Et in Kakania ego
Oder was Donald J. Trump noch zum erfolgreichen Faschisten fehlt
„So ist es leider, das Denken wird ja häufig durch Stimmungen ersetzt. Sie sind haltbarer, widerstehen der Zeit lebendiger, und zwar um so besser, je irrationaler sie sind. Zum Beispiel die deutsche Sehnsucht –: die Sehnsucht nach dem Reich: dem versunkenen Römischen Reich Deutscher Nation Karls des Großen, über dem schon der Kaiser Barbarossa auf dem Kyffhäuser so fest entschlafen ist, dass ihm der Bart durch die steinerne Tischplatte, auf die er sich stützt, hat wachsen müssen…“ (Gregor von Rezzori, Denkwürdigkeiten eines Antisemiten, 1979)
Diese Analyse bietet Stiassny, eine Figur der ersten Erzählung des Romans „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten – Ein Roman in fünf Erzählungen“ des in Czernowitz geborenen Gregor von Rezzori (1914-1998). Der Roman erschien 1979 noch unter dem Titel „Memoiren eines Antisemiten“, wurde dann in der Auflage von 1989 zu den „Denkwürdigkeiten“, als die er heute in der Regel zitiert wird. Diese Änderung gibt dem Erzählten ein wenig mehr Distanz zur Biographie des Autors, doch sind die ersten vier Erzählungen in einem durchaus autobiographisierenden Stil geschrieben, der in der vierten Erzählung sogar den Charakter eines Bekenntnisses annimmt, bevor der gealterte Ich-Erzähler in der fünften „Erzählung“ in die dritte Person rutscht und das Geschehene rückblickend im Modus der erlebten Rede erscheint.
Make Kakania great again
„Skutschno“, die erste Erzählung des Romans ist Claudio Magris gewidmet, dem Autor grundlegender Werke über Joseph Roth und das Ostjudentum (1971, italienischer Originaltitel: „Lontano da dove – Joseph Roth e la tradizione ebraico-orientale“), und über die Stadt Triest, in der sich diverse mittel- und osteuropäische Schicksale kreuzten (1983). Das Buch über Triest trägt im italienischen Original den programmatischen Titel „Trieste – un identità di frontiera“, die deutsche Übersetzung „Triest – eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa“. 1966 erschien „Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna“, in der deutschen Übersetzung als „Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur“ veröffentlicht.
In dieser mit dem Namen Claudio Magris angedeuteten Atmosphäre spielen die fünf Erzählungen der „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“. Der Name „Claudio Magris“ ist Programm. „Skutschno“ „ist ein russisches Wort“, es „bedeutet mehr als öde Langeweile: eine seelische Leere, deren Sog wie ein unbestimmte, aber heftig drängende Sehnsucht wirkt.“ Im 19. Jahrhundert hätte „skutschno“ vielleicht dem französischen „ennui“ oder dem englischen „spleen“ entsprochen. Ein deutscher Begriff lässt sich – so der Erzähler – „schwerlich“ finden, doch handelt es sich vielleicht um eine Variante des auch in andere Sprachen eingegangenen ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammenden deutschen Begriffes „Weltschmerz“.
Habsburg und das Judentum – das sind die Koordinaten der Welt der 1920er und 1930er Jahre, in denen die ersten vier Erzählungen der „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“ spielen, zwei untergegangene beziehungsweise untergehende Welten, die sich jedoch mit den Träumen eines „Deutschen Reiches“ treffen, das die Identität beider Gruppen, ihren Platz in der Gesellschaft beeinflusst, bestimmt, bis zu dem denkwürdigen 12. März 1938, an dem die von habsburgischer Größe träumenden Österreicher*innen mit den Juden*Jüdinnen abrechnen, deren Demütigung sie brauchen, um sich selbst wieder in vergangener Größe zu beweisen.
Anlass dieses post-kakanischen Weltschmerzes der 1920er Jahre ist der Untergang eines Reiches, in dem die ehemals herrschende deutsche Oberschicht sich in vielen Teilen des untergegangenen Reiches auf einmal als Minderheit wiederfindet, ein Gefühl, mit dem sich auch im 21. Jahrhundert manche Politiker*innen und ihre Anhänger*innen herumplagen, auch unabhängig davon, ob sie tatsächlich eine Minderheit sind. Die Figuren der „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“ leben in einer die gesamte Gesellschaft prägenden Atmosphäre des Antisemitismus, sie erleben selbst wenn sie es nicht wollen oder sich sogar zu distanzieren versuchen ständig, wie ihre antisemitisch geprägte Erziehung ihr jeweiliges Denken und Handeln bestimmt. Der Erzähler der „Denkwürdigkeiten“ pflegt mehrere Liebesbeziehungen mit Jüdinnen, tut dies jedoch stets mit schlechtem Gewissen und deklariert eine jüdische Geliebte als Türkin, um vor seinen schon von der nationalsozialistischen Ideologie besessenen Kameraden und Kollegen nicht in Misskredit zu geraten. Er denkt im Grunde antisemitisch, distanziert sich zugleich, handelt aber äußerst zwiespältig.
In der vierten Erzählung, die mit dem Titel „Treue“ unter anderem auf das SS-Motto „Meine Treue heißt Ehre“ anspielt, belegt eine Szene, die kurz vor dem 12. März 1938 spielt, wie gespalten der Erzähler ist: „Ich glaubte zu begreifen, was in den dämonischen Judenhenkern in der schwarzen Uniform der SS vor sich ging, wenn sie ihren kalten, sicherlich unerotischen Sadismus auslebten: sie empfanden die Lust des Abfalls von Gott. Sie empfanden sich als gefallene Engel. Manchmal beschlich mich die Versuchung, etwas Ungeheuerliches zu tun und die doch nun bald schon fast geheimen Judentreffen in Minkas Wohnung auffliegen zu lassen, sie alle ans Messer zu liefern. / Aber vielleicht war’s noch ungeheuerlicher, dass ich’s nicht tat, dass ich überhaupt nichts tat, weder gegen sie noch für sie; dass ich das Geschehene hinnahm, als müsste es fatalerweise so geschehen, wie’s geschah. Gewiss, es war ziemlich scheußlich, ich musste es zugeben. Aber so ist die Welt nun einmal.“
Der Erzähler wird von seinen Nazi-Freunden mit seinem ersten Vornamen „Arnulf“ angesprochen, von seiner jüdischen Freundin mit „Gregor“ – Gregor und Arnulph sind zwei der vier Vornamen Gregor von Rezzoris–, er verkehrt in der „Katakombengemeinschaft“ seiner Geliebten Minka, einer „Untergrundgemeinschaft“, er lebt in zwei Welten, die verschiedener nicht sein könnten, oder vielleicht doch mehr miteinander zu tun haben als er zunächst glaubt? „Einmal, als Poldi Singer sehr ernsthaft und profund kenntnisreich über den mystischen Kern der NS-Bewegung sprach, nämlich über den unausrottbaren Traum vom Heiligen reich, hörte ich mich zu meinem eigenen Erstaunen sagen: ‚Und was wäre das anderes als eine ursprünglich jüdische Vorstellung eine messianische Idee‘ (…)“.
Was wäre die NS-Bewegung ohne den Antisemitismus? Der Nazi-Führer Oskar Koloman, von dem berichtet wird, dass er nach dem Krieg in Polen hingerichtet worden ist, denkt nach dem 12. März 1938 darüber nach: „Eines Tages fragte er mich in einem Anfall von Nachdenklichkeit: ‚Erinnerst du dich an unsere Schulbibliothek? Es hat dort ein Buch gegeben mit dem Titel ‚Die Stadt ohne Juden‘. Ich habe es natürlich nie gelesen – du vielleicht? Jedenfalls kommt mir Wien im Augenblick so vor. Es ist so – wie soll ich sagen? So salzlos geworden. Es ist niemand mehr da, den man hassen könnte.“ In dem angesprochenen Buch, Untertitel „Ein Roman von übermorgen“, 1924 erschienen und verfilmt – Autor ist Hugo Bettauer (1872-1925) – wird eine Stadt beschrieben, in der alle Juden*Jüdinnen vertrieben werden, die Stadt wirtschaftlich und gesellschaftlich verkommt und daher die vertriebenen Juden*Jüdinnen wieder zurückholt, mit viel schlechtem Gewissen und einem Hauch bedauernden Galgenhumors: „Hundertundsechs Nationalräte stimmten für die Eliminierung des Ausnahmegesetzes, dreiundfünfzig dagegen – das Gesetz war gefallen! Und die hunderttausend Menschen, die sich auf der Straße vor dem Parlament angesammelt hatten, riefen diesmal nicht ‚Heil!‘, sondern ‚Hurra!‘ Sie waren nicht so begeistert wie vor drei Jahren, sondern ein wenig beschämt, hatten aber wieder ihren Humor gefunden und schon begannen Witze in der Luft zu schwirren.“
Wer bin denn ich? Wer sind denn sie?
Stiassny ist so etwas wie ein möblierter Herr bei Onkel Hubi und Tante Sophie, den Verwandten, bei denen der Erzähler der „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“ aufwächst. Stiassny verkehrt aber auch im Haus des örtlichen jüdischen Arztes Dr. Goldmann, hat oder hatte möglicherweise sogar ein Verhältnis mit den Damen beider Häuser, er kommentiert regelmäßig die völkischen Ansichten seines Gastherrn Onkel Hubi, der falsch singend alte Burschenlieder schmettert und von vergangener Größe träumt. Stiassny amüsiert sich über die Verkleidung der Burschen in den studentischen Verbindungen, „die an den gestiefelten Kater erinnert“ und die der dreizehnjährige Erzähler, auch wenn sie ihm noch gar nicht passt, auf der Straße spazieren trägt, was ihm eine Tracht Prügel einträgt.
Wie deutsch die zur Minderheit gewordene ehemalige deutsch-kakanische Oberschicht, die sich nunmehr im Königreich Rumänien zurechtfinden muss, tatsächlich ist, ironisiert Stiassny: „Die Weitergabe der Fahne von Generation zu Generation: Man fühlt sich deutsch! Man wird zwar mit der angeborenen Großzügigkeit darüber weggehen müssen, dass des verehrungswürdigen Herrn Onkels Mutter Ungarin gewesen ist, und die Tante Sophie, eine Cousine der eigenen, wenn ich nicht irre, ebensoviel irisches wie rumänisches Blut in den Adern hat; ja, dass man selbst väterlicherseits, um die Wurzeln seines Deutschtums freizulegen, sich nach Sizilien zu begeben hätte. Aber wer bin denn ich, um daran zu erinnern! Wir sind allesamt Mischblut, wir Österreicher, ganz besonders wir sogenannten Deutschösterreicher: Kinder eines Imperiums von sehr vielerlei Völkerschaften, Rassen, Religionen –: (…).“
„Wer bin denn ich“ ist die ständige Formel, mit der Stiassny seine treffende Analyse als persönlich-subjektive Meinung markiert. Diese Formel ließe sich auch umdrehen, denn wer sind sie? Wer ist denn „diese deutschsprechende, deutschdenkende, deutschempfindende Jugend am Rhein, aus Armin des Cheruskers und seiner römischen Widersacher Tagen, vielleicht zu einem guten Teil des Bluts nubischen und lybischen Ursprungs sein mag und in den Gebieten östlich der Elbe, vor allem in den Kernlanden der Bismarckschen Neuauflage jenes Reichs, vorwiegend pruzzischen und finnischen und wendischen; und gar in den Ländern am Nibelungenstrom, die uns so nah am Herzen liegen, windischen und böhmischen … Einerlei: sie fühlt deutsch, diese deutsche Jugend, reichsdeutsch, großdeutsch, nicht wahr, ja?“
Bei aller Absurdität gibt es offenbar immer noch einen Weg, sein Deutsch-Sein zu bestätigen. Man braucht nur jemanden, der mit Sicherheit nicht als deutsch angesehen werden kann oder dem sich das Nicht-Deutsch-Sein zuschreiben ließe, sodass man selbst sich wieder deutsch und überlegen fühlen und an eine höhere Gerechtigkeit zum eigenen Nutzen glauben darf. „Auch mein Vater hasste die Juden, und zwar ausnahmslos, sogar die demütigen Alten. Es war ein uralt überlieferter und eingefleischter Hass, für den er keinen Grund mehr anzuführen brauchte, jede Motivierung, sogar die absurdeste, gab ihm recht. (…) Vor allem waren sie, nach seiner Ansicht, schuld daran, dass er als alter Österreicher in der Bukowina hatte bleiben und Rumäne werden müssen, wodurch der selbst eine Art zweitrangiger Mensch geworden war.“
Vergangen waren die Zeiten, in der die Verhältnisse und Hierarchien noch eindeutig waren. Onkel Hubi erzählt von der „Feier des fünfundvierzigsten Jahrtags der Thronbesteigung des Kaisers Franz Josef im Jahr 1893“. Auch der in der Gemeinde isolierte Dr. Goldmann möchte daran teilhaben: „Jetzt schien ihm der Augenblick gekommen zu sein, diese Isolation zu sprengen. Was man feierte, war immerhin die fünfundvierzigjährige Regierung eines Völkerpatriarchen, unter dessen weitherziger Väterlichkeit angeblich jegliche Art von Rasse, Volk und Religion, jeglicher Geist und Charakter Obhut fanden.“ Er scheitert kläglich, sein galizischer Dialekt wird lächerlich gemacht, die Aufzählung der wirtschaftlichen Erfolge seiner Arztpraxis ignoriert, und als er von seinem „Haus“ spricht, das er gebaut habe, verstehen die Honoratioren bewusst „Hose“ und der Vater Onkel Hubis sagt zum Bürgermeister: „‚Was hat er sich in die Hose gestellt?‘ Und geht dann weiter und lässt den Juden stehn (…).“
Antisemitismus ist vielleicht die gängigste Spielart dieser Versuche, das eigene Selbstbewusstsein durch Abwertung und Ausgrenzung Anderer zu retten. Josef Roth nennt in „Radetzkymarsch“, dem vielleicht umfassendsten Nachruf auf das kakanische Traumreich, eine zweite Gruppe von Anderen, die Sozialdemokratie: „Wenn es überhaupt möglich war, dass ein gewisses Individuum namens Alexander Cak – ein Mann, dessen Namen er niemals vergessen wollte, und ein Name, der sich auch mit einer gewissen Gehässigkeit aussprechen ließ, sodass es klang, als würde dieser Cak schon erschossen, wenn der Bezirkshauptmann ihn nur erwähnte: wenn es also möglich war, dass dieser Cak der Sozialdemokratischen Partei angehörte und dennoch bei seinem Regiment Gefreiter geworden war, so konnte man freilich nicht nur an diesem Regiment, sondern auch an der ganzen Armee verzweifeln.“
Es war kein Zufall, dass in den 1920er Jahren Judentum und Sozialdemokratie, diese nicht zuletzt in der Variante des russischen Bolschewismus von völkischen Kräften in Deutschland und in Österreich als Akteure ein und derselben Weltverschwörung angeprangert wurden. Josef Roths Roman „Radetzkymarsch“ erschien unter dem Eindruck der politischen Entwicklungen Ende der 1920er Jahre. Gregor von Rezzori lässt die Erzählung „Skutschno“ Ende der 1920er Jahre spielen. Es ist die Zeit, in der der Nationalsozialismus sich nicht nur in Deutschland, sondern mit dem Umweg über den sogenannten „Austrofaschismus“ auch in Österreich etablierte und Staatsdoktrin wurde. Die Botschaft: niemand entkommt der antisemitischen Atmosphäre Post-Kakaniens, nicht vor, nicht nach dem 12. März 1938.
Hitler wurde abgelehnt, aber nicht wegen seines Antisemitismus: „Und überhaupt war dieser Hitler ein Verräter, denn als ehemaliger Österreicher hatte er sein politisches Talent, das er zweifellos besaß, den Preußen zur Verfügung gestellt, anstatt seiner Heimat Österreich zu dienen.“ Ließe sich daraus schließen, dass am 12. März 1938 nicht die Deutschen Österreich, sondern die Österreicher Deutschland „angeschlossen“ hätten? Es klang nur so, denn „die Ankunft des großen Führers eines jetzt endlich wieder vereinten Reichs war ein merkwürdig steckengebliebener Weiheakt gewesen. (…) die Deutschen waren gekommen, in Marschblocks zunächst, die noch viel gusseiserner waren, stummer, viel straffer rhythmisch abgehackt marschierten, die Profile unter den Eisenhelmen viel starrer geradeaus gerichtet hielten als die Dunkelmänner aus der Nacht des Anschlusses. Und nach ihnen kamen Zivilisten mit schnarrenden Stimmen und scharfen Mittelscheiteln im kurzgestutzten, feucht gekämmten Haar. Die frische Bergluft wurde buchhalterisch erfasst, rationiert und zugeteilt.“
Die 2014 bei Rimbaud in Aachen erschienene Neuausgabe der „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“ zeigt auf dem Frontispiz, wie Männer in nationalsozialistischen Uniformen und Wiener Bürger*innen wohlgestimmt und selbstzufrieden zuschauen, wie jüdische Männer mit Zahnbürsten den Boden der Straße säubern müssen. Die vierte Erzählung bietet eine detaillierte Beschreibung dieser und anderer Ereignisse des 12. März 1938 in Wien. Die Held*innen des „Heldenplatzes“ brauchen und genießen die öffentliche Demütigung der Menschen, die sie verachten. Es ist ja nichts Persönliches, aber gerade dass es das nicht war, macht das persönliche Verbrechen zum Staatsverbrechen und die zuschauenden Wiener Bürger*innen – jede*n für sich – zu Täter*innen des Menschheitsverbrechens Shoah.
„Fine People“
„MAGA“ – „Make America Great Again” – das war der Slogan, mit dem es Donald J. Trump gelang, 2016 die Präsidentschaft der USA zu erobern und 2020 immerhin etwa 71 Millionen Wähler*innen zu überzeugen, dass seine Fantasien Wirklichkeit werden sollten. Auch hier ging und geht es um „Stimmungen“. Eine trockene Analyse der Trumpschen Strategie bietet Stephen Eric Bronner in seinem Text „Landschaft nach dem Aufruhr“ (deutsche Fassung veröffentlicht in Lettre international 132, Frühjahr 2021). Trump liebte die Polarisierung, sprach von „fine people on both sides“ und schaffte es mit diesem vergifteten Lob in einem Atemzug, die Black-Live-Matter-Bewegung zu delegitimieren und die Hardliner der Neuen Rechten als Kämpfer*innen für Freiheit, Recht und Ordnung zu adeln.
Der 6. Januar 2021 kam nicht aus dem Nichts. Er war der vorläufige Höhepunkt der Kampagne „Make America Great Again“, die – so Stephen Eric Bronner – auch hätte heißen können: „Make America White Again“. Trumps Bilanz: „Durch die Untätigkeit und das Chaos der Trump-Administration verbreitete sich Covid-19 rasant, ebenso rasant stieg die Zahl der Milizen im Mittleren Westen und Süden. Die Schutzmaske wird zum Symbol der Unterdrückung. Extremisten stürmten Regierungsgebäude in Wisconsin, Michigan, und an anderen Orten. Die Einschüchterung von Amtsträgern gehörte zum Alltag: Vor ihren Häusern wurde demonstriert, Todesdrohungen wurden verschickt, es gab sogar einen Plan zur Entführung und Ermordung der Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer.“
Es ließe sich darüber streiten, ob Trump ein faschistisches Regime hätte aufbauen können. Abgesehen davon, dass ich vermute, dass Trump und die meisten seiner Unterstützer*innen nicht einmal wissen, was Faschismus ist und wo er wie wirkte, ließe sich darüber nachdenken, welche Bedingungen einer quasi-faschistischen Machtübernahme beim Amtsantritt Trumps vorlagen oder bei einem neuerlichen Wahlerfolg im Jahr 2024 vorliegen könnten und welche nicht. 2016 lagen diese Bedingungen zumindest (noch) nicht vor. Torben Lütjen, Autor des 2020 erschienenen Buches „Amerika im Kalten Bürgerkrieg – Wie ein Land seine Mitte verliert“ diagnostiziert: „Trump war eben kein faschistischer Parteiführer, der am ersten Tag der Machtübernahme den US-Staatsapparat mit den eigenen Leuten hätte bestücken können, rekrutiert aus einer straff organisierten Kaderpartei mit ideologisch geschulten Anhängern.“ (Themenheft „USA“ der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 26. April 2021).
Auch im Jahr 2021 ist die „Grand Old Party“ keine quasi-faschistische Kaderpartei. Ob sie eine werden könnte, ist fraglich, denn es ist nicht zu erwarten, dass sich in den USA eine einheitliche Ideologie wie im nationalsozialistischen Deutschen Reich durchsetzen ließe. Dazu sind die Akteure, die die Republikanische Partei unterstützen, zu heterogen. Stephen Eric Bronner beschreibt die Mischung – Koalition wäre zu viel gesagt – kapitalistischer Eliten, die vor allem für Steuererleichterungen, am liebsten gar keine Steuern, den Abbau jeglicher staatlicher Verwaltung eintreten, und den „‚Verlierern‘ des Modernisierungsprozesses (…), die ideologisch untrennbar mit dem Leben in der Kleinstadt verbunden sind, seinen diversen Formen der Heuchelei, dem eigenen Haus, mit Religion und Kirche und einem altmodischen Kleinkapitalismus.“ Es sind eben auch nicht nur die sogenannten „Rednecks“ des „Rust Belt“, sondern auch die religiösen Fundamentalist*innen, die sich von einer modernen, liberalen Politik bedroht fühlen. Großkapitalisten machen sich sozusagen den Zorn und den Hass der kleinkapitalistischen Träume zunutze.
Diejenigen, die am 6. Januar 2021 das Kapitol erstürmten, boten dann so etwas wie den vorläufigen Höhepunkt der Radikalisierung. Sie schreckten nicht vor terroristischen Aktionen zurück, ähnlich wie dies im Deutschen Reich der späten 1920er und frühen 1930er Jahre paramilitärische Verbände wie SA und Roter Frontkämpferbund taten. Vergleichbare Organisationen, diese allerdings so gut wie ausschließlich auf der rechtsextremen Seite, haben in den USA zwar auch immer wieder Konjunktur, stoßen aber ebenso regelmäßig auf erheblichen Widerstand: „Die Tradition der Delegitimierung der Republik existiert seit dem Bürgerkrieg; besonders lebendig ist sie in den vorwiegend ländlich geprägten Regionen des Mittleren Westens und des Südens. Die aus der Zeit des Ku-Klux-Klans und der Befürworter einer Rassentrennung in den weißen Kommunen der fünfziger und sechziger Jahre übernommene Rhetorik und Gewalt vergisst man nicht. Kurzum, 2021 gab es eine Massenbasis im Wartezustand. Getrieben von einem weißen Nationalismus und autoritären Impulsen sehnten seine Partisanen eine Rückkehr zum wahren Amerika herbei, wo Frauen hinter dem Herd stehen, Schwule versteckt leben, Einwanderer niedere Tätigkeiten verrichten und People of Color unsichtbar bleiben.“
Trump hatte weder 2016 noch 2020 eine totalitär organisierte Kaderpartei hinter sich, aus der er beliebig hätte Personen auswählen können, die ihm treu ergeben – Goebbels hätte den Begriff „fanatisch“ gebraucht – die ministerialen Posten hätten besetzen und Trump’sche Politik hätten umsetzen können. Trump rekrutierte sein Führungspersonal aus seinem Familien- und Bekanntenkreis wie dies in einem paternalistisch geführten Familienunternehmen üblich ist. Stephen Eric Bronner zählt die Gruppen auf, die Trump von Anfang an und ohne Wenn und Aber unterstützten und die sicherlich zu einer solchen Avantgarde gehörten. Es waren die „großartigen“ – „great“ war und ist nach wie vor eine der Lieblingsvokabeln Trumps – Mitglieder seiner Familie, die „unbedarften Schmeichler“, der „Chor der glücklosen Stümper“, aber eben auch der Club der „adults in the room“, die die „‚moderate‘ Presse“ gerne lobte, weil sie angeblich Trump „daran hinderten, noch schlimmere Fehler zu begehen. Die Kollaborateure in Vichy hatten sicher ähnliche Rechtfertigungen.“ Durchaus vergleichbar mit den Österreicher*innen der „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“.
Für und mit diesem Club erfüllte Trump durchaus die Bedingungen eines charismatischen Führers, wie er in faschistischen (und anderen totalitären) Regimen auftritt und wie sie Leo Löwenthal als „Falsche Propheten“ beschrieb (siehe hierzu meinen Essay „Der 18. Brumaire des Donald J. Trump“). Eine „Massenbasis“ könnte sich aus einer solchen Avantgarde entwickeln, in den USA gelang dies bisher jedoch noch nie, nicht einmal während der mit dem Namen Joseph McCarthy verbundenen antikommunistischen Kampagne, auch nicht im Zusammenhang der Pogrome gegen Schwarze Menschen in den 1950er und 1960er Jahren. Und Donald J. Trump fehlte in seiner Amtszeit eine weitere Voraussetzung, um einer quasi-faschistischen Avantgarde zur Macht zu verhelfen: die totale Kontrolle über Militär, Polizei, Justiz und Medien. Trump versuchte zwar immer wieder, eine solche Kontrolle zu erlangen, doch erntete er ebenso immer wieder Widerspruch von führenden Akteuren dieser Bereiche. Trump musste sich damit begnügen, die „fine people“ der „Proud Boys“ und anderer paramilitärischer Privat-Armeen aufzuhetzen.
Möglicherweise reicht es jedoch aus, einen demokratisch verfassten Staat mit einer autoritär verfassten Minderheit, einer Art Avantgarde, zu destabilisieren, die die Werte der Demokratie beschwört, um die Demokratie abzuschaffen, denn Demokratie ist in ihrem Verständnis eben nur dann legitim, wenn sie den eigenen Positionen zur Mehrheit verhilft. Ich stimme Torben Lütjens Analyse in diesem Punkt zu: „Die merkwürdige Melange aus Akzeptanz der Demokratie bei gleichzeitiger Nicht-Akzeptanz ihrer zentralen Spielregeln (wie etwa das Eingeständnis einer offenkundigen Wahlniederlage), ist tatsächlich sehr viel näher dran an der politischen Konstellation in Ländern wie Polen und Ungarn mit ihren starken rechtspopulistischen Parteien, Venezuela oder der neo-autoritären Türkei.“ Wenn Demokratie in den USA sich auflösen sollte, wäre dies wahrscheinlich ein schleichender Prozess, wie beispielsweise in Ungarn oder in Polen zu beobachten. Die Entwicklungen in Venezuela und in der Türkei unterscheiden sich von denen in Ungarn und in Polen dadurch, dass Polizei, Militär und Justiz sich dort vom jeweiligen Staatschef umfassend gegen die Opposition kontrollieren und einsetzen lassen.
Trump bewies allerdings, dass eine kohärente Ideologie nicht unbedingt erforderlich ist, um Macht zu erlangen und auszuüben. Ihm halfen die erheblichen Machtbefugnisse eines Präsidenten in den USA, auch wenn diese – wie zurzeit ersichtlich – den Nachteil haben, dass ein*e Nachfolger*in alles, was er verfügte, relativ einfach wieder rückgängig machen kann. Für Trumps Erfolg reichte es aus, diffuse Begriffe politisch aufzuladen wie beispielsweise die im Trump’schen Wortschatz ständig verwendeten Begriffe „great“ und „fine people“ und die Atmosphäre zu vergiften.
Wer Trumps Traum der „Greatness“ nicht vorbehaltlos teilt, gehört eben zu den Anderen, die wahlweise mit all den Begriffen belegt werden können, die der jeweiligen Zuhörer*innenschaft unsympathisch sind. Wurde auch den Anderen – wie in Charlottesville – das Attribut „fine“ zugestanden, war das nicht mehr und nicht weniger als eine vergiftete Konzession an als noch zu mächtig empfundene gesellschaftliche Stimmungen, die eben nicht trumpisiert werden konnten. „Greatness“ ist die Vokabel im binären Code antidemokratischer Politik, die völlig auszureichen scheint, um eine freiheitlich-demokratische und rechtsstaatlich ausgerichtete Politik zu desavouieren.
Aber all das funktioniert nur bedingt und so bedarf es einer gewissen Trickserei, um Mehrheiten zu erobern. Ein zentrales Instrument ist die Destabilisierung des Wahlvorgangs. Diejenigen, die einen Trump nicht wählen, müssen eben einfach an der Ausübung ihres Wahlrechts gehindert werden. Lilliana Mason, Professorin am Department of Government and Politics der University of Maryland, schreibt in der zitierten USA-Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“: „Die Kräfte der white supremacy haben uneingeschränkte Demokratie schon immer als verhängnisvolle Bedrohung angesehen und sind weiterhin bestrebt, Schwarzen Amerikanern den Wahlgang so schwer und gefährlich zu machen wie möglich.“ Alles im Namen der „Greatness“, einer letztlich reaktionären Variante des immer wieder zitierten „American Dream“.
Die literarische Lust am Untergang der Demokratie
Gefährlich für die Zukunft der freiheitlichen Demokratie ist nicht nur der Traum vergangener „Greatness“ mit all seinen martialischen Ausformungen, sondern auch die in liberalen Kreisen verbreitete Lust an Untergangsszenarien, die durchaus den Charakter eine sich selbst erfüllenden Prophezeiung annehmen könnten. Es reicht, einige Buchtitel zu zitieren, alle im Original in englischer Sprache erschienen: Steven Levitsky und Daniel Ziblatt: „Wie Demokratien sterben“ (2018, Originaltitel „How Democracies Die“), David Runciman: „So endet die Demokratie“ (2018, Originaltitel „How Democracy Ends“, Ivan Krastev und Stephen Holmes: „Das Licht, das erlosch“ (2019, Originaltitel: „The Light that Failed“) und nicht zuletzt Madeleine Albright: „Faschismus – Eine Warnung“ (2018, Originaltitel: „Fascism. A Warning“).
Madeleine Albright analysiert die „Gemeinsamkeiten zwischen Gestalten wie Maduro, Erdoğan, Putin, Orbán, Duterte und – dem einzig wahren Faschisten unter ihnen – Kim Jong-un.“ Madeleine Albright „Die Staatschefs weltweit beobachten und imitieren einander. Sie registrieren genau, in welche Richtung ihre Amtskollegen steuern, womit sie ungestraft davonkommen und wie sie ihre Macht erhalten und ausbauen. Sie folgen einander in den Fußstapfen, so wie Hitler Mussolini gefolgt ist. Und heute bewegt sich die Herde in eine faschistische Richtung.“ Stephen Holmes und Ivan Krastev vergleichen Orbán, Kaczyński, Putin, Trump und Xi Jinping. Alle Kapitel ihres Buches haben das Wort „Nachahmung“ im Titel.
David Runciman warnt allerdings vor „Schwarzmalerei“. Menschen dürfen sich nicht „machtlos“ fühlen, denn das macht sie für die MAGA-Rhetorik anfällig und zu willfährigen Soldat*innen ihres jeweiligen „Führers“. Er entfaltet einen Gedanken von Hannah Arendt, die in „der Demokratie des 20. Jahrhunderts eine gewisse Gedankenlosigkeit“ diagnostizierte: „In der modernen Demokratie besteht die große Gefahr, dass sie sich von sinnvollen menschlichen Beiträgen loslöst und ein künstliches Eigenleben entwickelt. Menschen treffen zwar nach wie vor die wesentlichen Entscheidungen, tun dies aber ohne kreative Einblicke. Sie gehen rein schematisch vor. Oder sie schlagen impulsiv um sich. Arendt lernte aus ihrem Studium Eichmanns, dass ein rein schematisches Vorgehen unseren destruktivsten Impulsen Tür und Tor öffnet. Wir hören auf, selbstständig zu denken.“
Steven Levitsky und Daniel Ziblatt sehen die gefühlte Wirkungslosigkeit demokratischer Politik als wesentlichen Grund für den Erfolg von Diktatoren. Diese gibt den angehenden Diktatoren Gelegenheit, ihre Gegner zu kriminalisieren: „In nahezu jedem Fall des Zusammenbruchs einer Demokratie, den wir uns angeschaut haben, rechtfertigten angehende Autokraten – von Franco, Hitler und Mussolini in der Zwischenkriegszeit über Marcos, Castro und Pinochet in der Ära des Kalten Kriegs bis zu Putin, Chávez und Erdoğan in jüngster Zeit – ihre Machtanhäufung damit, dass sie ihre Gegner als existenzielle Bedrohung darstellten.“ Es gibt mehrere Phasen der Destabilisierung einer Demokratie. Eine tatsächlich vorhandene oder herbeigeredete wirtschaftliche Notlage kann dazu gehören. Unter der Voraussetzung von Zweifeln an der „Legitimität des Wahlverfahrens“ wird dann die Delegitimierung politischer Gegner*innen möglich. Der Weg wird frei für „Tolerierung oder Ermutigung zu Gewalt.“ Trump handelte – es bleibt im Ergebnis gleich, ob geplant oder instinktiv – bei der Wahl 2016 nach diesem Muster, konnte allerdings auf die dritte Phase verzichten, da er genügend Stimmen im Electoral College erhielt, um Präsident zu werden. 2020 hätte er die dritte Phase gebraucht, um Präsident zu bleiben. Der 6. Januar 2021 war möglicherweise nur ein vorläufiger Höhepunkt.
Die vor allem in europäischen Medien und von europäischen Politiker*innen beschworene und von Joe Biden erwartete Versöhnung zwischen den Lagern der Republikaner und Demokratien müsste sich in diesem Klima bewähren, doch sind Zweifel erlaubt. Zwei Zahlen, die Steven Levitsky und Daniel Ziblatt nennen, stimmen nicht unbedingt zuversichtlich: „2010 bekundeten hingegen 33 Prozent der Demokratien und 49 Prozent der Republikaner, sie wären über eine Eheschließung über die Parteigrenzen hinweg ‚ziemlich oder sehr unglücklich‘. Demokrat oder Republikaner zu sein ist nicht mehr nur eine Frage der Parteiensympathie oder -zugehörigkeit, sondern eine Identität.“
Die Schlüssel des Teufels
Der Kreis schließt sich. Die Identitäten, die inzwischen in den USA und anderen westlichen Demokratien diskutiert werden, erhalten geradezu religiösen Charakter. Religion spielt in den USA eine wichtige Rolle, aber der eigentliche Punkt ist wohl ein anderer, denn nicht die Religion, sondern die Nation, gerne euphemistisch verkleidet in das ansprechendere Wort „Patriotismus“, soll helfen, die gefühlt verlorene „Greatness“ wiederzuerlangen.
Josef Roth legt dem Grafen Chojnicki in „Radetzkymarsch“ den kakanischen Traum vergangener „Greatness“ in den Mund, der offenbar schon vor dem Zusammenbruch der kakanischen Herrschaft wirkte: „Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich erst selbstständige Nationalstaaten schaffen! Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion ist der Nationalismus. Die Völker gehen nicht mehr in die Kirchen. Sie gehen in nationale Vereine. Die Monarchie, unsere Monarchie, ist gegründet auf der Frömmigkeit: auf dem Glauben, dass Gott die Habsburger erwählt hat, über soundso viel christliche Völker zu regieren. Unser Kaiser ist ein weltlicher Bruder des Papstes, es ist Seine K.u.K. Apostolische Majestät, keine andere wie er apostolisch, keine andere Majestät in Europa so abhängig von der Gnade Gottes und vom Glauben der Völker an die Gnade Gottes. Der deutsche Kaiser regiert, wenn Gott ihn verlässt, immer noch; eventuell von der Gnade der Nation. Der Kaiser von Österreich-Ungarn darf nicht von Gott verlassen werden. Nun aber hat ihn Gott verlassen!“
Make Kakania Great Again! Was heißt das für die heutigen europäischen Demokratien? Was geschieht eigentlich in Ungarn, in Polen, in der Türkei, in Russland und in dem von Trump repräsentierten Teil der USA? Worauf stützt sich die jeweilige gemeinsame große Erzählung von vergangener Größe? Was ist das Gegenstück zu der von Orbán immer wieder angesprochenen Revision des Vertrags von Trianon, was das Gegenstück zu den von Erdoğan beschworenen Folgen des Vertrags von Lausanne? Reduziert sich die jeweilige große Erzählung auf eine behauptete „Greatness“ der „Fine People“, die sich nur in der Abgrenzung von einem feindlich-fremden Anderen beweisen und bestätigen lässt? Und wer bezahlt die Zeche? Wer wird mit der jeweiligen „Greatness“-Rhetorik ausgeschlossen? Wer schreibt eine aktuelle Version von Gregor von Rezzoris „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“?
Eine reaktionäre Geschichtspolitik besteht aus diffusen Gefühlen und markigen Worten. Der Erzähler der vierten Erzählung der „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“ verliert sich in der Schilderung seines Leidens am Untergang Kakaniens und der auch nach dem Untergang des deutschen Kaiserreichs immer noch virulenten Verherrlichung der „völkischen Reckengestalt Bismarcks“ durch seine „Schulkollegen“. Einig ist er sich mit seinen „Schulkollegen“ in „jeglicher Verdächtigung der Juden“. Er findet sein Selbstbewusstsein in dem jede Zeitenwende überdauernden Antisemitismus, in dem er erzogen wurde, dem er sich nicht entziehen kann und irgendwie auch gar nicht entziehen will: „Ich verfocht solcherlei Ansichten mit umso heftigerer Leidenschaftlichkeit, als sie ja Ausbrüche gegen den vermeintlichen Grund und Anlass der leeren Trauer um mich her, des Abgestorbenen, Altersmorschen meiner Umwelt waren.“
Ein Satz, der auch heute aktuell wäre? Madeleine Albright zitiert in ihrer Warnung vor dem Faschismus Primo Levi: „Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus“. Es ließe sich auch schreiben, der Teufel kommt nie zwei Mal durch dieselbe Tür, braucht er auch nicht, denn er hat viele Schlüssel.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2021.)