov) und erhält entsprechend alle Phantasieeigenschaften des Hasskonzeptes vom ‚ewigen Juden‘.“
Monika Schwarz-Friesel macht in ihrem Buch „Sprache und Emotion“ (erste Auflage erschienen 2007) einen Vorschlag, wie sich in dieser politischen Gemengelage unterscheiden ließe, ob es sich bei einer kritischen Äußerung gegenüber Israel um eine antisemitische Äußerung handelt oder nicht: „Es bleibt auf jeden Fall zu konstatieren, dass extrem israel-kritische (und emotionalisierte) Nahostberichterstattungen insbesondere dann sogar das Potenzial bieten, kognitive und emotionale Verstärkung für (latenten) Antisemitismus zu sein, wenn diese Kritik undifferenziert den gesamten Staat Israel und seine jüdischen Bürger, seine prinzipielle Existenz(berechtigung) und nicht vereinzelte, kritisierfähige Ereignisse betrifft, wenn diese Kritik in pauschalisierender Weise mit tradierten judenfeindlichen Stereotypen und entsprechenden Lexemen verknüpft ist, wenn diese Kritik israelische und jüdische Belange (zumal in feindseliger Weise) gleichsetzt, wenn dieser Kritik generell eine einseitige, verzerrte Perspektive zugrunde liegt, in der Israel als Judenstaat prinzipiell als der übermächtige, willkürliche Aggressor erscheint, dem unterstellt wird, mit brutalen, unmotivierten Methoden zu arbeiten (…).“
Ein Schlüsselwort lautet „undifferenziert“, ein anderes „pauschalisierend“. Diesen Vorwurf kann man Ramsis Kilani, Kerem Schwamberger und anderen, die BDS-Vertreter*innen gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigen wollen, nicht ersparen. Ich berücksichtige dabei durchaus, dass ein Mensch, der wie Ramsis Kilani bei einem wie auch immer motivierten Einsatz israelischer Truppen fünf Familienmitglieder verloren hat, unter diesem Eindruck die israelische Besatzung, das israelische Militär und – dies ausweitend – den Staat Israel grundsätzlich in Frage stellen mag. Das ist noch verständlich, aber rechtfertigt in keiner Weise die von ihm unterstützte Parole, die wir auf den sogenannten Al-Quds-Demonstrationen und anderswo hören: „From the river to the sea – Palestine will be free“. Diese Parole ist nichts anderes als ein Aufruf zur Zerstörung Israels, sie ist nicht nur anti-israelisch, sondern auch in ihrem gesamten Kontext mit all ihren aus der Klamottenkiste des europäischen und christlichen Antijudaismus beziehungsweise Antisemitismus entnommenen Metaphern und Bildern antisemitisch. Hinzu kommt eine Täter-Opfer-Umkehr nach dem Muster, dass israelische Militäreinsätze als Angriffe, die Terrorakte palästinensischer Gruppierungen jedoch als Gegenwehr charakterisiert werden. Dies geschieht auch immer wieder in der deutschen Berichterstattung.
Zurück zu „Frenemies“: ich kann die Entscheidung der Autor*innen, die ihre Texte zurückgezogen haben, nachvollziehen. Ich halte sie dennoch für zumindest kontraproduktiv, wenn nicht für falsch. Auf diese Weise spalten sich diejenigen, die sich gegen Antisemitismus engagieren, in zwei Lager und die eigentliche Frage nach der ständigen Präsenz und Bedrohung von Antisemitismus wird auf die Frage nach der Einschätzung von BDS (Natan Sznaider: „das Geschnatter des BDS“) reduziert. Es ist letztlich das Elend vieler identitätspolitischer Debatten. In ihrem Streit um die Ausrichtung ihres Kampfes gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen Sexismus stärken manche Akteur*innen unfreiwillig ihre Gegner*innen, denn die sind sich einig, wenn es darum geht, sogenannte „Genderideologie“, das „N-Wort“ oder eben auch ihre Kritik an Israel zu propagieren. Besonders infam wird dies, wenn linke Kritik an Israel von Rechtsextremist*innen – beispielsweise in AfD und FPÖ – als Anlass genutzt wird, sich selbst zu Verteidigern Israels aufzuschwingen. Falsche Freunde.
Vielleicht wäre es besser gewesen, auch eine Position wie sie Kerem Schwamberger und Ramsis Kilani vertreten, in „Frenemies“ zu dokumetieren. Es gibt in „Frenemies“ genügend Kommentare, die dieser Position widersprechen, nicht zuletzt ein Text der Co-Herausgeberin Saba-Nur Cheema, die schreibt: „Bei BDS haben wir es mit einer totalitären Ideologie zu tun, in der Ausschluss nicht ein Instrument, sondern ein inhärenter Grundsatz ist. Es ist makaber, dass sich gerade die Sympathisant*innen von BDS als Verfechter*innen von Meinungsfreiheit und Pluralität inszenieren.“ Oder all diejenigen, die ihnen widersprechen, gleich als Rassist*innen markieren.
Auch Meron Mendel hat sich klar positioniert. Es ist wohlfeil, ihm wie der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde in Berlin, in der Jüdischen Allgemeinen vom 23. März 2023 vorzuwerfen, er verharmlose Antisemitismus, wenn er sage, „wir müssen lernen, mit antisemitischer Kunst umzugehen“ oder nicht explizit genug den Antisemitismus von Roger Waters benennt. Ich wage zu behaupten, dass hier zwei verschiedene Begriffe des Wortes „umgehen“ vorliegen. „Umgehen“ hat nun nichts mit Akzeptanz zu tun, es geht jedoch um die Frage, welche Strategie gegen Antisemitismus wirkt und welche eher weniger.
In „Reden über Israel – eine deutsche Debatte“ findet Meron Mendel angesichts der Debatte um „Frenemies“ deutliche Worte: „Oft werde ich gefragt, wie ich zu der Kampagne stehe. Habe ich Sympathien, weil auch ich keinen Siedlersalat essen möchte? Nein, im Gegenteil: Ich erlebe das Gedankengebäude hinter den Buchstaben BDS als totalitäre Ideologie, die vornehmlich die radikalen Kräfte auf beiden Seiten stärkt: auf der palästinensischen genauso wie auf der israelischen.“ Er fährt fort: „BDS stoppt nicht den Siedlungsbau, sondern Friedensprojekte“.
Nur der Vollständigkeit halber: ein weiter Schauplatz der Debatte um den wirksamen Umgang mit Antisemitismus ist die Frage nach Gültigkeit und Wertigkeit der IHRA-Definition von Antisemitismus. Auch über diese ließe sich streiten, aber wer diese Definition nur deshalb in Frage stellt, weil auch israelbezogener Antisemitismus genannt wird, verfehlt das Thema. Die Definition bedarf in der täglichen politischen Praxis sicherlich der Konkretisierung, aber das haben solche heuristischen Definitionen nun einmal so an sich. Ob die Konkretisierung über Unterschriftenlisten erreicht wird, wage ich zu bezweifeln. Ein wenig – ich bitte um Verständnis für dieses Bild – könnte eine*n diese Debatte an den Streit in „Monty Python’s Life of Brian“ zwischen der Volksfront für Judäa und der Judäischen Volksfront erinnern. Nicht dass es solche Verwerfungen unter palästinensischen Organisationen nicht auch gäbe, aber Hamas, Hisbollah, PLO, Islamischer Dschihad und andere eint der gemeinsame Feind: Israel.
Deutsche Projektionsflächen
In Meron Mendels Buch: „Über Israel reden – Eine deutsche Debatte“ geht es im Grunde schon im Titel um zwei Bücher in einem, eines über Israel und, ein zweites über die Frage, wie Deutsche über Israel reden. Eine besonders gern gewählte deutsche Formulierung beginnt mit dem Verweis, dass man „unter Freunden“ doch sagen dürfe, was man von der ein oder anderen israelischen Position oder Praxis oder vielleicht sogar grundsätzlich von der israelischen Regierung hält, die oft auch als Summe aller Israelis, wenn nicht sogar als Repräsentantin aller Jüdinnen*Juden auf der Welt adressiert wird. Gute deutsche Ratschläge an Israel sind unter Deutschen alles andere als teuer und weil man sie auch gehört und befolgt wissen will, gibt man sie gleich an alle Jüdinnen*Juden weiter, denen man so begegnet, ungeachtet der Frage, ob sie israelische Staatsbürger*innen sind oder überhaupt eine Beziehung zu Israel haben. Solche deutschen Verhaltensweisen spricht Meron Mendel in seinem Buch an.
Das Buch beginnt mit einem mehr oder weniger autobiographisch inspiriertem „Prolog“. Es folgen ein Vorwort und vier Kapitel, in denen vier Begriffe dominieren: „Staatsräson“, „BDS“, „Linke“ und „Erinnerungskultur“, die Titel im Einzelnen: „Die Bundeswehr an der Klagemauer – Die Debatte um die Staatsräson“, „Drei Buchstaben mit Schlagkraft – Der BDS-Streit“, „Aus der Geschichte verlernt – Die Linke und der Nahostkonflikt“, „Vergleichbar einzigartig – die Erinnerungskultur und ihre Kritiker“. Den vier Kapiteln folgt ein Nachwort, in dem Meron Mendel eine Bemerkung von Pat Parker (1944-1989) zum Schwarz-Sein variiert: „Erstens, vergiss, dass Israel nach Auschwitz entstanden ist. Zweitens, vergiss nie, dass Israel nach Auschwitz entstanden ist. Und wer sich darüber beklagt, dass diese Forderung so entsetzlich widersprüchlich ist, hat damit verdammt recht.“
Meron Mendel plädiert im „Prolog“ „für Versachlichung und Differenzierung in einem umkämpften Feld, in dem sich Geschichte und Gegenwart sowie Real- und Moralpolitik vermischen.“ Dies wäre nicht zuletzt in den Debatten um Erinnerungskulturen – man muss dieses Wort im Plural verwenden – dringend erforderlich, die in Deutschland schon oft genug mit Bekenntnissen zu oder gegen Israel verbunden wurden, jetzt aber mit der Debatte um den deutschen Kolonialismus eine dritte Ebene gefunden haben, die sich mit den beiden anderen – Shoah und Israel – auf denkwürdige Weise verknüpft. Die eine Seite nach Meron Mendel: „Auch wenn wir es nur selten offen sagen, wissen wir es alle: die leidenschaftlichsten Unterstützer der israelischen und palästinensischen Sache leben in Deutschland – aber die meisten von ihnen haben nicht die leiseste Ahnung von der Situation vor Ort.“ Die andere Seite findet Meron Mendel in den Debatten um Achille Mbembe und Anthony Dirk Moses, die die deutsche Politik und mediale Öffentlichkeit über die Maßen beschäftigte: „In Wahrheit ist der Konflikt nur eine Projektionsfläche, auf der sich die Menschen in Deutschland ihrer Identität vergewissern.“
Dies gilt im Grunde für die meisten Debatten. Dazu gehörten im Jahr 2022 die Debatte um antisemitische Kunstwerke (darüber berichteten die Medien ausführlich) sowie die Nicht-Berücksichtigung israelischer Künstler*innen (darüber berichteten die Medien nur am Rande) in der documenta fifteen, 20 Jahre zuvor die Debatte um den Streit von Jürgen W. Möllemann mit Michel Friedman, der in einem durchaus als antisemitisch klassifizierbarem Flugblatt des FDP-Politikers gipfelte, das als Postwurfsendung in alle Haushalte versandt wurde. Dieses Flugblatt hätte man wie manch andere Wahlwerbung auch ignorieren können, doch dies geschah eben nicht: „Die Debatte wurde hochemotional geführt; als ob die Position zu Möllemann wichtiger wäre als die Wahl des Bundeskanzlers.“
Es geht letztlich um Projektionsflächen und wir sollten uns fragen, warum das so ist. Was fasziniert viele Deutsche so an der Debatte, dass sie überhaupt als „deutsche Debatte“ bezeichnet werden kann? Irgendwie scheint eine Art „Germansplaining“ zu wirken, analog zu dem berüchtigten „Westsplaining“ gegenüber Osteuropa oder afrikanischen und asiatischen Ländern. Meron Mendel formulierte in der Februar-Ausgabe von „Politik & Kultur“ die folgende These: „Die Skandale von der Mbembe-Debatte bis zur documenta-fifteen zeigen, dass die BDS-Debatte längst den deutschen Kulturbetrieb in Geiselhaft genommen hat. Beide Lager instrumentalisieren Veranstaltungen als Bühne für ihre politische Agenda. Solange aber in Deutschland beide Seiten den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nur als Projektionsfläche nutzen, um ihre eigene moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen, ist der nächste Skandal schon programmiert.“ Der Vollständigkeit halber: Dieser Artikel enthält eine eindeutige Positionierung Meron Mendels zu den von Roger Waters verwendeten „antisemitische(n) Feindbilder(n)“.
Der siebte Tag
Im „Prolog“ von „Über Israel reden“ schreibt Meron Mendel über seine Politisierung im Alltag seiner Kindheit in einem Kibbuz. „In meiner Jugend wurde der Nahostkonflikt zur treibenden Kraft meiner Politisierung“. Dies setzte sich auf dem Gymnasium durch Begegnungen mit bei „Peace Now“ engagierten Freund*innen fort, ein wegweisendes Buch war für ihn David Grossmans „Der geteilte Israeli“ (deutsche Ausgabe 1992 bei Hanser). Zum Alltag gehörten die militärischen Anlagen im Umfeld, aber auch die Tatsache, dass der Kibbuz keine arabischen Israelis aufnahm, dass es getrennte Schulen gab. „Unser politisches Selbstbewusstsein beruhte auf einem optimistischen Fortschrittsglauben, denn wir sahen uns gemeinsam mit den arabischen Jugendlichen auf der richtigen Seite der Geschichte. Auf der anderen, dunklen Seite der Historie standen nur noch die rückwärtsgewandten Religiösen und Nationalisten beider Seiten.“ Klare Verhältnisse? Das war und bleibt die Frage.
Meron Mendel wohnte in Ramallah in einer Etagenwohnung über einer palästinensischen Familie. Er erlebte Anschläge auf Siedler sowie Übergriffe und Demütigung von Arabern durch junge Siedler. Einer dieser damals jungen Siedler war Itamar Ben Gvir, heute Chef der rechtsradikalen Partei Otzma Jehudit und Minister für Innere Sicherheit: „Im Wesentlichen hat sich Ben Gvir aber nicht verändert. Verändert hat sich die israelische Gesellschaft (…). Kinder bitten um Selfies mit diesem freundlichen Araberhasser.“ Meron Mendel berichtet aber auch von dem Anruf eines jungen Siedlers, der seine araberfeindliche Haltung abgelegt hatte. An der Universität Haifa, an der Meron Mendel studierte, war etwa ein Drittel der Studierenden arabisch. Es gab Begegnungen, Diskussionen, andererseits blieben arabische und jüdische Studierende in der Mensa unter sich.
Es gibt im Grunde in Israel drei verschiedene Konzepte, wie sich die Zukunft des Staates Israels gestalten ließe. Es gibt den „Tel-Aviv-Staat“ mit seinen säkularen Ashkenasim (zu dem auch die Universität Haifa gehört), den „Jerusalem-Staat“ mit seinen ultrareligiösen Ashekenasim und das misrahische Israel, das lange keinen Zugang zu den wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Ämtern der von Tel Aviv dominierten politischen Eliten hatte und sich inzwischen mit den religiösen Ashkenasim zu verständigen scheint. Die aktuelle Koalition der israelischen Regierung deutet darauf hin. Meron Mendel beginnt sein Buch mit einer eher pessimistischen Perspektive: „Die Gefahr, dass sich Israel in den kommenden Jahren zu einer illiberalen Demokratie oder ‚defekten Demokratie‘ nach dem Vorbild der Türkei und Ungarns verwandeln wird, ist sehr real.“ Er bezieht sich mit dieser Einschätzung auf das Buch „How Democracies Die“ von Steven Levitizky und Daniel Ziblatt (deutsche Ausgabe München, DVA, 2018).
In seinem „Prolog“ zitiert Meron Mendel jedoch auch Jeschujahu Leibowitz (1903-1994) und damit eine Option, die ein völlig anderes Israel hätte entstehen lassen können. Jeschajahu Leibowitz sprach vom verpassten siebten Tag des Sechs-Tage-Krieges, an dem sich Israel aus den besetzten Gebieten hätte zurückziehen können. Ob diese Option Frieden bewirkt hätte, steht hier nicht zur Debatte, wohl aber die Tatsache, dass es immer Alternativen gegeben hätte. „Er widersprach unserer Vorstellung, dass der Friede mit den Palästinensern vor der Tür stehe. Ein Grundproblem sah er in der Ausbreitung einer neuen, messianischen Ideologie unter den jüdischen Israelis: Nationalistische, religiöse Juden, die der Idee eines Großisrael anhingen und Araber nicht als gleichwertige Menschen betrachtete, würden auch in Zukunft einen dauerhaften Frieden verhindern.“ Populär war diese Auffassung nicht, aber heute ist sie eine reale Gefahr geworden. Meron Mendel berichtet, dass er und ein Freund während ihrer Militärzeit die einzigen „Linken“ in der Golani-Brigade waren. Am 4. November 1995 erlebten sie die Ermordung Jitzchak Rabins durch den rechtsextremen Jurastudenten Jigal Amir.
Kommunizierende Röhren
Nun ist es nicht Sache deutscher Politiker*innen oder Kommentator*innen, sich darüber auszulassen, wann und wie sich Israel aus den 1967 besetzten Gebieten hätte zurückziehen sollen. Der Rückzug aus dem Sinai war Teil des Friedensabkommens mit Ägypten aus dem Jahr 1979, die Räumung Gazas durch Ariel Sharon (1928-2014) im Jahr 2005 führte zur Herrschaft der Hamas und zum Rücktritt des damaligen Finanzministers Benjamin Netanjahu. Besetzt – oder wie manche Israelis sagen – „umstritten“ bleiben Westbank und Golan. Der 1993 begonnene Oslo-Friedensprozess scheiterte an palästinensischem Terror und aggressiver Siedlerbewegung.
Das Kapitel „Die Bundeswehr an der Klagemauer“ beginnt Meron Mendel mit der „Debatte um die Staatsräson“ und den unterschiedlichen Auffassungen Angela Merkels, die diese Formel am 18. März 2008 vor der Knesset prägte, und Helmut Schmidts, der in seiner Zeit als Bundeskanzler „die ‚moralische Verpflichtung‘ der Deutschen gegenüber den Arabern im Vordergrund“ sah. Die Debatte um die sogenannte „Wiedergutmachung“, die im Luxemburger Abkommen von 1952 eine Rechtsgrundlage fand, sowie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 1965 waren umstritten. „Bei der Wiedergutmachung und der Beziehung zwischen Deutschland und Israel ging es selten um Moral, Verpflichtung oder sogar Schuld, sondern vor allem um Realpolitik.“ Auch um „Staatsräson“?
Meron Mendel hält fest, „dass moralische Argumente oft zum Einsatz kamen, wenn es politisch passte“, so auch im Sechstagekrieg 1967, in dem die Bundesrepublik – so Kurt-Georg Kiesinger, damals Kanzler der ersten Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, am 7. Juni 1967 – „sich zu einer Politik der Nichteinmischung entschlossen“ hatte, „um einer Verschärfung des Konflikts vorzubeugen und sich eine Grundlage für ihre Mitwirkung an der Befriedung und positiven Entwicklung im Nahen Osten zu erhalten.“ Inzwischen kann man in Deutschland durchaus von einem Konsens im Sinne der Formulierung Angela Merkels sprechen, andererseits sollte man den Begriff „Staatsräson“ nicht überbewerten. Ich glaube nicht, dass Angela Merkel und diejenigen, die ihre Rede vorbereitet hatten, die gesamte historische und politische Tragweite dieses Begriffs überblickten. Insofern halte ich die von Meron Mendel aufgeworfene Frage, ob der eigentlich vordemokratische Begriff der „Staatsräson“ noch tauge, um deutsche Solidarität mit Israel zu beschreiben, für eine akademische Frage. Interessanter ist das politische Framing um diesen Begriff, den alle, die ihn verwenden oder hören, in ihrem Sinne verwenden können. Anders gesagt: „Staatsräson“ ist kein dogmatischer Begriff.
Meron Mendel hält auch fest, dass sich die Stimmung in Deutschland mit dem Sechstagekrieg zugunsten Israels drehte, allerdings auf der Seite der „politischen Linken (…) spiegelbildlich“ in die arabische beziehungsweise palästinensische Richtung. Widersprüche ergaben sich allerdings daraus, dass Deutschland – wie auch die USA und andere westliche Staaten – dem Irak für den Kampf gegen den Iran die Waffen zur Verfügung gestellt hatte, mit denen der Irak 1990/1991 im Golfkrieg bedrohte. Inzwischen erleben wir bei der deutschen Linken – zugespitzt formuliert von Meron Mendel – eine „Spaltung (…) zwischen ‚antideutschen Israelfreunden‘ und ‚linksradikalen Israelfeinden‘“. Die anti-imperialistische Grundstimmung bei deutschen Linken wirkt sich eben auch auf das Verhältnis zu Israel aus, führt mitunter sogar zu Bündnissen mit rechtsextremistischen Kräften wie beispielsweise der türkischen BBP anlässlich der sogenannten „Gaza-Flotille“ im Jahr 2010, die auch einige Bundestagsabgeordnete der Linken begleiteten. Meron Mendel verweist darauf, dass es etwas anderes ist, sich in Deutschland oder in Israel als politisch links zu verstehen.
An den Beispielen von Axel Springer (1912-1985) und Günter Grass (1927-2015) demonstriert Meron Mendel die Doppelmoral mancher deutscher Intellektueller. Axel Springer hatte bei all seiner Unterstützung Israels immer auch die Verdammung der Gegner*innen Israels, der Linken und der Muslim*innen, im Sinn. Ähnlich instrumentalisiert inzwischen die AfD Israel, um Muslim*innen als die eigentlichen und wahren Feind*innen zu brandmarken. Günter Grass befleißigte sich ahistorischer Vergleiche, in dem er Israel analog zum Vernichtungswillen der Nazis gegenüber der jüdischen Bevölkerung den Willen zur „Vernichtung des iranischen Volkes“ unterstellte. Günter Grass verschwieg lange Zeit seine SS-Mitgliedschaft. „Womöglich fühlte er sich selbst als spätes NS-Opfer, als Opfer seiner eigenen Biografie. Und auch damit steht er paradigmatisch für eine ganze Generation: ‚Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen‘, analysierte treffend der israelische Psychologe Zwi Rex: Israel ist und bleibt die Projektionsfläche für deutsche Befindlichkeiten.“
Meron Mendels Fazit: „Wir müssen uns der Frage stellen, was Solidarität mit Israel heute bedeutet. Die deutsche Politik kann auf Dauer schwerlich an Merkels Konzept der Staatsräson festhalten. Die Bedeutung einer Selbstverpflichtung des deutschen Staates ist kaum zu überschätzen. Sie ist aber weder gesetzlich verankert noch von der Bevölkerung bestimmt. (…) Wie kann eine deutsche Staatsräson für Israels Sicherheit das Land vor der Gefahr der demokratischen Selbstzerstörung schützen?“
Entwicklungen in Deutschland, in Israel, in den arabischen Ländern bleiben kommunizierende Röhren, die sich je nach aktuellen Ereignissen und unter dem Einfluss diverser nationaler und internationaler Entwicklungen verändern. „Die Wirklichkeit ist komplexer, als beide Lager behaupten.“ Wenn es nur zwei Lager wären! Bilder über Bilder. Bei der documenta fifteen bemühten sich Meron Mendel und andere um Aufklärung und Räume für Debatten, mussten aber auch erleben, dass sie mehr oder weniger von den Hauptverantwortlichen instrumentalisiert wurden. Meron Mendel zog sich verständlicherweise wieder zurück.
Es blieb bei der Aufarbeitung der documenta fifteen bei den üblichen Fronten: während die einen durchweg Israel als Ursache der kritisierten Bilder brandmarkten und diese darüber hinaus unter dem Deckmantel der „Kunstfreiheit“ jeder Kritik entzogen, bezichtigten andere alle Künstler*innen aus dem Süden pauschal des Antisemitismus. Die Jüdische Allgemeine berichtete am 6. April 2023 von einer Podiumsdiskussion in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, die mehr als deutlich zeigte, wie sich Politiker*innen scheuen, Antisemitismus als das zu benennen was es ist: „Die hessische Ministerin und Grünen-Politikerin (Angela Dorn, NR) sagte, Kunstfreiheit bleibe so lange unantastbar bis strafrechtliche Grenzen überschritten würden. Bis dahin gebe es wenig Handlungsspielraum. / Dagegen wandte Michel Friedman aus dem Publikum ein, dass es ein gesellschaftliches Armutszeugnis sei, wenn das Strafrecht die einzige Instanz sein sollte. Er appellierte an die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde.“ Elefanten in allen Räumen.
Gewalt eigenen Unrechts
Die Debatte, die zurzeit als „Historikerstreit 2.0“ bezeichnet wird, ist eigentlich kein Streit unter Wissenschaftler*innen, sondern unter Feuilletonist*innen. Man darf mit Recht fragen, warum das Buch eines amerikanischen Literaturwissenschaftlers, das vor fast 15 Jahren erschien, und Äußerungen eines bisher weitgehend unbekannten australischen Politikwissenschaftlers es in die Debatten um die Zukunft der deutschen Erinnerungskultur schafften. Meron Mendel benennt auch hier „Israel und die Deutschen“ als das eigentliche Thema der Debatte. Der von Moses angeprangerte „Katechismus der Deutschen“ ist verdächtig nahe an dem von AfD-Politikern verwendeten Vorwurf des „Schuldkults“. Auch hier finden wir wieder „eine Projektionsfläche, auf der sich die Menschen in Deutschland ihrer Identität vergewissern.“ Dies ist manchen Rezipient*innen der Debatte durchaus bewusst und so versuchen sie, jeden Vergleich zwischen Kolonialverbrechen und Shoah zu unterbinden. Sie vergessen, dass ohne vergleichende Genozidforschung auch der einzigartige Charakter der Shoah beziehungsweise der NS-Verbrechen nicht belegt werden könnte.
Meron Mendel zitiert Saul Friedländer (*1932): „Der Nazi-Antisemitismus zielte nicht nur darauf, sich der Juden als Individuen zu entledigen, sondern auch darauf, jede Spur ‚des Juden‘ auszuradieren.“ Nun mag man sich streiten, ob der Begriff der „Einzigartigkeit“ beziehungsweise „Singularität“ dieses Verständnis vollständig abdeckt. Meron Mendel verweist auf Yehuda Bauer (*1926), der als Alternative den Begriff „präzedenzlos“ vorschlägt, und verwehrt sich unter Verwendung eines Begriffs von Chimamanda Ngozi Adichie (*1977) vor jeder „Unterdrückungsolympiade“: „Empathie entsteht nicht per Ranking, indem man die Leiden von Auschwitz gegen die Leiden in der Omaheke-Wüste aufrechnet. Das Leiden anderer Gruppen oder Individuen und das Gedenken an sich wird durch die Erinnerung an den Holocaust nicht berührt. Oder in den Worten von Dan Diner: ‚Die Folgen kolonialer Gewalt benötigen den Vergleich mit dem Holocaust nicht, um Anerkennung zu erwirken. Kolonialgewalt ist Gewalt eigenen Rechts – genauer: eigenen Unrechts.‘“
„Einzigartigkeit“ – so Meron Mendel – ist immer das Ergebnis eines Vergleichs. Das Problem liegt in der Hierarchisierung der Verbrechen, die beispielsweise für W.E.B. Du Bois (1868-1963) und Hannah Arendt (1906-1975) undenkbar gewesen wäre. Natan Sznaider hat dies in seinem Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung“ ausgeführt. Das Elend der Hierarchisierung erfuhr Meron Mendel in einer Debatte mit Charlotte Wiedemann (*1954) im BR im Sommer 2022, die in ihrem Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen – Holocaust und Weltgedächtnis“ (Berlin, Propyläen, 2022) davon sprach, „die Shoah würde ‚zur Degradierung anderer Leiden‘ missbraucht“. In der BR-Diskussion erwähnte sie die Shoah nicht, sondern forderte lediglich, „Räume für ‚berechtigte Kritik gegen Israel‘ und so weiter“ zu schaffen (als wenn man diese in Deutschland noch schaffen müsste). Das Buch sollte am 9. November 2022 vorgestellt werden. Der Termin wurde erst auf Betreiben der israelischen Botschaft abgesagt.
Meron Mendel verweist auf weitere Merkwürdigkeiten, beispielsweise aus Texten von Amnesty International. Er hätte auch Aleida Assmann (*1947) nennen können, die – mir angesichts ihrer Verdienste für die Erinnerungskultur nicht erklärbar – in der Zeitschrift „Merkur“ vom Oktober 2021 versuchte, die Debatte in eine „Erinnerung 1“ und eine „Erinnerung 2“ hinüberzuretten. Sie erntete Widerspruch, beispielsweise von Martin Schulze Wessel (*1962). Erinnerung bleibt umstritten. Aber nicht der Streit ist das Problem. Das Problem ist die ständige Moralisierung des Streits, mit der Positionen scheinbar streitfrei und als allgemein seligmachend hingestellt werden sollen. Es ist eines der Verdienste von Meron Mendels Buch „Über Israel reden“, dieses Problem – diese(n) „Elefanten im Raum“ – sichtbar zu machen. Wie wir als Leser*innen damit umgehen, ist eine andere Frage, aber letztlich – metaphorisch gesprochen – „die Kunst des Seiltanzes“. Wer das Buch von Meron Mendel aufmerksam liest, könnte diese Kunst erlernen.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2023, Internetzugriffe zuletzt am 5. April 2023. Das Titelbild zeigt das Jüdische Museum Berlin, Foto: Hans Peter Schaefer.)