Es ist an der Zeit

Ein etwas anderer Blick auf die Wahlprogramme 2025

Spiegelt man die Programme der Parteien zur Bundestagswahl 2025 an der Realität, wird eines schnell klar: Sie lösen den Reformstau in Deutschland nicht auf. Sie sind weitgehend solide, durchdacht, ja, vielfach notwendig – aber sie wagen nicht den Schritt, der uns als Gesellschaft in die Zukunft tragen könnte. Es fehlt an Visionen, an einem inspirierenden Bild des Möglichen. Keine Partei entwirft eine Zukunft, die Lust auf Engagement macht, auf eine Richtung, die Veränderung als Chance begreift.

Dabei steht unser Land an einem Wendepunkt

Eine Zeitenwende hat begonnen, die alle Bereiche – Staat, Gesellschaft, Wirtschaft – erfasst. Es bleibt kein Stein auf dem anderen. Aufgabe der Politik ist es, die Rahmenbedingungen für diesen Wandel zu schaffen und den Menschen Orientierung und Mut zu geben. Doch stattdessen verharren die Wahlprogramme meist in der Optimierung des Bestehenden. Sie diskutieren über die Schuldenbremse, statt die große Frage zu stellen: Wie wollen wir in Zukunft leben und arbeiten? Dabei ist klar: Wir brauchen einen Pfadwechsel unseres Handelns. Die Zeitenwende verlangt von uns allen viel – auch Zumutungen, die ehrlich angesprochen und kommuniziert werden müssen. Nur wenn wir bereit sind, uns zu verändern, können wir die Herausforderungen meistern.

Mut zur Gestaltung einer neuen Zeit

Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen: Klimawandel, Migration, Krieg in Europa, eine alternde Gesellschaft und die rasanten Umwälzungen durch neue Technologien wie Künstliche Intelligenz. Jeder weiß, dass die kommenden Jahre von Zumutungen geprägt sein werden, die uns alle herausfordern. Doch statt dies klar zu artikulieren und mit den Menschen über notwendige Veränderungen zu sprechen, verharrt die Politik in der Gegenwart. Es fehlen Visionen für die Zukunft, Antworten auf Fragen wie: Wie sieht das neue Geschäftsmodell für Deutschland aus? Wie sichern wir Frieden und Wohlstand in einer dynamischen Welt?

Von einer echten Zeitenwende zu reden, ist das eine – sie zu gestalten, das andere. Dazu braucht es mehr als Rhetorik. Es braucht den Mut, die Dinge grundlegend anders zu denken und Lösungen zu finden. Es braucht einen Politikwechsel, der ausgetretene Pfade verlässt und Deutschland auf eine Startrampe für den Aufbruch führt. Dieser Wandel kann nur gelingen, wenn alle mitmachen – Politik, Wirtschaft und Bürger. Veränderung ist nicht die Aufgabe einiger weniger, sondern ein gemeinsamer Prozess.

Chancen nutzen statt Bedrohungen diskutieren

Ein zentrales Thema ist der Umgang mit neuen Technologien. Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz ist atemberaubend und bietet enorme Chancen. In den Wahlprogrammen wird sie jedoch oft als Bedrohung dargestellt – ihre Potenziale bleiben unterbelichtet. Längst geht es nicht mehr darum, mit ChatGPT Texte zu schreiben. Auf dem Vormarsch sind autonome KI-Systeme, die komplexe Aufgaben erledigen und Entscheidungen treffen. Diese Technologien werden unser Arbeitsleben und unsere Gesellschaft grundlegend verändern. Sie bergen Risiken, ja – aber auch enorme Chancen, wenn wir sie gestalten, statt sie nur zu fürchten.

Warum gibt es in den Programmen zur Bundestagswahl keine Ansätze, wie deutsche Ingenieure und Unternehmer durch unbürokratische Rahmenbedingungen Innovationen vorantreiben können? Warum wird nicht über eine Besteuerung von KI-Systemen nachgedacht, um den sozialen Ausgleich zu sichern, wenn sie menschliche Arbeit ersetzen? Wo ist das Konzept, wie Bildung junge Menschen auf diese neuen Realitäten vorbereitet?

Verwaltung als Standortfaktor

Auch auf eine der größten Baustellen fehlt es in den Wahlprogrammen an ausreichenden Antworten: die Verwaltung. Deutschland hat über 20.000 Behörden. Warum? Es fehlt ein Konzept für eine schlanke, digitale und vernetzte Verwaltung, die schnell, robust und krisenfest agiert. Wohngeld und KfZ-Zulassung könnten bundeseinheitlich administriert werden, anstatt in Hunderten von Behörden. Shared Service Center könnten Aufgaben effizient bündeln, Automatisierung Bürger und Mitarbeiter entlasten. Doch stattdessen wird für administrative Aufgaben nach mehr Personal gerufen – eine Scheinlösung, die den eigentlichen Reformbedarf nur verschleiert.

Moderne Verwaltung ist kein Selbstzweck. Sie ist ein wichtiger Standortfaktor. Sie muss den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Digitalisierung darf kein Lippenbekenntnis bleiben, sondern muss konsequent umgesetzt werden. Wer schneller und effizienter agieren kann, wird gewinnen. Das gilt für Unternehmen genauso wie für Staaten.

Out of the Box denken

Deutschland kann es sich nicht leisten, einfach weiterzumachen wie bisher. Wir brauchen einen Politikwechsel, der den Mut hat, die großen Fragen unserer Zeit zu beantworten. Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie können wir den Verbrauch von Ressourcen verringern und die Artenvielfalt schützen? Wie schützen wir den Planenten Erde? Wie sichern wir die Renten der kommenden Generationen? Wie finanzieren wir die Modernisierung unserer Infrastruktur? Wie stärken wir unsere Verteidigungsfähigkeit und die innere Sicherheit? Wie bauen wir Forschung und Entwicklung aus, um Deutschland und Europa im nächsten Jahrzehnt zu einem führenden Standort für neue Technologien zu machen? Wie gestalten wir eine Bildung, die junge Menschen auf eine sich ständig verändernde Welt vorbereitet? Und vor allem: Wie schaffen wir eine Gesellschaft, die die Chancen des Wandels nutzt, statt sie zu fürchten, und die das Gemeinwohl vor das Eigeninteresse stellt?

Dieser Pfadwechsel erfordert Ehrlichkeit, Mut und die Bereitschaft, sich auf Unbequemes einzulassen. Veränderung kann nur gelingen, wenn sie klar kommuniziert und offen diskutiert wird. Den Kommunen kommt hier eine wichtige Rolle zu. Wir müssen gemeinsam handeln – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Nur so können wir Frieden und Wohlstand in einer sich neu ordnenden Welt sichern und weiterentwickeln. Der Wahlkampf ist kurz. Aber er bietet die Chance, den Parteien mehr abzuverlangen als ein „Weiter so“. Der Schweizer Schriftsteller Kurt Marti hat einmal geschrieben: „Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen.“ Es ist an der Zeit zu gehen – mutig, entschlossen und mit dem Blick nach vorne.

Franz-Reinhard Habbel, Berlin

Der Autor ist ehemaliger Pressesprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Er gibt gemeinsam mit Gerd Landsberg den ZMI-Newsletter (Zehn Minuten Internet – Newsletter für Kommunalpolitiker) heraus.

(Anmerkungen: Dieser Text ist eine Übernahme aus dem ZMI-Newsletter vom 5. Januar 2025, Veröffentlichung als Editorial im Demokratischen Salon im Januar 2025, Internetzugriff zuletzt am 10. Januar 2025.)