Es gibt eben nicht nur die eine Geschichte!
Zu den Büchern und Vorträgen der Chimananda Ngozi Adichie
„So that is how to create a single story, show people as one thing, as only one thing, over and over again, and that is what they will become. Power is the ability not just to tell the story of another person, but to make it the definitive story of that person.” (Chimandanda Ngozi Adichie im TED Talk am 7.Oktober 2009: „The Danger of a Single Story“, deutsche Übersetzung: „So entsteht eine einzige Geschichte, so werden Menschen einseitig und nur unter diesem einen Aspekt, immer und immer wieder dargestellt, und so werden sie auf diesen einen Aspekt reduziert. Macht ist das Vermögen, nicht nur eine Geschichte über eine Person zu erzählen, sondern diese Geschichte zum einzig gültigen Narrativ dieser Person zu machen.“)
Sie ist preisgekrönte Schriftstellerin, gefragte und gefeierte Rednerin, Beyoncés Lieblingsfeministin und internationale Ikone des Feminismus, Afrikas bekannteste Frau, Unruhestifterin, Denkerin, gefürchtet und gefeiert wegen ihrer klaren Worte. Sie hält Vorträge, gibt Interviews und schreibt Romane, sie publiziert digital und analog.
Das TIME Magazine kürte sie 2017 zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt, das Fortune Magazine zählte sie unter die 50 größten Führungspersönlichkeiten weltweit, die Vogue nimmt sie auf die Titelseite. Sie lebt und arbeitet in Lagos, Nigeria, und in den USA. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.
Chimananda Ngozi Adichie wurde 1977 in Südnigeria geboren. Ihre Muttersprache ist Igbo. Sie wuchs in einer intellektuell aufgeschlossenen Akademikerfamilie mit fünf Geschwistern in der Universitätsstadt Nsukka auf und studierte zunächst Medizin und Pharmazie in Nigeria. 1996 zog in die USA, brach ihr Medizinstudium ab und wechselte zu Kommunikations- und Politikwissenschaften. Dieses Studium schloss sie 2001 summa cum laude ab. Ihre akademische Karriere setzte sie als „Hodder Fellow“ an der Princeton University (2005-2006) und mit einem Masterabschluss in Afrikanistik in Yale (2008) fort.
I think of myself first as a writer, that’s really what I am
Sie selbst sagt von sich, sie sei Feministin gewesen, noch bevor sie eine Ahnung davon gehabt habe, was dieses Wort bedeute, aber sie sei eben nicht nur Feministin. Genauso wenig repräsentiere sie „Afrika“ oder ihr Heimatland Nigeria. In erster Linie betrachte sie sich als Schriftstellerin.
Chimananda Ngozi Adichie positioniert sich, natürlich auch in ihren Romanen und Essays, aber noch mehr mit ihren öffentlichen Auftritten bei den TED Lectures, beispielsweise mit „We should all be feminists“ oder „The Danger of a Single Story“, anlässlich der Reith Lectures der BBC, als Beispiel genannt sei „Why Books Should Never Be Banned“. Sie nutzt alle Medien für ihre Botschaft in Sachen Gleichberechtigung und gegen Rassismus, Diktatur, Geschlechtergerechtigkeit, die Folgen von Kolonialismus und Autokratie, die Bedeutung von Bildung und die Gefahren von Ideologien. Chimananda Ngozi Adichie zeigt sich, eckt an, bestimmt ihre Geschichte selbst, lässt sich nicht vereinnahmen und bezieht klare Position.
Und mit diesen Vorträgen kann man beginnen, wenn man sich mit Chimananda Ngozi Adichie beschäftigen möchte, aber dann muss es weitergehen – und das sollte man unbedingt tun – man lese ihre preisgekrönten Romane, die in Großbritannien zum Curriculum des Mittelschulabschlusses gehören: Ihre literarische Karriere begann 2003 mit der Veröffentlichung von „Purple Hibiscus“ (deutsch: „Blauer Hibiskus“, 2005), der Roman brachte der damals 26jährigen eine Nominierung für den Booker Prize ein. 2006 folgte der zweite Roman „Half of a Yellow Sun“ (deutsch: „Die Hälfte der Sonne“, 2016), ebenfalls preisgekrönt, gefolgt von „Americanah“ 2013 (deutsch: „Americanah“ 2015).
2014 veröffentlichte sie ihren TED Vortrag We Should All Be Feminists, (deutsch: Mehr Feminismus! 2014). Der Text hatte digital eine enorme Streuweite und ein fulminantes Echo. Beyoncé trug erheblich zur weiteren Verbreitung bei, als sie Adichies Definition von Feminismus für ihren Song „Flawless“ übernahm.
2017 legt sie mit „Dear Ijeawele, or a Feminist Manifesto in Fifteen Suggestions“ nach. 2021 erschienen die sehr persönlichen „Notes on Grief (deutsch: „Trauer ist das Glück, geliebt zu haben“, 2022).
Legt die zunehmende Geschwindigkeit, mit der ihre Werke auf Deutsch in sehr guten Übersetzungen veröffentlicht werden, zugrunde, könnte man zum Schluss kommen, auch der deutsche Buchmarkt habe die Bedeutung dieser Stimme im globalen literarischen Kanon entdeckt. Chimananda Ngozi Adichies Bücher sind hinreißend geschrieben, klar in der Sprache, klar in der Darstellung. Ihre Geschichten sind mehrdimensional, ihre Figuren in der eigenen Sozialisation gebunden, deren Prägung sie hinter sich lassen, ihre eigenen Wege finden (müssen). Manchmal stockt der Atem beim Lesen, manchmal greift man, ertappt in der eigenen Unwissenheit über politische Hintergründe, schnell zum digitalen Lexikon. Drei ihrer Werke seien hier vorgestellt: „Blauer Hibiskus“, „Die Hälfte der Sonne“ und „Americanah“. In guter literarischer Tradition verknüpft Chimananda Ngozi Adichie persönliche Geschichten mit historischen Fakten. Mit eigener Kernbotschaft: es gibt nicht nur die eine Geschichte.
Purple Hibiscus
„Bei uns zu Hause begann alles in die Brüche zu gehen, als mein Bruder Jaja nicht bei der Kommunion war und mein Vater sein schweres Messbuch durch das Zimmer schleuderte und die Keramikfiguren auf der Etagere zerbrach.“ (aus der deutschen Ausgabe, die den Titel „Blauer Hibiskus“ erhielt, 2005. Übersetzung Judith Schwab)
Der Roman beginnt mit der Katastrophe, „Wenn die Götter vom Himmel fallen“ ist das erste Kapitel überschrieben. Dieser erste Satz enthält alle Zeichen des ganzen Dramas. Die Katastrophe nimmt an einem Palmsonntag ihren Lauf.
Kambili und ihr Bruder Jaja wachsen in einem privilegierten Elternhaus in Nigeria auf. Der Vater ist Verleger einer Zeitung, einflussreiches Mitglied der Kirchengemeinde und Träger eines Menschenrechtspreises. Die Mutter erfüllt alle Pflichten im Haus. Die Geschwister Jaja und Kambili besuchen eine renommierte Missionsschule. Der Vater erstellt für beide Kinder einen Wochenplan, in dem festgelegt ist, wann sie lernen, wann sie die Bibel lesen müssen, wann Essenszeit ist. Der Vater erwartet erstklassige Leistung, beide Kinder müssen in allen Schulfächern die Ersten sein, ein zweiter Platz zieht eine Strafpredigt und Prügel nach sich. Der Dekalog, vom Vater rigide ausgelegt, bestimmt das Leben der Familie.
„DU SOLLST“ lässt keinen Platz für eigene Gedanken. Die Familie lebt im Kokon des Strebens nach christlicher Vollkommenheit in der Pflichterfüllung, während „außen“ die Unruhen das Land erschüttern. In diesem „Außen“ bezieht der Vater mit seiner Zeitung klare Stellung für die Einführung einer „rundum erneuerten Demokratie“. Als sein Chefredakteur verhaftet wird, befreit ihn der Vater mittels Geld und Kontakten und führt die Zeitung weiter aus dem Untergrund, immer in der Gefahr, selbst durch die Militärregierung verhaftet und ermordet zu werden.
Zu Weihnachten fährt man aus der Hauptstadt nach Abba, wo die gesamte Familie, die Umunna, zusammenkommt. Kambilis Vater besitzt auch dort ein sehr stattliches Anwesen und genießt großes Ansehen, weil er es zu etwas gebracht hat. Almosen an alle Bedürftigen, die das Haus aufsuchen, gehören zur Pflicht. Viele kommen. Aber es gelten klare Grenzen: der Vater verweigert jeden Kontakt zu den Familienmitgliedern, die der traditionellen, vorkolonialen Lebensweise nachgehen und Geistwesen verehren. Der Bann trifft auch den Großvater der Kinder.
Tante Ifeoma, die Schwester des Vaters, wird zur Schlüsselfigur der sich entfaltenden Transition der Heranwachsenden. Der blaue Hibiskus in Ifeomas Vorgarten wird zum Symbol der Freiheit und zum Kontrapunkt des bisherigen Lebens: „Und plötzlich schien mir Jajas Trotz wie Tante Ifeomas besondere Züchtung von Blauem Hibiskus: selten, mit dem leisen Duft von Freiheit, einer anderen Freiheit als der, die die Menschen nach dem Putsch auf dem Government Square gefordert hatten, singend, in den Händen Zweige mit grünen Blättern. Die Freiheit, zu sein, zu handeln.“ (Blauer Hibiskus, Übersetzung Judith Schwab)
Alles beginnt mit den Ferien, die Tante Ifeoma dem Bruder für Kambili und Jaja abtrotzt. In Nsukka, im kleinen von Essen- und Kerosindüften durchzogenen Haus der Tante und bei der Gartenarbeit lernen die beiden Heranwachsenden das Leben in der Großfamilie kennen. Hier zählt, wie man sich und die eigenen Fähigkeiten zur Freude und zum Wohlergehen der anderen einbringt. Nicht Zwang, sondern Verständnis für die Eigenheiten stehen im Vordergrund. Jedenfalls in dieser Familie.
Auch zum Großvater, der in der Familie eine hochangesehene Respektsperson ist, entwickeln Kambili und Jaja eine starke Bindung. Sein Tod ist eine Zäsur. Die Veränderung, die bei den Kindern vor sich geht, zeigt Auswirkungen auf das mit Gewalt durch den Vater aufrecht erhaltene Gesamtgefüge. Der Patriarch reagiert mit äußerster Brutalität. Diesmal funktioniert das System nicht mehr. Die gewohnte Abfolge von Strafe und Vergebung hat keinen Sinn mehr. Jaja verweigert sich als Erster – indem er nicht zur Kommunion geht und damit den Bruch öffentlich zeigt. Und dann kommt es zu der Szene am Palmsonntag. Die Etagere, von der Mutter sorgfältigst über Jahre hinweg gepflegt, Symbol der alten Ordnung, ist zerschmettert. Jaja vergiftet den Patriarchen. Die Mutter beginnt zu sprechen.
Eine Familie zerbricht, ein Land versinkt im Terror, eine Kindheit geht zu Ende. All das erzählt Chimananda Ngozi Adichie im Blauen Hibiskus.
Half of a Yellow Sun
“Start the story with the failure of the African state, and not with the colonial creation of the African state, and you have an entirely different story. / Of course, Africa is a continent full of catastrophes: There are immense ones, such as the horrific rapes in Congo and depressing ones, such as the fact that 5,000 people apply for one job in Nigeria. But there are other stories that are not about catastrophe, and it is very important, it is just as important, to talk about them.” (aus: The Danger of a Single Story, deutsch: „Wenn wir die Geschichte mit dem Versagen des Afrikanischen Staates beginnen und nicht mit der kolonialen Erschaffung des Afrikanischen Staates, haben wir eine völlig andere Geschichte. Natürlich ist Afrika ein Kontinent voller Katastrophen: diese Katastrophen sind immens, wie zum Beispiel die fürchterlichen Vergewaltigungen im Kongo, und es sind deprimierende Katastrophen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass sich auf eine einzige freie Stelle in Nigeria 5.000 Menschen melden. Aber es gibt andere Geschichten, die nicht von Katastrophen handeln, und das ist sehr wichtig, es ist genauso wichtig über diese Geschichten zu sprechen.“)
Der zweite Roman, deutscher Titel: „Die Hälfte der Sonne“, ist die Geschichte von Ugwu, Odenigbo, Olanna, Kainene und Richard.
Wir schreiben die späten 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ugwu kommt aus einem kleinen Dorf und wird zum Hausboy des linksintellektuellen Professors Odenigbo, der an der Universität von Nsukka lehrt. Der private Rahmen der Hauptfiguren: Odenigbo lernt Olanna kennen, Tochter aus reicher Familie in Lagos. Die beiden werden ein Paar, Olanna gibt ihr altes Leben auf und zieht nach Nsukka. Olannas Schwester Kainene, designierte Firmenerbin und Societylady begegnet dem Briten Richard, der auf der Suche nach dem ersten eigenen Buchprojekt ist. In Odengibos Haus trifft sich regelmäßig ein Zirkel von Freund*innen und guten Bekannten unterschiedlicher Berufe und Herkunft, um über die Zukunft des Landes, die Korruption der Staatsführung und Wege und Möglichkeiten der Einführung eines demokratischen Staatswesen zu diskutieren. Die Spannungen im Staat nehmen zu, die Zugehörigkeit zu den Ethnien der Yoruba oder der Igbo wird auf einmal relevant, ebenso die Zugehörigkeit zu einer der christlichen Denominationen oder zum Islam. Es geht um Korruption und die fehlende Infrastruktur, um die Vernachlässigung des gesamten Bildungssektors. Es geht um Macht, es geht um postkolonialen Einfluss in der Region, es geht um die natürlichen Ressourcen, Öl, im Süden Nigerias und natürlich um viel Geld. Großbritannien und Frankreich, die alten Kolonialmächte, machen ihren Einfluss geltend und schüren den Konflikt, der in Unruhen, dann in den Krieg mündet.
Biafra ruft 1967 seine Unabhängigkeit aus, der neue Staat umfasst den Süden Nigerias und die Erdölvorkommen im Nigerdelta. Die Flagge des neuen Staates zeigt die Farben rot-schwarz-grün, im schwarzen Feld die halbe, die aufgehende Sonne, die dem Roman den Titel gibt. Nigeria schlägt zurück. Drei Jahre lang wütet der sogenannte „Biafra-Krieg“, mit dem in Biafra durch eine auch von den alten Kolonialmächten unterstützte Blockade eine der schlimmsten Hungerkatastrophen einhergeht. Mit unerbittlicher Brutalität metzeln sich Igbo und Yoruba, Christen und Muslime nieder. Chimanda Ngozi Adichie verschweigt nichts. 1970 wird Biafra wieder nach Nigeria „eingegliedert“. Keine Seite hat den Krieg gewonnen. Zu groß sind die Verluste.
Die Hauptakteur*innen des Romans stützen die Unabhängigkeit, erst mit großer Hoffnung und Erleichterung, dann so gut sie können. Schließlich versuchen sie unter Einsatz des eigenen Lebens die Katastrophe abzuwenden, die Familie zu retten. Die sehr betuchten Eltern von Olanna und Kainene sind längst nach Europa geflüchtet. Der gesamte Besitz der Familie in Biafra ist verloren. Familienangehörige werden ermordet – oder „verschwinden“. Es ist ein Roman über Liebe, Loyalität, Rassismus, Ethnizismus, Verrat, die Folgen des Kolonialismus und postkoloniales Handeln.
Jetzt, im Februar 2023 sind in Nigeria wieder Wahlen. Zur Ruhe ist das Land noch nicht gekommen.
Americanah
„The only reason you say that race was not an issue is because you wish it was not. We all wish it was not. But it’s a lie. I came from a country where race was no issue; I didn’t think I was black and I only became black when I came to America.” (Ifemelu in Americanah, deutsche Übersetzung: „Der einzige Grund, warum du sagst, Rasse sei kein Thema, ist, weil du wünschtest, es sei so. Wir alle wünschten, Rasse wäre kein Thema. Aber das ist eine Lüge. Ich komme aus einem Land, in dem Rasse kein Thema war. Ich hab mich selbst nicht als schwarz bezeichnet, das wurde ich erst, als ich nach Amerika kam.“)
In einem Interview mit Erica Wagner für die Vogue am 3. November 2015 nennt Chimamanda Ngozi Adichie das zentrale Thema des Romans: „We don’t do race in Nigeria. We do ethnicity a lot, but not race“ (deutsch „In Nigeria spielt für uns Rasse keine Rolle, für uns spielt Ethnizität eine große Rolle, aber nicht Rasse.“)
Für ihren dritten Roman wählt Adichie ein anderes Setting und greift dabei auf eigene Erfahrungen zurück. Die junge Ifemelu lebt in Nigeria und trifft mit Obinze die Liebe ihres Lebens. Sie sind jung, sie haben Träume. Obinzes Traum ist ein Leben in den USA, „Amerika“, Ifemelu will weiterkommen und einen Beruf haben. Beide unterliegen den strengen Sitten, über deren Einhaltung Obinzes Mutter ohne Erfolg wacht. Die Freiheit von Frauen, gemäß ihren eigenen Vorstellungen und Fähigkeiten leben zu können, das ist ein Thema des Romans. Die politische Situation in Nigeria, Korruption und Instabilität, eine patriarchale Gesellschaft und eine Jugend, die ihre Zukunft außerhalb des Landes sucht, sind weitere Themen.
Ifemelu bricht ihre Studien in Nigeria ab und wandert in die USA aus, erstmal für ein Studium. Sie kommt bei einer alleinerziehenden Kusine unter, versucht, Geld zu verdienen und gerät immer wieder in die Falle: als gutaussehende Schwarze Frau sehen weiße sie als Sexobjekt oder billige Arbeitskraft. In der Community der Afro-Americans fällt sie auch auf, sie wird den American Africans zugeordnet. Auch gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie das Leben in den USA zu gestalten sei: entweder man passt sich an und verliert die Verbindung zum Herkunftsland oder man hält auch in der neuen Umgebung die alten Standards und die alte Ordnung aufrecht und richtet das Familienleben danach aus, wie es im Herkunftsland üblich ist. Es geht um die eigene Identität. Die eigene Identität, in diesem Fall Ifemelus, wird von gutgemeinter Aneignung kultureller Merkmale durch weiße und die einseitige Wahrnehmung von Menschen anderer Hautfarbe als weiß als grundsätzlich hilfsbedürftig – oder als undankbar – in Frage gestellt.
Ifemelu beißt sich durch. Die Erinnerung an Obinze verblasst langsam, dann verdrängt Ifemelu alle Gedanken an ihn nach einem sexuellen Übergriff durch einen weißen Mann, getarnt als sexuelle Dienstleistung. Obinze gehört in die alte „heile“ Welt. Amerika ist eine andere Welt, in der sie sich stabilisieren muss. Das eine darf mit dem anderen nichts mehr zu tun haben. Ifemelu startet einen Blog über Rassismus, der so erfolgreich wird, dass sie davon leben kann. Sie hat mehrere Beziehungen, sie schließt ihr Studium erfolgreich ab. Sie bekommt ein Fellowship in Princeton. Und dann lassen sich die Verbindungen nach Nigeria nicht länger verleugnen. Sie kehrt in die Heimat zurück.
Was es bedeutet, eine selbstbewusste und selbstbestimmt lebende Frau in Nigeria zu sein, darum geht es im letzten Teil des Romans.
Obinze ist inzwischen in Lagos ein gemachter Mann, hat ein großes Haus und alle anderen Insignien des Erfolgs: Frau, Kind, Auto, Geld, Einfluss. Der Weg dahin war nicht einfach. Auch Obinze hatte Nigeria auf der Suche nach einer besseren Zukunft verlassen und emigrierte auf einem Touristenvisum zu einem Cousin nach London. Ohne Papiere keine Arbeit, ohne Arbeit keine Zukunft. Obinze schlug sich illegal durch, wird erwischt und abgeschoben nach Lagos. Und dann macht er seinen Weg verblüffend einfach und schnell. Alles scheint perfekt. Bis Ifemelu den Kontakt wieder aufnimmt. Die beiden treffen sich. Er bewundert und bestärkt sie in ihrem eigenen beruflichen Weg und ihrer Selbstständigkeit. Sie lässt ihm seine berufliche Welt, besteht aber auf einer Entscheidung, was eine gemeinsame Zukunft zu zweit angeht. In diesem Roman gibt es ein Happy End. Jedenfalls für Ifemelu und für Obinze, die ihren eigenen Weg gehen, jede*r für sich die/den anderen lässt, um ein gemeinsames Leben aufzubauen.
Feministin
„I’m a feminist. And when I looked up the word in the dictionary that day, this is what it said: Feminist: a person who believes in the social, political and economic equality of the sexes.” (deutsch: “Feminist*in“: Eine Person, die an die politische, soziale und wirtschaftliche Gleichheit der Geschlechter glaubt.“) Das ist die berühmte Definition des Feminismus, die auch Beyoncé in ihrem Song „Flawless“ zitiert. In ihrem Vortrag „Why We All Should Be Feminists” konkretisiert Chimamanda Ngozi Adichie den Gedanken: „Now imagine how much happier we would be, how much freer to be our true individual selves, if we didn’t have the weight of gender expectations.“ (deutsch: „Stellt euch vor, wieviel glücklicher wir wären, um wie viel freier in unserem wahren individuellem Sein, wenn wir nicht dieses Gewicht der geschlechtlichen Rollenerwartungen mit uns schleppten.“)
Adichies fulminanter TED Talk über Feminismus ist sofort nach seinem Erscheinen 2009 viral gegangen. Den Text hat Adichie schnell auch analog in Buchform veröffentlicht – und auch in dieser Form war der Text weltweit in vielen Sprachen ein Erfolg. In Deutschland ist er als Manifest und als bunt illustriert im Sauerländer Kinderbuch Verlag als Graphic Edition erschienen.
Eigentlich sagt Adichie das Offensichtliche: Kinder sollten als selbstbewusste, freie Menschen erzogen werden. Sie sollten selbstbestimmt und mit Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten ausgestattet den bestmöglichen Start in ein gutes Leben bekommen. Aber: die Regularien der Sozialisation gleichen sich weltweit immer noch, die Realität ist noch weit vom Ziel entfernt.
Mädchen werden immer noch dazu erzogen, eher nicht aufzufallen, eher zu dienen als zu rebellieren, eher in der zweiten Reihe zu stehen als ein Wirtschaftsunternehmen, ein Land, eine Klinik zu führen, sich in Wissenschaft und Forschung an erster Stelle zu positionieren. Patriarchalen Strukturen in Schulen, Universitäten, in der Ausbildung, im Beruf sind ebenfalls vorsichtig gesagt eher sehr zögerlich darauf ausgerichtet, Frauen den Weg in die Pole Positions zu ebnen. Auch den Jungen wird nichts Gutes getan, wenn sie in einem Bild von Männlichkeit erzogen werden, das Gefühle, Fürsorge, Schwäche nicht zulässt und stattdessen den Weg zu toxischer Männlichkeit weist.
Chimananda Ngozi Adiche trifft einen Nerv. Ihre Aussagen lesen sich selbstverständlich: das biologische Geschlecht bestimmt nicht die fachliche Qualifikation. Geschlechterrollen sind nichts als Zuschreibungen, „der männliche Blickwinkel als Bestimmer meiner Lebensentscheidungen ist längst von gestern“, schreibt sie. Geschlechterrollen und -zuweisungen beschreiben, wie wir sein sollen, nicht unsere Fähigkeiten und unsere Identitäten.
Adichie erreicht junge Menschen über die digitalen Kanäle, Beyoncé, selbst Idol vieler Menschen, trägt die Botschaft weiter mit einem anderen Medium. Es soll T Shirts mit Passagen aus „We All Should Be Feminists“ geben. Das lässt sich nicht mehr zurücknehmen. Und das ist gut so. Es ist ein Manifest.
„We Should All Be Feminists“ und „The Danger of a Single Story“ sind die zwei Seiten einer Medaille: es geht um Respekt und Würde, um nichts weniger als die Menschenrechte. Vielleicht muss es jede Generation für sich neu in Worte fassen, damit die Botschaft der Gleichberechtigung gehört wird, Adichies Botschaft ist bei der einer jungen medienaffinen Generation angekommen.
Dear Ijeawele or a Feminist Manifesto in Fifteen Suggestions
In ihrem 2017 erschienen „Brief“ an die Freundin Ijeawele, die gerade Mutter einer Tochter geworden ist, schreibt Adichie ihre Botschaft fort. Ihre 15 Vorschläge für die feministische Erziehung von Mädchen, Anweisungen „wie unsere Töchter selbstbestimmte Frauen werden“, gehört in jedes Erstversorgungspaket für junge Eltern.
Auch hier wieder bestechen Einfachheit und Verständlichkeit statt groß angelegter Theorie. Schon der erste und der zweite Vorschlag, an die junge Mutter und den jungen Vater gerichtet, sind leicht daher gesagt. Beide treffen bei vielen jungen Eltern ganz sicher auf durch die Sozialisation gefestigten Erwartungen an die eigene neue Rolle. Den Müttern rät sie: „Sei eine vollständige Person“, lass dich nicht auf die Mutterschaft reduzieren, behalte dein eigenes Leben. Und es macht gar nichts, wenn du als junge Mutter nicht alles weißt, du darfst scheitern und musst nicht „alles schaffen“. Hol dir Unterstützung – und es gibt da zwei Elternteile, die beide gleiche Rechte haben – und in vielen Ländern auch die rechtlichen Möglichkeiten, diese einzulösen.
Einfach gesagt. Kontrollieren wir mal unsere eigenen Erfahrungen.
Des Weiteren führt Adichie das aus, was sie bereits in ihrem TED Talk gesagt hat: Geschlechterrollen sind Blödsinn, Biologie ist keine Begründung für soziale Normen. Es geht nicht um Aussehen, es geht um Fähigkeiten und Selbstbestimmtheit, um lustvolles Leben, um die Sichtbarkeit von Frauen. Es geht um Vielfalt.
Notes on Grief: Trauer ist das Glück geliebt zu haben
Adichies jüngste analoge Veröffentlichung ist ein sehr persönlicher Text, in dem sie die erste Zeit nach dem unerwarteten plötzlichen Tod ihres Vaters schildert. Im englischen Original heißt der Titel folgerichtig: „Notes on Grief“, gerade in seiner Knappheit berührend. Eine weitere Erklärung braucht es eigentlich nicht.
Was passiert in dieser Ausnahmezeit mit dem gewohnten Familiengefüge, wo zeigen sich die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit bis hin zu Leugnung, dass dieser Tod jetzt geschehen ist und das Sterben unumkehrbar ist. Wo Worte versagen, helfen Riten. Mag sein, aber wo helfen Worte und Gesten und versagen die Riten?
Dieses kleine Buch enthält 30 kurze Kapitel. Es sei allen anempfohlen, die diese Grenzerfahrung durchlaufen. Diese Zeit, „in der die Luft sich in Klebstoff verwandelt“, ist ein ganz besonderer Initiationsritus.
Warum wird dann dieses Buch unter dem Titel Feminismus besprochen? Weil es auch ein Manifest für den liebevollen, humorvollen, leitenden Umgang von Eltern mit ihren Kindern ist. Adichies Eltern müssen kluge Menschen gewesen sein, die die unterschiedlichen Fähigkeiten ihrer sechs Kinder gut gesehen und gefördert haben. Jedenfalls wurde hier ganz offenbar das Fundament gelegt, auf dem sich diese außergewöhnliche, kluge und selbstbewusste Frau zu der Frau entwickelte, die heute furchtlos und mutig in der Welt steht und sprachmächtig anspricht, was sie umtreibt.
Unruhestifterin
Natürlich stiftet eine Frau, die so auf allen Medien präsent ist wie Chimanda Ngozi Adichie Unruhe. Sie stiftet Unruhe in den konservativen, patriarchalen Strukturen – nicht nur in ihrem Heimatland –, weil sie Frauen ermutigt, aufzustehen und ihr eigenes Leben zu leben, sichtbar zu werden und zu bleiben.
Sie galt lange Zeit als Ikone der LGBT*IQ Communities – bis sie 2017 in einem Interview bei Radio 4 der BBC auf die Frage, ob denn Trans*Frauen Frauen seien, antwortete, Trans*frauen seien Trans*frauen. Vielleicht für viele die Darstellung eines offensichtlichen Sachverhaltes. In der nicht nur im englischsprachigen Raum aufgeheizten Debatte um Transfeindlichkeit erhob sich ein Shitstorm gegen die Autorin, die sich erst perplex und verletzt über die zum Teil sehr scharfen und persönlichen Kommentare bei facebook und Twitter zeigte, dann aber auch zumindest sehr unglücklich und ohne Verständnis für die Gegenargumente regierte. Fünf Jahre später scheinen die Verletzungen auf beiden Seiten immer noch sehr virulent. Man fragt sich, warum Adichie nicht souverän ihre eigenen Thesen aus „The Danger of a Single Story“ anwenden kann – oder will?
Die Reith-Lecture der BBC, zu der sie 2022 eingeladen war, war dem Thema Freiheit gewidmet. Adichies Part war die Freiheit der Rede. Sie verweist in ihrem Beitrag auf die schwierige Situation, die nicht nur für Autor*innen und Journalist*innen dadurch entsteht, dass die sogenannte „cancel-culture“ jede Äußerung misstrauisch nach möglichen verbalen Fehltritten untersucht. Kreativität gerät damit unter Druck, freie Meinungsäußerung, Literatur, in Gefahr. Auch kein unbekanntes Territorium, auf dem sie sich da bewegt. Allenthalben wird beklagt, dass eine offene Diskussionskultur, der Austausch von Argumenten und Meinungen ohne die sofortige Anwendung der Hermeneutik des Verdachts zunehmend schwierig oder unmöglich geworden ist. Menschen leben in ihren Bubbles, auch Tribes genannt, bestärken sich in ihren gleichen Ansichten, ziehen Grenzen, ziehen sich – so beschrieb es Zygmunt Bauman sel.A. in seinem Buch „Retrotopia“ an ihr „Lagerfeuer“ zurück.
Sie hat Recht, Chimandanda Ngozi Adichie. Das Beharren auf Ideologien und Dogmen, der Versuch autoritär den Alleinvertretungsanspruch auf DIE Wahrheit – die es ja nicht gibt – durchzusetzen, hat die Menschheit noch nie weitergebracht. Der klare Austausch von Ideen und Argumenten schon. Der Debatte täte eine differenzierte und komplexe Betrachtung gut, wie sie in Adichies „The Danger of a Single Story“ angelegt ist: „All of these stories make me who I am. But to insists on only these negative stories is to flatten my experience and to overlook the many other stories that formed me. The single story creates stereotypes, and the problem with stereotypes is not that they are untrue, but that they are incomplete. They make one story become the only story. (…) The consequence of the single story is this: It robs people of dignity. It makes our recognition of our equal humanity difficult. It emphasizes how we are different rather than how we are similar.” (deutsch: „Alle diese Geschichten machen mich aus. Aber nur auf den negativen Geschichten zu bestehen, verflacht meine Erfahrung und übersieht die vielen anderen Geschichten, die mich ausmachen. Die einzige Geschichte schafft Stereotypen, das Problem mit Stereotypen ist, sie sind zwar war, aber ergeben nur ein unvollständiges Bild. Sie bewirken, dass ein einziges Narrativ als gültig dargestellt wird. (…) Die Konsequenz dieses einzigen Narrativs ist folgende: es beraubt Menschen ihrer Würde. Es bewirkt, dass wir nur schwer unser gemeinsames Menschsein erkennen. Es unsere Verschiedenheit her als unsere Gemeinsamkeiten zu betonen.“)
Zum Weiterlesen (auf deutsch erhältliche Ausgaben):
- Blauer Hibiskus, München, Luchterhand Literaturverlag. 2005, als Fischer-Taschenbuch 2018 erschienen).
- Die Hälfte der Sonne, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch 2021.
- Americanah, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch, 2015,
- Mehr Feminismus! Ein Manifest und vier Stories, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch, 2016
- Liebe Ijeawele, Wie unsere Töchter selbstbestimmte Frauen werden, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch, 2020.
- Trauer ist das Glück, geliebt zu haben, Frankfurt am Main, Fischer, 2021.
- Warum ich Feministin bin. Frankfurt am Main, Sauerländer, 2022.
Interviews mit Chimamanda Ngozi Adichie:
- von Erica Wagner am 3. November 2015 in der Vogue,
- von Clarisse Juompan-Yakam am 8. Mai 2020 im Africa Report,
- von Zoe Williams am 28. Februar 2022 im Guardian
Beate Blatz, Köln
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 4. Februar 2023, Übersetzungen wenn nicht anders genannt von Beate Blatz.)