Es trifft einen Nerv

Was für Corona-Tote gilt, gilt für AIDS-Tote wohl noch lange nicht

„Die Epidemien besonders furchteinflößender Krankheiten lösen immer einen Aufschrei gegen Großzügigkeit oder Toleranz aus, die nun als Laxheit, Schwäche, Gesetzlosigkeit, Auflösung, als – ungesund gelten. Es wird gefordert, die Menschen ‚Tests‘ zu unterwerfen, die Kranken sowie die der Krankheit oder ihrer Übertragung Verdächtigen zu isolieren und Barrieren gegen die wirkliche oder imaginäre Verseuchung durch Ausländer zu errichten.“ (Susan Sontag, Aids und seine Metaphern, die deutschsprachige Ausgabe erschien erstmals 1988).

In der Markmannsgasse in Köln finden wir die Installation „Namen und Steine“ Sie wurde in den 1990er Jahren durch den Künstler Tom Fecht in Köln am „Kalten Eck“, einem Treffpunkt für Schwule in der Nähe des Kölner Pegels, gestaltet. Das „Kalte Eck“ ist einer der 111 Kölner Orte, die man nach der Kölner Ausgabe der 111-Orte-Reihe in dieser Stadt gesehen haben sollte.

Die Installation „Namen und Steine“ von Tom Fecht

Die Installation ist den Menschen gewidmet, die in den vergangenen Jahrzehnten an den Folgen von HIV gestorben sind. Ihre Namen sind auf über 100 Pflastersteinen eingeschrieben. Jährlich werden zum Cologne Pride neue Namenssteine eingelassen. Sie werden von Freund*innen und / oder Familienangehörigen der Verstorbenen gespendet. Die Anfertigung übernimmt die Aidshilfe Köln, die auch die feierliche Gedenkfeier gestaltet.

Am 23. Juni 2022 hielt Michael Jähme  zum Gedenken an die an HIV/Aids gestorbenen Menschen  im Rahmen des Cologne Pride 2022 eine beachtenswerte Rede. Der Demokratische Salon dokumentiert diese Rede. Sie ist ein Plädoyer für die Überwindung des menschenunwürdigen Umgangs mit Kranken, wie ihn auch Susan Sontag in ihrem Essay „Aids und seine Metaphern“ analysierte. Susan Sontag beschrieb gesellschaftliche Reaktionen auf diverse Leben bedrohende Krankheiten, von der Tuberkulose bis hin zu Aids. Stets wurden bestimmte Bevölkerungsgruppen verantwortlich gemacht. Tuberkulose wurde als eine Art Proletarierkrankheit wahrgenommen (wenn wir mal von der Zauberberg-Klientel absehen) , Aids zunächst als eine Krankheit vor allem schwuler Männer und von Menschen, denen ein promisker Lebenswandel unterstellt wurde. In der COVID-19-Pandemie wurden – zumindest zu Beginn – asiatisch gelesene Menschen angegriffen, als hätten sie das Virus nach Europa eingeschleppt.

Ich erlaube mir den leider angesichts der bekannten Debatten nötigen Hinweis, dass ich mit dem Zitat aus dem Essay von Susan Sontag keineswegs die staatlichen Maßnahmen gegen die Verbreitung von COVID-19 in Frage stelle. Manches war vielleicht überzogen, manches halbherzig. Hier geht es jedoch um die Würde erkrankter und an der Krankheit verstorbener Menschen. Und hier zeigt sich, dass manche Krankheiten in der gesellschaftlichen und politischen Aufmerksamkeit doch mehr beachtet werden als andere. Letztlich scheint es um die Frage zu gehen, ob eine Krankheit tatsächlich alle oder nur eine bestimmte Gruppe von Menschen zu bedrohen scheint. Ich wiederhole: es geht um Würde! Diese Botschaft ist gerade aber nicht nur und nicht erst während der Corona-Pandemie nötiger denn je.

Michael Jähme (*1959), Sozialpädagoge und langjähriges Vorstandsmitglied der Aidshilfe NRW, engagiert sich seit 1990 als schwuler Mann in der Selbstvertretung und in der politischen Interessenvertretung von Menschen mit HIV. Entstigmatisierung und Abbau der Diskriminierung als unverzichtbare Bestandteile für Prävention und Gesundheitsfürsorge sind seine Anliegen. Er ist Zeitzeuge der HIV-Pandemie und der AIDS-Krise, sowie des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit HIV und Aids. Er lebt in Köln. Hier seine Rede:

„Manchmal passiert es, da wird ein gut reflektierter und gründlich bearbeiteter Teil der eigenen Lebensgeschichte, den man eigentlich als abgeschlossen betrachtet, durch ein aktuelles Ereignis berührt und man wird von heftigen Emotionen überrascht.

So erging es mir, als ich am 17. Oktober 2020 die Nachricht vernahm, der damalige Kanzleramtsminister Helge Braun würde beabsichtigen, für die Opfer, also die Toten der Corona-Pandemie, eine besondere Ehrung, einen Staatsakt auszurichten. In einem Zeitungsinterview begründete er das mit: ‚Wir sollten ein Zeichen setzen, dass die Verstorbenen nicht vergessen sind.‘

Meine Reaktion erfolgte prompt: Ein Nerv in mir war getroffen. Ich verspürte heftige Empörung. Ich schrieb spontan an Freunde: ‚In mir weckt das Wut und Zorn: Was ist mit den Aids-Opfern, vergessen und früher verachtet?? Warum gibt es und gab es da nie einen Vorschlag zu einem Staatsakt?‘

Ich möchte heute nicht in eine Diskussion einsteigen darüber, welche Pandemie schrecklicher war, und welche Berechtigung ein Staatsakt für die Corona-Toten hat oder nicht.

Ich möchte mich stattdessen darauf konzentrieren und Sie einladen, mit mir nachzuspüren, was es denn genau war, das meine spontane Empörung ausgelöst hat, welcher Nerv es ist, der da in mir getroffen ist.

Für Menschen, die an Aids gestorben sind, hat es meines Wissens nie einen nationalen Gedenkakt gegeben. Aids hat anders als Corona nicht die gesamte Bevölkerung betroffen. Das Drama des Sterbens an Aids fand abseits der öffentlichen Wahrnehmung statt. In Familien wurde Aids als Todesursache verschämt verschwiegen, über das wahre Leben der Verstorbenen wurde selten frei und direkt gesprochen. Eine HIV-Infektion und Aids-Erkrankung galt für die bürgerliche Gesellschaft als Beweis für ein „falsch gelebtes Leben“. Da brauchte man kein Mitgefühl entwickeln und grenzte sich lieber ab, und die Betroffenen aus. Aids wurde versteckt und beschwiegen. Menschen mit HIV und Aids wurden wie Aussätzige behandelt, ihnen wurde Menschenwürde verweigert, in den ersten Jahren der Aids-Krise oft genug und gerade auch bei der medizinischen Versorgung.

Diese verletzte Würde, besonders der frühen Jahre der HIV-Pandemie, ist es, die als erlebte Erfahrung des gesellschaftlichen Klimas immer noch in mir vorhanden ist und sich beim Hören der Ankündigung eines Staatsaktes für die Corona-Toten als heftiger Schmerz wieder meldete. Auch wenn ich nun seit 1990 mit der HIV-Diagnose lebe, auch wenn ich HIV überlebt habe und auch wenn uns gemeinsam mit der Arbeit in den Aidshilfen viel gelungen ist an Abbau von Stigmatisierung und Diskriminierung, so scheint es da trotz alledem immer noch etwas zu geben, das latent als Unruhe in mir schlummert. Eine wirkliche Heilung von diesen frühen Verletzungen meiner Würde ist ganz offensichtlich noch nicht erfolgt. Es steht noch etwas aus. Es gibt noch eine Forderung von mir an die Gesellschaft. Es ist eine Forderung nach Wiedergutmachung.

Mich hat erstaunt, dass in der aktuellen Coronavirus-Pandemie so wenig auf die Erfahrungen im Umgang mit der vorherigen Pandemie, mit HIV, geschaut wurde. Weder Politik noch Medien schenkten dem alten Erfahrungswissen Beachtung. In den 1980er Jahren hat Rolf Rosenbrock das Buch geschrieben: „AIDS kann schneller besiegt werden.“ Seitdem gibt es einen Maßnahmenkatalog voller wirksamer Instrumente. Wer die Aids-Krise erlebt hat, kannte jetzt bei Corona alle Begriffe und kannte die Dynamiken vom Leben mit sich ständig verändernden Wissensständen.

Michael Jähme am Mikrofon

Aber die Gesellschaft als Gesamtes hatte Aids vergessen, und konnte deshalb ganz offensichtlich nicht auf Bewährtes zurückgreifen. Stattdessen beobachtete ich, wie die Gesellschaft nun mühsam lernte, was wir schon bei HIV haben lernen müssen und längst wissen: Es gibt keinen 100%igen Schutz. Es gibt wirksame Maßnahmen und Verhaltensweisen, die das Ansteckungsrisiko reduzieren. Es braucht Aufklärung über die Übertragungswege. Menschen müssen befähigt werden, eigene realistische Risikoeinschätzungen zu treffen und eigenes Risikomanagement zu lernen, auf der Grundlage des heutigen Wissensstandes.

So wie die Gesellschaft die HIV-Pandemie und das anfangs qualvolle und einsame Sterben an AIDS vergessen hat – und sich auch nicht daran erinnern will -, so fühle auch ich mich mit meinen Erfahrungen vergessen.

Ein Staatsakt wie bei Corona im April 2021 lenkt die Aufmerksamkeit der gesamten Gesellschaft auf Opfer und Hinterbliebene und drückt kollektive Anteilnahme aus. Diese gemeinsame Anteilnahme hat es bei Aids nie gegeben. Man wollte uns nicht sehen. Wir waren in unseren Communities alleine, – wenn wir sie denn hatten. Die kollektive Anteilnahme ist uns vorenthalten worden.

Wir werden alt und haben HIV überlebt, als HIV-Positive wie als HIV-Negative. Sichtbar ist, dass wir da sind. Was wir erlebt haben, sieht man uns nicht an. Unsere Schmerzen müssen wir immer noch erklären, um verstanden zu werden, wenn durch äußere Ereignisse ein Nerv getroffen ist und wir emotional reagieren.

Ich vermute, ich bin nicht der Einzige, der diese Erfahrung macht.

Das Gedenken der Aidshilfe Köln heute hier am „Kalten Eck“ spendet die Erfahrung, mit der erlebten Geschichte nicht alleine zu sein. Es tut gut, hier zu sein.“

(Anmerkung: Der Text wurde auch bereits auf Queer.de veröffentlicht, wo auch das Bild mit Michael Jähme am Mikrofon zu finden ist, Beide Fotos: Danny Frede, Aidshilfe Köln. Alle Zugriffe auf Internetseiten zuletzt am 24. Juni 2022. Text der Anmoderation: Norbert Reichel.)