Fragile Allianzen
„Frenemies“ – streitfreudige Debatten zur Identitätspolitik
„Was hier scheinbar ein lokaler Streit unter politischen Aktivist*innen ist, weist jedoch darüber hinaus auf das, was einer Gesellschaft gerecht werden möchte, grundsätzlich misslingt: allen Betroffenengruppen gleichermaßen das Gefühl zu vermitteln, sie anzuerkennen und ihre anliegen gleichberechtigt zu berücksichtigen und bei allen inhaltlichen Differenzen einen respektvollen und produktiven Streitraum zu schaffen.“ (Meron Mendel, Saba-Nur Cheema und Sina Arnold in der Einleitung zu „Frenemies“)
Der Berliner Verbrecher Verlag veröffentlicht seit 2019 Sammelbände der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main, die gekonnt die Kontroversen thematisieren, die identitätspolitische Debatten zugleich auszeichnen und belasten. Es begann 2019 mit dem Band „Triggerwarnung – Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen“, wurde im selben Jahr mit dem Band „Extrem unbrauchbar – Über Gleichsetzungen von links und rechts“ fortgesetzt und fand jetzt in dem 2022 publizierten Band „Frenemies – Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen einen weiteren Höhepunkt. In diesen Kontext ließe sich auch das außerhalb der Reihe im Jahr 2021 im Verbrecher Verlag veröffentlichte Buch „Gojnormativität – Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen“ von Judith Coffey und Vivien Laumann einordnen. Letztlich geht es um einen Strategiewechsel.
Allianzen vs. Solidarität?
Herausgeber*innen von „Frenemies“ sind Meron Mendel, Saba-Nur Cheema und Sina Arnold. 54 Autor*innen haben 48 Texte geschrieben. Nach der Einleitung durch die drei Herausgeber*innen bietet das Buch vier Teile, deren erster den treffenden Titel „Zur Orientierung im Minenfeld“ trägt. Der zweite Teil ist der umfangreichste, er umfasst gute 170 Seiten von 350 (einschließlich der Biogramme aller Mitwirkenden) und bietet 24 „Frequently Asked Questions“, die von den Autor*innen mitunter unterschiedlich beantwortet werden. Der dritte Teil schaut „Über den Deutschen Tellerrand“ hinaus und thematisiert entsprechende Kontroversen in den USA, in Israel, Südafrika und Frankreich.
Die Überschrift des vierten Teils ließe sich als Sarkasmus verstehen, ist aber wohl eher als Appell zu lesen, der einen Gedanken der ebenfalls im Titel sarkastisch anmutenden Einleitung aufgreift: „Warum dieses Buch ein Fehler war“. Etwas diskursiver klingt der Untertitel der Einleitung: „Über Freund- und Feindschaften gegen Rassismus und Antisemitismus“. Die entscheidende Frage laute: „Der Übergang von einer normierten, weißen, leitkulturell geprägten in eine heterogene, diversifizierte und globalisierte Gesellschaft geht einher mit den Ansprüchen gesellschaftlicher Minderheiten. Was aber, wenn die Ansprüche marginalisierter Gruppen miteinander in Konkurrenz geraten? Was, wenn eine Moscheegemeinde fordert, dass die Gay-Pride-Parade ihre Route umändern soll, damit sie nicht an den Moscheebesucher*innen vorbeiläuft? Und wie können antiisraelische Äußerungen eines Schwarzen Philosophen – das zeigten die Diskussionen um Achille Mbembe – kritisiert werden, ohne rassistische Argumentationen zu reproduzieren.“ Anders gesagt: „Warum verlaufen ihre politischen Kämpfe so oft nicht mit-, sondern gegeneinander?“
Es wäre ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, in einer Rezension allen Autor*innen des Bandes gleichermaßen gerecht zu werden. Daher beschränke ich mich auf einige Leitmotive des Bandes. Andere Rezensent*innen – ich wünsche dem Band möglichst viel Beachtung, allerdings nicht nur bei den üblichen Verdächtigen, sondern auch in der politischen Debatte – werden andere Aspekte hervorheben als ich dies tue, aber genau dies wäre ja auch ein Erfolg eines solchen Buches: Vielfalt ist nicht nur Gegenstand der Debatte, sondern gleichzeitig leitendes Prinzip jeder Debatte. Wir brauchen nicht eine Debatte, sondern viele Debatten. Erst dann könnte vielleicht aus Solidarität auch das entstehen, was wir brauchen: nachhaltig wirkende Allianzen für Demokratie und Freiheit.
Das Buch endet mit einem „Gespräch über Solidarität, Allianzen und ihre Schwierigkeiten“. Teilnehmende sind Jonas Berhe, Harpreet Cholia, Hannah Peaceman und Massimo Perinelli. Die Moderation haben Saba-Nur Cheema und Sina Arnold übernommmen. Jonas Berhe formuliert das Problem: „Ich habe kein Problem mit dem Label Identitätspolitik, ganz im Gegenteil. Ich finde es nur schwierig, wenn es dabei bleibt.“ Es geht eben nicht um eine grundsätzliche Kritik an Identitätspolitik, sondern um eine Kritik an bestimmten Fehlentwicklungen, die Gespräche und damit eine wirksame politische Entwicklung verhindern, wie sie in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft gepflegt werden sollte. Hannah Peaceman differenziert, dass sich „Solidarität“ eher auf der Ebene der Interaktionen zwischen Personen, „Allianzen“ jedoch auf der Ebene der Institutionen verorten ließe: „Allianzen sind häufig instrumentell, das heißt, auf ein konkretes Ziel oder eine Maßnahme ausgerichtet, während unter Solidarität mehr als eine geteilte Haltung verstanden werden kann, die sich im politischen Handeln zeigt.“ Kurz: Allianzen machen Solidarität politisch. Wer Allianzen verhindert, entpolitisiert die Debatte und bleibt in reiner Betroffenheitsrhetorik stecken.
„Wer wen?“
Verlag, Herausgeber*innen und Autor*innen von „Frenemnies“ und den anderen eingangs genannten Büchern wagen den Versuch, diverse Mythen zumindest zu hinterfrage, wenn nicht sogar aufzulösen. Sie dokumentieren eindrucksvoll, welchen Gefahren wir begegnen, wenn wir das Verhältnis zwischen Minderheiten und einer wie auch immer definierten Mehrheitsgesellschaft definieren wollen.
Die eine Gefahr ist mehr oder weniger mutwillige Ignoranz. Positionen von Minderheiten werden unter den Teppich gekehrt, indem sie als übertrieben oder gar unbegründet gewertet werden. Je nach politischer Orientierung gehört offene Diffamierung zum Repertoire der selbsternannten Kritiker*innen von Identitäts- und Minderheitenpolitik. Beispiele sind die leidigen Debatten um eine geschlechtsgerechte Sprache (Stichwort: Gendersternchen), um die Vermeidung diskriminierend konnotierter Worte (Stichwort: N-, M-, I und Z-Wörter) sowie die sogenannte „Cultural Appropriation“.
Die andere Gefahr produzieren die aufgeweckten Aktivist*innen (Stichwort: „Wokism“) ohne Mithilfe Dritter selbst, wenn sie sich gegenseitig vorwerfen, das Geschäft der Mehrheitsgesellschaft zu betreiben, die sie gerne pauschal mit dem oft missverstandenen Begriff der „Dominanzgesellschaft“ (Birgit Rommelspacher) belegen. Mitunter berufen sie sich auf die in den USA entstandene Praxis der „Critical Whiteness“, die sie – leider pauschalisierend und unterkomplex – anzuwenden versuchen. Auf diese Weise spalten sie und verhindern Allianzen und damit jede politische Strategie. Das Bekenntnis zur Solidarität mit welcher diskriminierten und unterdrückten Gruppe ist sicherlich zu begrüßen, letztlich aber unpolitisch. Im Namen der Solidarität lassen sich Allianzen sogar verhindern. Dies ist vielleicht das zentrale Thema von „Frenemies“.
Die Herausgeber*innen von „Frenemies“ diagnostizieren schlagzeilengeeignet „Grabenkämpfe in Echokammern“. Dem Ansatz der „Intersektionalität“ im Hinblick auf Mehrfachbenachteiligung und Mehrfachdiskriminierung stehe eine „Intersektionalität von rechts“ gegenüber, auf die sich als „links“ verstehende Akteur*innen noch keine Antwort gefunden hätten. Im Ergebnis bleibt die rhetorische Frage, „ob soviel ‚Multikulti‘ nicht auch nach hinten losgehen kann, indem die Beteiligten immer wieder auf bestimmte Identitäten festgelegt werden.“ Verführerisch, weil Klarheit vorgaukelnd, bleibt eben nach wie vor ein binäres Verständnis der Welt auf beiden Seiten. Es gibt dann eben die Guten und die Bösen aber nichts dazwischen.
Carl Schmitt lässt grüßen, denn genau darum geht es: eine Einteilung der Welt in Freund*innen und Feind*innen belastet freiheitliche Demokratien, beschädigt Rechtsstaat und Gewaltenteilung und droht – das muss man offen ansprechen – auch die Zukunft der Demokratie wie wir sie kennen. In ihrem Hang zur Binarisierung jeglicher Debatte schwächen sich gutmeinend solidarische Gruppen selbst, denn sie sorgen dafür, dass sie „in immer kleinere Mikromilieus auseinanderfallen“. Das erinnert ein wenig an die Praxis trotzkistischer Gruppen, die Robert Menasse in seinem sehr lesenswerten Roman „Die Erweiterung“ (Berlin, Suhrkamp, 2022) karikierte. Er erzählt von einem Trotzkisten, der es geschafft habe, jede Gruppe auf ein einziges Mitglied zu reduzieren, das er dann noch schizophren gemacht habe. Und in der Tat haben manche identitätspolitische Debatten durchaus den Charakter der Debatten unter linken und linksextremen Gruppierungen in den 1970er Jahren und in der Anfangszeit der Grünen. Die Grünen haben weitgehend die Kurve gekriegt, auch wenn sich mit der Gruppierung von „Bunt-Grün“ und zum Teil auch in der Grünen Jugend wiederum einige Aktivist*innen finden, die von einer reinen Lehre träumen und sich auch so verhalten.
Es ist die alte Frage Lenins: „Wer wen?“ Das von Lenin betriebene Verbot der Fraktionsbildung mag manchen als Lösung erscheinen, aber in einer freiheitlichen Demokratie funktioniert dies natürlich nicht, wäre auch nicht wünschenswert. Auflösen lässt sich die Binarität der diagnostizierten „Grabenkämpfe“ weder wissenschaftlich noch mit bloßen Appellen an Solidarität, Respekt und Zusammenhalt. Floris Biskamp spricht davon, „dass derartiges Handgemenge in einer postnationalsozialistischen und postkolonialen Welt wohl unvermeidbar ist, es aber doch zumindest produktiver bestritten werden könnte. Ein produktiver Streit wäre möglich, wenn alle Beteiligten die Möglichkeit einräumten, das sie selbst im Unrecht und die Gegenseite im Recht sein könnte (…)“. Er lässt eine detaillierte Beschreibung der Atmosphäre einer unerträglichen Rechthaberei folgen, in der alles, was dem eigenen Weltbild nicht entspricht „als böswillige Kampagne“ hingestellt wird. Diejenigen, die sich so verhalten, halten sich für höchst politisch, sind aber letztlich unpolitisch, sie argumentieren im Grunde – das wage ich zu behaupten – auf Stammtischniveau. Politisch wird die Debatte erst durch die Suche nach Allianzen gegen vor-, un- und a-demokratische Entwicklungen. Gegensätze, Meinungsverschiedenheiten, unterschiedliche Einschätzungen – all dies müssen Aktivist*innen aushalten und das Gemeinsame im Trennenden in den Vordergrund stellen.
Der Elefant im Raum
Wie schwer das ist, zeigt die Vorgeschichte von „Frenemies“. Die Herausgeber*innen berichten, dass einige Autor*innen von vornherein klarmachten, dass sie sich nur beteiligten, wenn andere Autor*innen nicht beteiligt würden. Einige zogen ihre ursprüngliche Zusage wieder zurück, als sie erfuhren, wer sonst noch alles beteiligt war. Von ursprünglich 70 Autor*innen blieben 54 übrig. Die Herausgeber*innen bedauern, dass beispielsweise Autor*innen mit einem pro-palästinensischen Standpunkt die Gelegenheit nicht nutzten, diesen ihren Standpunkt neben pro-israelischen Texten vorzustellen.
Immerhin gelang es den Herausgeber*innen, die Kontroverse um den Antisemitismus von BDS abzubilden. Immerhin, auch wenn man einräumen muss, dass die Auseinandersetzung um BDS nur einen kleinen Teil des gesamten Komplexes rund um den Nahostkonflikt abbildet. In der öffentlichen Aufmerksamkeit hat BDS meines Erachtens einen unangemessen hohen Stellenwert. Hanno Loewy, von 2011 bis 2017 Präsident der Association for European Jewish Museums, warnt vor einer „Dämonisierung von BDS“ und stellt die „Frage: Definieren wir Israel als jüdischen Staat oder definieren wir Israel als Staat seiner Bürger*innen?“ Die Antwort müsste eigentlich lauten: Israel ist beides und schon wird es schwierig, das Verhältnis zwischen den beiden Optionen zu klären.
Saba-Nur Cheema stellt fest, dass es bei BDS „nicht um den bloßen Boykott von Produkten“ gehe. „Bei BDS haben wir es mit einer totalitären Ideologie zu tun, in der Ausschluss nicht ein Instrument, sondern ein inhärenter Grundsatz ist. Es ist makaber, dass sich gerade die Sympathisant*innen von BDS als Verfechter*innen von Meinungsfreiheit und Pluralität inszenieren“ und „israelische Stimmen“ kategorisch ausschließen. BDS spielt in weiteren Texten von „Frenemies“ eine Rolle, wahrscheinlich haben Saba-Nur Cheema und Meron Mendel recht, wenn sie zur Frage, was der jüdisch-muslimische Dialog bewirke, den „israelisch-palästinensischen Konflikt“ (oder wie auch immer man ihn nennen möchte) als „den Elefanten im Raum“ bezeichnen.
Natürlich lässt sich auch über die Antisemitismus-Definition der IHRA diskutieren. Ob Unterschriftenlisten ein geeignetes Mittel sind, wage ich zu bezweifeln. Kritik sollte jedoch auf keinen Fall – so Peter Ullrich – „als Angriff auf das grundsätzliche Anliegen missverstanden“ werden. „Die Arbeitsdefinition der IHRA wird trotz all ihrer Schwächen nicht zuletzt deshalb massiv verteidigt, weil sie sich im Kontext eines wachsenden Engagements gegen Antisemitismus durchgesetzt hat und zu dessen Symbol wurde.“ Richtig oder falsch gibt es hier nicht, entscheidend wäre die Frage, wann und wie eine Äußerung eindeutig antisemitisch wird. Andererseits darf die Antwort nicht kasuistisch relativieren. Die IHRA-Definition hat ihren empirisch belegbaren Grund. Günter Jekeli stellt mit Recht fest: „Es ist befremdlich und disgusting, dass auch heute noch Jüdinnen*Juden eine Selbstbestimmung streitig gemacht wird. Der Widerstand gegen eine Definition von Antisemitismus, die auf Empirie und den Erfahrungen von Jüdinnen*Juden im 21. Jahrhundert beruht, steht in der Tradition, Opfer nicht hören und Antisemitismus in seinen neuesten Formen nicht wahrnehmen zu wollen.“
Wie Liberale und Linke in die binarisierend-relativierende Falle hineintappen, zeigt sich an der „Color Line“. Sind Jüdinnen*Juden auf der einen oder auf der anderen Seite der „Color Line“ anzuordnen? Mehrere Texte in „Frenemies“ befassen sich mit der Frage, ob Jüdinnen*Juden „weiß“ wären. Dies gilt für die USA im Kontext von „Black Lives Matter“ ebenso wie für Deutschland. Jüdinnen*Juden werden – so Julia Yael Alfandari und Gil Shohat – in „intersektionalen Ansätzen“ oft als „weiß“ verortet: „Das hat zur Folge, dass Schwarze und Of-Color-Juden*Jüdinnen sich in einem Double Bind wiederfinden: Entweder werden sie und ihre Geschichten von außen und auch von vielen weiß-gelesenen Juden*Jüdinnen als nicht-jüdisch oder nicht gleichwertig jüdisch wahrgenommen (da Jüdisch-sein als weiße Erfahrung verstanden wird), oder sie werden als jüdisch anerkannt, dann werden sie jedoch nicht mehr als nicht-weiß wahrgenommen (da Jüdisch-sein wiederum als weiße Erfahrung verstanden wird).“
Diejenigen, die Israel wegen seiner Besatzungs- und Siedlungspolitik in der Westbank angreifen, halten Jüdinnen*Juden natürlich für Weiße und ziehen sehr schnell Parallelen zu Kolonialismus und Sklaverei. Und damit sind wir bei der Debatte, die in den vergangenen zwei Jahren mit großer Vehemenz unter dem Schlagwort einer „multidirektionalen Erinnerung“ (Michael Rothberg) geführt wurde. Gibt es zwischen Shoah und den Verbrechen der Kolonialzeit eine Opferkonkurrenz? Jürgen Zimmerer wendet sich gegen die Bezeichnung dieses Streits als „Historikerstreit 2.0“ und beklagt Verengungen im „nationale(n) Geschichtsnarrativ“ in Deutschland: „Statt die wichtige Frage zu diskutieren, was den Holocaust singulär macht und wo Gemeinsamkeiten zu früheren und späteren Massenverbrechen bestehen, werden dadurch die Verbindungen des Holocaust in die deutsche Geschichte gekappt. Was jedem Vergleich entzogen, unvergleichlich, singulär ist, ist auch enthistorisiert. Eine ernsthafte Einbeziehung des kolonialen Erbes würde dagegen das Gegenteil bedeuten: es würde zeigen, wie tief in der Geschichte verwurzelt Rassismus und genozidales Denken in Deutschland ist.“ Dies erinnert wiederum an die Fischer-Kontroverse. Damals wie heute gilt: Analogien und Kontinuitäten sind keine Kausalitäten – das war der kritische Punkt im Historikerstreit der 1980er Jahre wie in der Fischer-Kontroverse –, Kontinuitäten lassen sich aber auch nicht in Phasen einteilen, wie dies Aleida Assmann im Merkur mit „Erinnerung 1“ und „Erinnerung 2“ tat. Diese Debatte habe ich im Februar 2022 in meinem Essay „Umstrittene Erinnerung“ geschrieben kommentiert. Eingeleitet habe ich diesen Essay mit einem Satz von Maxim Biller, der sich gegen jede „Opferkonkurrenz“ wehrte.
Erweiterte Intersektionalität
Wer auf binären und damit eindeutigen nicht mehr in Frage zu stellenden Definitionen und Ansichten beharrt, profitiert von seinem Verhalten. Es ist immer schön, sich im Gefühl zu sonnen, recht zu haben. Vielleicht sollte man jedoch lieber Hannah Arendt lesen, die treffend formulierte, es gebe kein Recht, recht zu haben, aber das Recht, Rechte zu haben. Dies wird – ohne Hannah Arendt explizit zu nennen – in „Frenemies“ ausführlich diskutiert. Die erste Frage der „Frequently Asked Questions“ lautet folgerichtig: „Sind Rassismus und Antisemitismus Formen von Diskriminierung?“ Auf den ersten Blick eine rhetorische Frage, beim näheren Hinsehen ließe sich erörtern, ob im Subtext sich vor das Wort „Formen“ ein unscheinbares und scheinbar unschuldiges „nur“ einfügen ließe. Astrid Messerschmidt beantwortet die Frage wie folgt: „Rassismus bietet seinen Anhänger*innen die Möglichkeit, sich selbst als überlegen zu fühlen, da die fremd gemachten Anderen abgewertet werden können. Antisemitismus bietet seinen Anhänger*innen die Möglichkeit, sich selbst als unschuldig zu sehen, da alles Verwerfliche der modernen globalisierten Welt einem phantasierten Verursacher zugeschrieben werden kann.“ Andere lassen sich als „defizitär“ oder als „gefährlich und überlegen“ markieren, und diejenigen, die diese Markierungen betreiben, verfolgen „Ideale der Reinheit“.
Claudius Seidl bezieht dies auf das „rituelle Erinnern, in dem die Deutschen sich für Weltmeister halten“, das aber „zum Selbstgespräch unter Deutschen“ werden könne, „in welchen sie sich und einander versichern, wie gut sie das doch machen.“ Die Erinnerung an den Kolonialismus kann dann stören und verstören, weil sie dieses Selbstbild in Frage stellt, andererseits die Shoah verharmlosen, weil sie dann nicht mehr wäre als ein koloniales Verbrechen unter anderen, dessen sich zumal auch andere Völker bezichtigen lassen müssten. Dann wird aus der „Opferkonkurrenz“ auch eine „Täterkonkurrenz. Ja, wir Deutschen waren schlimm, das müssen wir eingestehen. Aber andere waren eben genauso schlimm.“ Jana König ergänzt, dass Shoah und Kolonialismus „in ihrer Spezifik verstanden werden“ müssen, aber dass „auch allzu starre Trennungen“ problematisch sind: „Die deutsche Gesellschaft ist eine postnationalsozialistische wie auch eine postkoloniale; die Anerkennung deutscher Verantwortung kein abgeschlossener Prozess.“
Die Debatte um Shoah vs. Kolonialgeschichte ist eine Debatte der Verschiebungen. Den Begriff der „Verschiebung“ bringt Riem Spielhaus in die Debatte: „Seit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts 2000 und den Anschlägen von 2001 in den USA dominiert nicht mehr die Rede von ‚Türken‘ oder ‚Arabern‘ in problemzentrierten Berichten über ‚Fremde‘ in Deutschland , die Rede ist jetzt von ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ oder ‚Muslim*innen‘. Vieles von dem, was früher als ‚Ausländerfeindlichkeit‘ bezeichnet wurde, verbirgt sich heute in Äußerungen über den Islam.“ Andererseits wird die Zuschreibung einer türkischen, einer arabischen, einer nordafrikanischen oder einer muslimischen Identität immer so genutzt wie sie gerade passt. Mitunter werden diese verschiedenen Identitätsmerkmale auch munter miteinander vermischt und in einer einzigen Identität fixiert. In der Tat werden auch Menschen als „Muslim*innen“ markiert, die keine sind, aber aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer Sprache als solche gelesen werden. Dies erschwert all denjenigen das Leben, die – so Ronya Othmann – „zu Minderheiten innerhalb einer Minderheit“ gehören. Sie werden von zwei Seiten angegriffen und diskriminiert. „Einfach formuliert: der Nazi fragt nicht erst, ob er eine*n Muslim*in oder Ezîd’in vor sich hat.“
Auf der Gegenseite handeln manche oft genug nicht anders. Sie vereinfachen und belegen alle, die sie kritisieren, mit dem R-Wort. Ronya Othmann vermerkt, dass sie sich oft genug den Rassismus-Vorwurf einhandelt, wenn sie sich beispielsweise kritisch über islamistische Akteure oder auch über DİTİB äußert. Yasemin Shooman verweist auf Micha Brumlik, der „Thilo Sarrazin als den ‚Treitschke des 21. Jahrhunderts‘“ bezeichnete. Sarrazin und Treitschke – so Yasemin Shooman – fungieren mit ihren Thesen „als Ausdruck der Selbstvergewisserung der eigenen kulturellen und nationalen Identität als Mehrheit und Abwehr der gleichberechtigten Teilhabe einer Minderheit“.
Intersektionalität bekommt in diesen Kontexten eine erweiterte Bedeutung. Es geht nicht nur um Mehrfachdiskriminierung von Menschen, die in sich mehrere einer Minderheit zuzurechnende Identitäten tragen, es geht um eine offene Debatte darüber, wie – durchaus im Sinne von Kimberley Crenshaw oder bell hooks – sie sich als Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft und als Minderheit in der Minderheit, schlechthin in ihrer Identität behaupten müssen. Identität ist etwas Fluides, Vielfältiges, etwas, das sich entwickelt und im Laufe eines Lebens und gesellschaftlicher und politischer Entwicklung verändern kann. Wer jedoch Gesellschaft in Mehrheit und Minderheit – jeweils im Singular benannt – einteilt, als handele es sich um fix und eindeutig definierbare Entitäten, ontologisiert eine politische Debatte und reproduziert binäres Denken. Dieses muss jedoch überwunden werden. Es ist eben grundfalsch anzunehmen, Rassismus oder Kolonialismus ließe sich nur anerkennen, wenn Antisemitismus nur als Teilmenge von Rassismus definiert oder grundsätzlich – siehe „den Elefanten im Raum“ – in Frage gestellt würde.
Zum Abschluss erlaube ich mir den Vorschlag, in einem vierten Band der Reihe ausdrücklich das Thema Feminismus und Anti-Feminismus aufzugreifen. Immerhin fungiert Antifeminismus – so die Autor*innen der 2022 erschienenen Autoritarismus-Studie aus Leipzig – als eine Art „Brückenideologie“.
Die Herausgeber*innen von „Frenemies“ plädieren allen Problemen zum Trotz für ein „Weitermachen“, sie bleiben zuversichtlich: „Wir glauben dennoch, dass nur die Debatte, die direkte Konfrontation, die verfestigten Fronten aufzulösen imstande ist.“ Denn das ist der Kern einer freiheitlichen Demokratie, die offene und ehrliche Debatte, jenseits binarisierender Zuschreibungen und Vorwurfskulturen. Dann können politische Allianzen entstehen. „Allianzen einzugehen bedeutet mehr als Kulturfeste, gemeinsame Gedenkfeiern oder ‚jüdisch-muslimischen Dialog‘ zu organisieren. Stattdessen muss man über theoretische, historische, politische und moralische Grundsätze und Konfliktlinien sprechen.“ Sichtbar wurden solche Allianzen – darauf verweisen mehrere Beiträge – nach den Morden und Mordversuchen von Halle. Das gibt Hoffnung. Bliebe aber hinzuzufügen, dass ich mir nicht so sicher bin, ob die Mehrheitsgesellschaft das auch merkt.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 15. Januar 2023.)