Freiheitsrechte schützen

Ein Gespräch mit Benjamin Limbach, Justizminister in Nordrhein-Westfalen

„Die Klassifizierung und Definitionen der Sanktionen, die Konformität mit sozialem Rollenverhalten garantieren, führt uns ersichtlich in die Sphäre der Rechtssoziologie hinein. Zwischen Muss-, Soll- und Kann-Erwartungen einerseits, Gesetz, Sitte und Gewohnheit andererseits besteht nicht nur eine Analogie, sondern diese beiden Begriffsgruppen beziehen sich auf identische Gegenstände. Wie wir im Bereich des Rechtes annehmen können, dass jede Gesellschaft ständig Prozesse der Verfestigung von Gewohnheiten zu Sitten, von Sitten zu Gesetzen aufweist, so unterliegen auch soziale Rollen ständigem Wandel in diesem Sinne.“ (Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus, Opladen, Westdeutscher Verlag 1958)

Wer in einer der Institutionen der Justiz arbeitet, erfüllt eine solche soziale Rolle, die sich aber, wie Ralf Dahrendorf schreibt, mit der Zeit – wie alles andere auch – verändert. Mitunter beruft sich das jeweilig geltende Recht auf etwas, das mit Begriffen wie „Sitte und Gewohnheit“ oder auch Tradition, vielleicht auch Natur nur unscharf gefasst werden kann, aber dennoch gilt. Das, was rechtens ist, entspricht nicht immer dem, was Menschen für gerecht halten, und umgekehrt. Immer wieder geht es um das Wechselspiel zwischen dem, was eine Gesellschaft – wer auch immer das sein mag – verlangen kann und dem, was sie aufgrund von welchen Entscheidungen auch immer billigt und was sie sanktioniert. Ralf Dahrendorf hat dieses Dilemma benannt: „Keinen Schritt können wir gehen, keinen Satz sprechen, ohne dass zwischen uns und die Welt ein Drittes tritt, das uns an die Welt bindet und diese beiden so konkreten Abstraktionen vermittelt: die Gesellschaft.“ Aber welche Rolle erfüllen Justizminister*innen, wie wandelt sich das Verständnis ihrer Tätigkeit mit der Gesellschaft. Diese Frage lässt sich vielleicht am besten mit jemandem besprechen, der Justizminister*in ist.

NRW Justizminister Benjamin Limbach n der Justizvollzugsschule in Wuppertal. Foto, im Auftrag des JMNRW: Jochen Tack, 15.09.2022, Rechte: Justizministerium

Benjamin Limbach ist seit Sommer 2022 Justizminister in Nordrhein-Westfalen. Er wurde im Jahr 1969 in Bonn geboren. Nach seinem Jurastudium wurde er mit dem Thema „Der drohende Tod als Strafverfahrenshindernis“ promoviert. Seine Tätigkeit als Justizminister ist seine zweite Station im Ministerium, in dem er als Referatsleiter unterschiedliche Aufgaben wahrnahm. Nach dieser ersten Zeit im Ministerium arbeitete er sechs Jahre als Direktor der Fachhochschule für Rechtspflege Nordrhein-Westfalen in Bad Münstereifel und Leiter des Ausbildungszentrums der Justiz Nordrhein-Westfalen, anschließend zwei Jahre als Präsident der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Er ist Mitglied der Partei Bündnis 90 / Die Grünen.

Wofür ist ein Landesjustizministerium zuständig?

Norbert Reichel: Welche Spielräume hat ein Landesjustizministerium im Unterschied zum Bundesjustizministerum?

Benjamin Limbach: Das Bundesjustizministerium (BMJ) ist im weitesten Sinne ein Rechtspolitik gestaltendes Ministerium. In fast allen Abteilungen wird an der Gesetzgebung gearbeitet. Es hat die Dienstaufsicht für die wenigen Bundesgerichte, die Bundesanwaltschaft und das Bundesamt für Justiz. Ein Landesjustizministerium ist zunächst überwiegend einmal ein administratives Ressort. Wir haben in Nordrhein-Westfalen 230 Gerichte, Staatsanwaltschaften, Aus- und Fortbildungseinrichtungen, für die wir zuständig sind. Ein besonderer Bereich, den es auf Bundesebene gar nicht gibt, ist die Zuständigkeit für die 36 Justizvollzugseinrichtungen.

Wir sind nur in Ausnahmefällen ein in Landeszuständigkeit Rechtspolitik gestaltendes Ministerium, wir haben nur sehr wenige Gesetzgebungszuständigkeiten, wie zum Beispiel das Justizgesetz. Wir sind jedoch als Länder bei den Gesetzgebungsverfahren des Bundes über den Bundesrat beteiligt. Dies bedeutet, dass wir an der Gestaltung der Gesetze, die wir ausführen müssen, nur mittelbar beteiligt sind. Mit der Unterscheidung von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen sind wir noch nicht einmal bei jedem Gesetz mit Gestaltungsmöglichkeiten beteiligt. Unsere Behörden müssen häufig ausführen, was das Bundesjustizministerium vorbereitet und der Deutsche Bundestag beschlossen hat. Einfluss haben wir als Länder vor allem über den Bundesrat. Ich äußere mich aber natürlich in bestimmten Fällen auch zu bundespolitischen Debatten. Im Zusammenspiel mit den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Ländern, können wir mitunter Anpassungen oder Korrekturen im Gesetzgebungsprozess erreichen.

Zuständigkeiten haben wir als Land seit der letzten Föderalismusreform im Jahr 2005 im Strafvollzugsbereich. Wir haben ein Untersuchungshaftvollzugsgesetz, ein Strafvollzugsgesetz, ein eigenes Gesetz für den Strafvollzug bei Jugendlichen. Nur hier können wir selbst, ohne Beteiligung des BMJ, tätig werden. Wir sind eben ein administratives Ressort, allerdings mit einem sehr großen Geschäftsbereich.

Junge Straftäter*innen

Norbert Reichel: Wir haben zurzeit eine kontroverse Debatte über die Frage der Absenkung des Strafmündigkeitsalters. Das liegt zurzeit bei 14 Jahren, aber es gab und gibt immer wieder die Forderung es abzusenken, in der Regel dann, wenn Kinder im Alter unter 14 Jahren Aufsehen erregende Straftaten verübten oder als sogenannte „Serientäter*innen“ in Erscheinung traten. Kürzlich waren es zwei Tötungsdelikte von Kindern unter 14 Jahren, jeweils verübt an einem gleichaltrigen Kind. Ihr seid jetzt nicht dafür zuständig, über die Frage der Absenkung des Strafmündigkeitsalters zu entscheiden, wohl aber für die Frage, was mit diesen sehr jungen Täter*innen geschieht. Das Land ist für die Jugendhilfe zuständig, für Inobhutnahmen, für geschlossene Unterbringung. Ich denke, dass Landesjustiz- und Landesjugendministerium hier eine gemeinsame Aufgabe zu erfüllen haben.

Benjamin Limbach: Die Bestimmung des Mindestalters ist eine Frage des Strafrechts, nicht des Strafvollzugsrechts. In dieser Frage sind wir über den Bundesrat beteiligt. Bei einer Änderung müssten wir das umsetzen. Ich darf als grüner Justizminister sagen, dass ich hoffe, dass das nie geändert wird. Die Sache ist eigentlich seit Jahrzehnten ausdiskutiert. Es gibt keine Erkenntnisse, dass Kinder im Sinne einer Strafmündigkeit früher erwachsen werden als in früheren Jahrzehnten. Würde das Strafmündigkeitsalter herabgesetzt, müssten wir darüber nachdenken, wie wir das umsetzen. Möglicherweise braucht man dann auch ganz andere Maßnahmen als es das Jugendgerichtsgesetz bisher vorsieht. Das wäre eine große Umwälzung des Systems.

Viele machen viele auch den Fehler zu denken: wenn auch 12- oder 13jährige zu einer Haftstrafe verurteilt werden könnten, wäre das Problem gelöst. Das Gegenteil ist der Fall.

Norbert Reichel: Die abschreckende Wirkung von Strafen wird ohnehin überschätzt. Prävention ist doch um ein Vielfaches komplexer.

Benjamin Limbach: Das gesamte Jugend- und Familienrecht ermöglicht eine Vielzahl von Maßnahmen, zielgerichtet auf diese Kinder und vor allem auch auf ihre Familien einzuwirken. Das ist ein großer Unterschied zum Strafrecht. Im Strafrecht wirken die Gerichte nur auf die Täterinnen und Täter ein, im Jugendstrafrecht zwar auch mit erzieherischen Maßnahmen, aber eben nur auf der Grundlage des Strafrechts. Bei den 12- oder 13jährigen können wir mit den Mitteln des Jugendhilferechts und des Familienrechts auch den gesamten Sozialraum einbeziehen, zum Beispiel, indem ich dieses Kind aus der Familie herausnehme. Ich halte es für sinnvoll, dass man gerade im Entwicklungsstadium der 10- bis 13jährigen einen ganzheitlichen Blick auf das soziale Umfeld nimmt.

Komplexität der Bewertung von Gewalttaten, gerade bei Jugendlichen

Norbert Reichel: Ist das nicht auch bei älteren Täter*innen erforderlich? Sind 15-16jährige so viel „reifer“?

Benjamin Limbach: Auch da hat die Jugendhilfe Einwirkungsmöglichkeiten. Wichtig ist die Koordination zwischen Justiz und Jugendhilfe untereinander. Du hast natürlich recht: auch bei 14-, 15-, 16jährigen muss ich auf den Entwicklungsstand schauen. Bei 18-21jährigen, die das Gesetz als Heranwachsende ansieht, kann ich als Richter*in in jedem Fall entscheiden, ob nach dem Erwachsenen- oder nach dem Jugendstrafrecht entschieden werden soll. Die medizinische und psychologische Forschung verweist auf die Entwicklung des präfrontalen Cortex, die erst im Alter von etwa 25 Jahren abgeschlossen ist. Der präfrontale Cortex ist – vereinfacht gesprochen – für die Steuerung von Handlungen zuständig.

Norbert Reichel. Manche setzen dieses Alter bei 30 Jahren an. Es gibt auch den Spruch, dass die beste Gewaltprävention daher der 30. Geburtstag sei.

Benjamin Limbach: Bei Jugenddelinquenz erleben wir diese in der Regel als eine Episode in der Entwicklung, die meist von selbst wieder aufhört. Deswegen setzt das Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII) auch da an. Es ist unangemessen, immer sofort und ausschließlich mit Strafen zu reagieren. Wichtig ist es, auch bei 17-18jährigen, den jungen Menschen nicht direkt die gesamte Zukunft zu verbauen, sondern ihnen eine Brücke in ein Leben ohne Straftaten zu bauen.

Norbert Reichel: Wir sprechen jetzt nicht von Tötungsdelikten. Es gibt die typischen Gruppen von Jugendlichen, in denen es zum Initiationsritual gehört, eine Straftat zu begehen, einen Einbruch, einen Diebstahl. Es gibt Körperverletzungen bei Gruppenereignissen wie Fußballspielen. Das sind nicht nur die bekannten Hooligan-Gruppen, bei Jugendfußballspielen kommt es immer wieder zu Angriffen auf die Schiedsrichter. Die Verbände haben auch oft genug Probleme, genügend Schiedsrichter für die unteren Ligen zu finden, weil es da immer wieder zu Gewalt kommt. Die Spieler (ich gendere nicht, weil es hier um männliche Spieler geht, bei Frauen sind mir solche Ereignisse bisher nicht bekannt) sind alle in dem Alter, in dem – wie du eben sagtest – eben der präfrontale Cortex noch nicht ausreichend ausgebildet ist. Bekommt man da überhaupt ein Packende?

Benjamin Limbach: Die Justiz hat das Problem, dass sie immer reaktiv, also erst nach der Tat tätig wird. Sie ist keine Einrichtung der Primärprävention. Die Gerichte können bei Jugendlichen Maßnahmen ergreifen wie die Auferlegung von Anti-Gewalt-Trainings, von Anti-Aggressionstrainings, eines Täter-Opfer-Ausgleichs, alles Maßnahmen der Sekundärprävention. Ziel ist es, auf diesem Wege weitere Straftaten zu verhindern. Die Jugendhilfe kann natürlich im Vorfeld darauf schauen, ob sich in bestimmten Vierteln Gruppen entwickeln, aus denen dann Straftaten begangen werden. Die Frage ist, ob sie bestimmte junge Menschen aus diesen Gruppen herausholen kann, bevor die sich von Älteren mitreißen lassen, oder ob sie anderweitig auf diese Gruppen einwirken soll.

Norbert Reichel: Was sagt denn die Kriminalstatistik?

Benjamin Limbach: In der letzten Kriminalstatistik hatten wir eine Zunahme der Jugendkriminalität. Allerdings müssen wir auch sehen, dass es in den Jahren davor seit etwa 2008 einen deutlichen Rückgang der Jugendkriminalität, auch der Gewaltkriminalität, gab. Wir haben zurzeit die geringste Belegungsquote im geschlossenen Jugendstrafvollzug. Der Sprung, den wir jetzt im Jahr 2022 erleben, bringt uns zurück auf den Stand des Jahres 2019.

Norbert Reichel: Ist das der Corona-Sprung?

Benjamin Limbach: Das wäre eine Frage, die noch zu untersuchen wäre. Ich glaube, da sollten wir vor einem vorschnellen Urteil die Entwicklung der nächsten zwei Jahre beobachten. Wir sollten die Sache aber auch nicht einfach laufen lassen. Ich plädiere immer für eine evidenzbasierte Politik. Wir sollten untersuchen, ob es sich um einen einmaligen Sprung handelt, der sich wieder abbaut, oder ob mehr dahintersteckt. Das klingt natürlich wohlfeil, wenn Politiker*innen nach Untersuchungen rufen. Wir müssen dabei auch allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen berücksichtigen. Gibt es so etwas wie eine Verrohung der Gesellschaft, die auch zu einer Verrohung bei Jugendlichen führt?

Ich will das auf keinen Fall von der Justiz auf die Jugendhilfe abwälzen. Wir sollten aber immer darauf achten, dass wir mit unseren Möglichkeiten die Jugendlichen erreichen, bevor es dann beim Strafgericht landet. Das sind Aufgaben der Jugendhilfe, auch der Schulen, auch diese wiederum in enger Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe.

Norbert Reichel: Gibt es gemeinsame Abstimmungsgespräche zwischen Justiz und Jugendhilfe?

Benjamin Limbach: Wir diskutieren noch darüber, wie wir mit dem Thema umgehen. Die Idee ist die, dass wir das Phänomen der gestiegenen Jugendkriminalität gemeinsam mit dem Innenministerium und dem Jugendministerium analysieren. Wir brauchen die Erfahrungen der Polizei und der Jugendhilfe.

Zeitgeist Aggressionsbereitschaft?

Norbert Reichel: Was sagt die Polizei?

Benjamin Limbach: Die Polizei sieht eine steigende Aggressionsbereitschaft. Ich würde das nicht nur auf die Gewaltfrage reduzieren. Dann geht es immer darum, ob jemand ein Messer gezückt hat oder nicht. Es geht insgesamt um eine Zunahme von Aggressionen, um Aggressivität. Das erleben wir nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch in anderen Altersgruppen. Wenn wir über Aggression sprechen, sehen wir auch die Hasskriminalität in den sozialen Medien. Die Frage, die mich umtreibt: steigt in der Gesellschaft die Aggressionsbereitschaft, die sich dann in unterschiedlichen Formen Bahn bricht, so auch in der Jugendkriminalität? Haben wir mehr Aggression? Sind die Leute weniger resilient? Wir dürfen natürlich nicht vergessen, dass wir in einer Zeit multipolarer Krisen leben. Wir haben einen Krieg vor der Haustür, die Klimaschutzdebatten, Unsicherheiten in der Energieversorgung, Angst vor einer Rezession, vor einer galoppierenden Inflation.

Norbert Reichel: The German „angst“?

Benjamin Limbach: Schon, aber ich glaube, dass es einfach schwer ist, sich in so vielen gleichzeitigen Krisen zurechtzufinden. Und das in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft von den Folgen von Corona noch nicht erholt hat. Ich glaube, dass die Resilienz in der Gesellschaft abgenommen hat. Das macht mir große Sorgen. Das hat Auswirkungen eben auch auf die Jugend, die auch ein bisschen Gradmesser ist und die ohnehin aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Entwicklung des präfrontalen Cortex eine mangelnde Impulskontrolle hat.

Norbert Reichel: Andererseits leben es vielleicht manche Erwachsene einfach vor.

Benjamin Limbach: Es hat auch damit zu tun, wie sich Eltern zu Hause äußern, was sie ihren Kindern für Einstellungen vermitteln. Es gab diesen schrecklichen Vorfall, als ein Mann an einer Tankstelle den dort tätigen jungen Menschen einfach erschoss, weil dieser ihn bat, eine Maske zu tragen. Wenn man die Berichte liest, drängt sich der Eindruck auf, dass wir es mit Leuten zu tun haben, die von der Komplexität des aktuellen Lebens einfach überfordert sind. Erschreckend ist die sinnlose Gewalt, die sie offenbar als Konsequenz daraus ziehen.

Norbert Reichel: Und dann auch noch Zugang zu Waffen haben.

Benjamin Limbach: Dieses Gefühl einer Überforderung ist ein gesellschaftliches Problem. Es fehlt an vielen Stellen aber wohl auch der Kitt einer Gesellschaft, wenn viele Menschen nicht mehr den Eindruck haben, selbstwirksam handeln zu können.

Körperlichkeit

Norbert Reichel: In anderen Ländern haben extrem aggressive Menschen vielleicht die Möglichkeit, sich einer Miliz oder – wie in Frankreich – der legendären Fremdenlegion anzuschließen und da auszutoben. Zu anderen Zeiten ohnehin. Norbert Elias hat dieses Phänomen schon 1939 in seinem Klassiker „Der Prozess der Zivilisation“ beschrieben. Zivilisation hat viel mit Affekt- und Impulskontrolle zu tun und diejenigen, die dies nicht schaffen, werden je nach der Zeit, in der sie leben, entweder Kriminelle oder Landsknechte und Söldner diverser Armeen und Milizen, bei denen die Missachtung der Affektkontrolle sozusagen zum Berufsbild gehört.

Benjamin Limbach: Du sprichst etwas Richtiges an. Wo finden wir Möglichkeiten, wo junge Menschen Emotionen, Aggressionen rauslassen können? Wir haben bei Corona gesehen, was es bedeutet, dass die Fitnessstudios, die Sportclubs schließen mussten.

Norbert Reichel: Da fehlt so etwas wie die Erfahrung regulierter Körperlichkeit. Ich plädiere dafür, dass junge Menschen in der Schule Kampfsport lernen, auch Boxen. All das müsste es als Schulsport geben. Ich denke, dass beim Boxen, beim Karate, beim Judo junge Menschen lernen, ihren eigenen Körper einzuschätzen, was sie mit einem Schlag anrichten können. Es gibt da sogar gute Erfahrungen, vor allem im migrantischen Milieu, wo junge Männer über den Kampfsport lernten, sich zu disziplinieren. Gefordert werden allerdings gelegentlich Selbstverteidigungskurse für Mädchen. Das halte ich auch für richtig, allerdings braucht eine effektive Selbstverteidigung jahrelanges Training. Das lernt man nicht in wenigen Schulstunden. Zur Kontrolle des eigenen Körpers gehört auch die Fähigkeit, einfach wegzulaufen, körperliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. Aber dazu muss man seinen Körper und seine Möglichkeiten kennen.

Benjamin Limbach: Ich bin da bei dir. Das Problem ist vielleicht der Begriff „Kampfsport“. Der ist negativ konnotiert. Und dann denken viele an anrüchige Einrichtungen in Bahnhofsgegenden und an zwielichtige Keller. Aber es geht ja, wie du sagst, darum sich zu kontrollieren, zu disziplinieren, Gewalt und Aggression zu kanalisieren. Wenn du dich ausgepowert hast, spürst du das körperlich und geistig, und ich kann mir gut vorstellen, dass guter Kampfsport sehr hilfreich wäre. Solche Sozialprojekte sollten wir immer unterstützen, natürlich sollten es auch die richtigen machen.

Der schützende Rechtsstaat

Norbert Reichel: Ein sehr schwer zu greifender Bereich der Kriminalität ist die Hasskriminalität. In Nordrhein-Westfalen gibt es inzwischen Meldestellen, die erste war eine Meldestelle für Antisemitismus (RIAS NRW), die bei einer jüdischen Einrichtung angesiedelt ist, als zweite entsteht zurzeit in Köln bei Rubicon e.V. die Meldestelle Queerfeindlichkeit, weitere sind geplant. Die Palette der Meldungen ist relativ weit. Es geht von despektierlichen Äußerungen über ausdrückliche Beleidigungen und Mobbing bis hin zu körperlicher Gewalt. Ich weiß, dass es oft genug heißt, stellt euch nicht so an, und manche Schüler*innen wechseln lieber die Schule als zur Polizei zu gehen, weil sie niemand ernst nimmt. Meine Frage: was kommt bei Polizei und Justiz an?

Benjamin Limbach: Ganz einfach gesagt. Davon bekommen wir zu wenig mit. Ich hatte kurz nach meinem Amtsantritt eine Veranstaltung mit der früheren Opferschutzbeauftragten in Nordrhein-Westfalen, Elisabeth Auchter-Mainz, die 2023 in den Ruhestand gegangen ist. Es war eine Veranstaltung mit der Staatsanwaltschaft in Köln und mit der LSBTIQ*-Community. Thema war eine antidiskriminierungsfreie Justiz. Ich habe ein Grußwort gehalten und auch nachher noch mitdiskutiert. Es ist mir ein sehr wichtiges und großes Anliegen, dass wir deutlich machen, dass alle, die zu uns kommen, um Anzeige zu erstatten, oder als Zeug*in auszusagen, auf keinen Fall diskriminiert werden. Ich höre so oft aus Verbänden, dass Leute sagen, ich gehe nicht zur Polizei, ich gehe nicht zur Staatsanwaltschaft, die hören mir eh nicht zu, da werde ich auch wieder diskriminiert, die erkennen mich nicht an.

Es geht in der Rechtspolitik nicht nur um Abwehrrechte gegen Eingriffe in die Privatsphäre. Ein Rechtsstaat muss mehr tun als Möglichkeiten zur Selbstentfaltung zu schaffen wie beispielsweise mit der Ehe für alle. Wir müssen auch ein schützender Rechtsstaat sein. Wer Opfer von Kriminalität wird, muss von uns geschützt werden. Wir müssen die Opfer schützen und die Täter*innen verfolgen. Das muss klar sein.

Der Leitende Oberstaatsanwalt der Stadt Köln hat bei dieser Veranstaltung verkündet, dass sie in der Staatsanwaltschaft Köln jetzt eine Ansprechperson für den Bereich der LSBTIQ*-Menschen einrichten. Wir hatten schon in der vorangegangenen Legislaturperiode Ansprechpersonen für antisemitische Straftaten bei den Staatsanwaltschaften eingerichtet. Wir starten jetzt mit der Ansprechperson zur Queerfeindlichkeit in Köln und wollen damit zeigen: wenn du eine Anzeige erstatten willst, komm zu uns, wir nehmen dich ernst, wir wollen mit dir zusammen gegen Hasskriminalität vorgehen. Das ist gerade auch für Menschen wichtig, die in vergangenen Jahren negative Erfahrungen mit der Justiz gemacht haben.

Deshalb ist mir das Thema Diversität in der Justiz auch so wichtig. Wir müssen deutlich machen, dass in der Justiz Menschen aus allen Gruppen der Gesellschaft arbeiten. Wir sind für die Gesellschaft, wir sind für alle da, nicht nur für mittelalte weiße Männer wie mich…

Norbert Reichel: … oder für alte weiße Männer wie mich …

Benjamin Limbach: … für alle, für Frauen und Männer, für People of Color, für Transmenschen, für Menschen jeder Religionszugehörigkeit, Menschen jeder beliebigen Familiengeschichte. Wir müssen die Anzeigebereitschaft erhöhen! Das ist das eine.

Das andere ist unser Personal in der Justiz. Ich plane weitere Veranstaltungen, gerade zum Thema diverse Justiz, die sich beispielsweise auch an Studierende, an Schüler*innen wenden, um bei ihnen dafür zu werben, dass sie sich für die Justiz interessieren, sich sogar bewerben, damit die Institutionen der Justiz die Vielfältigkeit der Gesellschaft in den Menschen, die dort arbeiten, spiegeln. Bei uns hat jede*r Chancen, jede*r die Möglichkeit für diverse Karrierewege. Warum soll nicht nach mir eine Person of Color Justizministerin sein?

Norbert Reichel: In Thüringen haben wir mit Doreen Denstädt eine. Sie ist die erste afrodeutsche Ministerin in einem ostdeutschen Bundesland, die zweite bundesweit. Vielleicht sollten in Zukunft nicht nur grüne Frauen solche Ämter besetzen. Das täte auch anderen Parteien gut.

Benjamin Limbach: Wir müssen dafür werben, dass sich möglichst viele Menschen verschiedener Herkunft, mit verschiedenen Identitäten, für den Justizdienst interessieren und sich bewerben. Und natürlich auch, dass sie sich in Parteien und in der Zivilgesellschaft engagieren. Aus solchem Engagement wächst gerade bei jungen Leuten oft auch das Interesse für einen bestimmten Berufsweg, warum nicht für einen Beruf in der Justiz.

Aus- und Fortbildung

Norbert Reichel: Diversity ist nicht nur ein Thema der Einstellung, sondern auch eine Frage von Aus- und Fortbildung. Wenn ich mit Innenpolitiker*innen spreche, höre ich oft, dass es in der Ausbildung genügend Inhalte gebe, dass das Problem eher bei der Fortbildung liege und nicht zuletzt bei der Supervision, insbesondere in, bei und nach kritischen Fällen. Die Unterstützung on the job ist das Thema. Wie sieht das in der Justiz aus? Du hast selbst zur Ausbildung von Menschen beigetragen, die sich auf den Justizdienst vorbereiteten.

Benjamin Limbach: Ich war für das Rechtspflegerstudium und für das Studium für den gehobenen Strafvollzugsdienst zuständig. Bei den Rechtspfleger*innen gab es eine Übermacht der juristischen Fächer, aber wir hatten auch andere Fächer wie Kommunikation und Öffentliches Recht, in denen auch Diversität eine Rolle spielte. Im Studiengang Strafvollzug sind das ohnehin wichtige Themen, weil dort auch die Population viel diverser ist als sie das in früheren Zeiten war.

Aber es stimmt: die Ausbildung kann noch so gut sein, wir müssen auch in der Fortbildung Impulse setzen. Dies tun wir über die Fortbildungseinrichtungen der Justiz. Wir haben das Zentrum für Interkulturelle Kompetenz (ZIK), dessen Kolleg*innen in Haftanstalten hineingehen, dort mit den Mitarbeiter*innen besprechen, wie sie mit kulturellen Konflikten umgehen könnten, bei Gefangenen, auch innerhalb der Bediensteten. Diese Angebote wollen wir ausbauen. Ganz wichtig finde ich das auch in der Aus- und Fortbildung der Führungskräfte, denn die müssen das vorleben, offen sein für eine diverse Gesellschaft, eine diverse Mitarbeiterschaft.

Norbert Reichel: Wie sieht es mit Angeboten der Supervision aus? Dazu gehört meines Erachtens auch psychologische Hilfe, gerade in Stresssituationen.

Benjamin Limbach: Wir haben Supervisionsangebote, auch Angebote der kollegialen Beratung. All dies setzt aber auch eine entsprechende Bereitschaft zur Teilnahme voraus. Fortbildung und Supervision kann man nicht verordnen. Gegen den Willen der Leute ist das in der Regel erfolglos. Mich treibt die Frage um, wie bringe ich die richtigen Leute in die Fortbildung? Oft sitzen da – beispielsweise bei der Fortbildung von Führungskräften – erst einmal Leute, die das ohnehin schon können. Die interessieren sich für das Thema, du hättest aber auch gerne Leute in dieser Fortbildung, die aber nicht wollen.

Ziviler Ungehorsam und die „Letzte Generation“

Norbert Reichel: Ich würde mit dir gerne über das Thema des sogenannten Zivilen Ungehorsams sprechen. Du hast im November 2022 im Bayerischen Rundfunk mit einer Aktivistin der Letzten Generation diskutiert. Ziviler Ungehorsam ist das, was die machen eigentlich nicht. Das wäre eher das, was der Urvater des Zivilen Ungehorsams, Henry David Thoreau tat, als er sich weigerte, Steuern zu zahlen. Die Letzte Generation blockiert, ähnlich wie vor etwa 40 Jahren Menschen die Zufahrt zu Militäreinrichtungen blockierten, um gegen den sogenannten Nachrüstungsbeschluss zu demonstrieren. Auch damals wurde dies unter dem Stichwort der Nötigung debattiert.

Benjamin Limbach: Als Justizminister äußere ich mich nicht zu konkreten Fällen, sondern nur sehr allgemein. Ich glaube, dass es auch in der Justiz Kolleg*innen gibt, die hin- und hergerissen sind. Manche Richter*innen mögen durchaus Verständnis für die Aktivist*innen haben. Im Ziel sind wir uns einig: wir müssen dringend etwas tun, um die Klima- und Energiefragen zu lösen, dringend etwas tun, damit Leute auf den Öffentlichen Nahverkehr umsteigen. Diskutieren müssen wir aber über Mittel und Methoden. Wenn ich mit Richter*innen und Staatsanwält*innen spreche, sagen viele, die jungen Leute überschreiten Grenzen. In der Tat: wir müssen das, was eine Straftat ist, auch als Straftat bewerten.

Wir wissen natürlich, dass der Nötigungsparagraph im Strafrecht schwierig und in der Anwendung kompliziert ist. Bei einer Sachbeschädigung ist das leichter, beispielsweise bei der Beschädigung eines Kunstwerks, denn eine solche Beschädigung ist meist einfach als Sachbeschädigung zu bewerten. Wir erwarten alle, dass Straftaten auch als Straftaten verfolgt und beurteilt werden müssen. Das ist die Aufgabe der Staatsanwaltschaften und der Gerichte. In der Justiz herrscht daher die Ansicht vor, dass Straftaten von Aktivist*innen der „Letzten Generation“ genauso zu behandeln sind wie Straftaten von anderen Personen auch. Vielleicht gibt es bei der Strafzumessung Spielräume, aber die gibt es in jedem Fall. Das Gesetz schreibt sogar vor, sich die Motivlage zu betrachten. Aber darüber entscheiden die Richter*innen in richterlicher Unabhängigkeit.

Bei der „Letzten Generation“ habe ich erlebt, dass die gar nicht in Frage stellen, dass sie Straftaten begehen. Sie sind bereit, die Konsequenzen ihres Handelns in Kauf zu nehmen. Wir haben das in Bayern erlebt, als sie bereit waren, die 28 Tage der sogenannten „Präventionshaft“ im Gefängnis zu bleiben. Sie hätten diese Präventionshaft sogar richterlich überprüfen lassen können. Das haben sie nicht getan, weil sie diese 28 Tage lieber absitzen wollten, um die mediale Aufmerksamkeit und den politischen Druck zu erhöhen.

Politisch finde ich das, was die machen, eher unsinnig. Es hat viele Menschen gegen den Klimaschutz aufgebracht. Die Zustimmung zur Bekämpfung des Klimawandels sinkt. Das hat nicht nur mit Energiepreisen zu tun, sondern auch mit der „Letzten Generation“, weil das, was die tun, viele Menschen abstößt. Der inzwischen verbreitete polemisierende Begriff „Klima-Kleber“ belegt dies.

Damit mich niemand missversteht: ich befürworte natürlich das Recht zu demonstrieren, die Versammlungsfreiheit, ein wichtiges Grundrecht. Es geht um die politische Bewertung der Methode von Protestierenden. Demokratie bedeutet, dass ich Mehrheiten organisieren muss, vor allem bei Wahlen. Wenn ich jedoch sage, dass mein Ziel so wichtig ist, dass das nicht mehr erforderlich ist, dann wird es gefährlich, denn wer legt fest, welches Ziel legitim ist und welches nicht?

Die Stärke unseres repräsentativ-demokratischen Systems liegt darin, dass es vielleicht etwas länger dauert, aber andererseits dann auch die Anerkennung des Ergebnisses höher ist. Wir erlebten das bei mehreren Fällen. Dazu gehören die Ostverträge, gegen die die CDU so anrannte, an denen sie aber nichts änderte, als sie selbst wieder an der Regierung war, weil die Aussöhnung mit dem Osten in der Gesellschaft eine sehr große Mehrheit hatte.

Norbert Reichel: Einer der heftigsten Gegner der damaligen Ostpolitik, Franz Josef Strauß, sagte im Wahlkampf: „Pacta sunt servanda“.

Benjamin Limbach: Die Entwicklung eines solchen gesellschaftlichen Konsenses nach anfänglich heftigen Debatten haben wir bei der „Ehe für alle“ erlebt, die wird von der Mehrheit akzeptiert. Das gilt für den Straftatbestand der „Vergewaltigung in der Ehe“. Und es gibt viele weitere Themen, die Abschaffung der Prügelstrafe in Schulen, die Abschaffung der Rechte des Ehemannes, seiner Ehefrau eine Berufstätigkeit zu verbieten und vieles mehr. Das haben wir auch beim Atomausstieg erlebt.

Norbert Reichel: Im Fall des Atomausstiegs hast du grundsätzlich recht. Dass dies zurzeit wieder in Frage gestellt wird, hat eher etwas mit dem taktischen Ungeschick der Grünen zu tun und natürlich auch mit dem bayerischen Wahlkampf. Abtreibungsrecht wäre ein Beispiel.

Benjamin Limbach: Auch dieses Thema wird allerdings zurzeit wieder diskutiert. Aber es geht zum Glück nicht um eine Rückkehr in vergangene Zeiten, sondern zum Beispiel um die Frage, ob der Schwangerschaftsabbruch auch in Zukunft im Strafgesetzbuch geregelt werden soll. Wir debattieren auf einer anderen Ebene als zu Zeiten der von Alice Schwarzer initiierten Kampagne vor 50 Jahren.

Grüne Rechtspolitik = liberale Rechtspolitik?

Norbert Reichel: Du weißt, dass ich in den 1970er Jahren, der Zeit, die ich gerne das sozialliberale Jahrzehnt nenne, in dem so wie Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 angekündigt hatte, tatsächlich auch mehr Demokratie gewagt wurde, Gerhart R. Baum, Staatssekretär und Innenminister, sehr bewundert habe. Ich bewunderte auch sehr Burkhard Hirsch sel.A. und nach wie vor Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die aus Protest gegen den sogenannten „Großen Lauschangriff“ ihr Amt als Bundesjustizministerin aufgab. Die drei großen Liberalen haben mit ihrer Klage gemeinsam erwirkt, dass das Bundesverfassungsgericht den „Großen Lauschangriff“ für verfassungswidrig erklärte. Weitere Klagen, die sie beziehungsweise andere, immer unter der Beteiligung von Gerhart Baum erfolgreich durchsetzten, hat Gerhart Baum auf seiner Internetseite dokumentiert. Dazu gehören die Online-Durchsuchung, die Vorratsdatenspeicherung, das Luftsicherheitsgesetz. Gibt es heute überhaupt einen Unterschied zwischen grüner und liberaler Rechtspolitik?

Benjamin Limbach: Ich glaube, dass die Schnittmenge zwischen den von dir genannten liberalen und vielen grünen Rechtspolitiker*innen sehr stark ist. Ich werde ja oft auf meinen sozialdemokratischen Familienanteil reduziert. Ich bin aber auch von einem Vater erzogen worden, der ein ganz großer Fan von Gerhart Baum war.

Ich fange mit den Abwehrrechten an, mit dem Staat, der die Bürger*innen vor staatlichen Eingriffen schützt, der ihnen Freiräume gibt. Bei Themen wie beispielsweise dem Großen Lauschangriff oder der Vorratsdatenspeicherung sind wir uns sehr nahe. Auch bei der Frage, welchen Raum der Rechtsstaat den Bürger*innen gibt, sich zu verwirklichen. Dazu gehört die „Ehe für alle“. Welchen guten Grund soll es geben, zwei Männern oder zwei Frauen zu verbieten zu heiraten, warum soll die Ehe immer nur zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen werden können. Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass es keinen solchen Grund gibt, muss ich als Rechtsstaat diesen Raum schaffen. Eine dritte Dimension ist die Frage, dass ich die Bürger*innen nicht nur vor dem Staat, sondern auch vor den An- und Übergriffen anderer Bürger*innen schützen muss, vor Gewalt, vor Hass.

Ich erinnere mich an einen Artikel von Gerhart Baum, in dem er der FDP vorwirft, sie habe diese ihr eigene Felder und andere, darunter den Umweltschutz den Grünen überlassen.

Norbert Reichel: Das sagte er im Februar 2023 in einem Streitgespräch mit Linda Teuteberg in der ZEIT. Linda Teuteberg vertrat den klassischen neoliberalen Ansatz, der Staat müsse auf seine Kernaufgaben reduziert werden und stellte beispielsweise in Frage, ob es eine Aufgabe des Staates wäre, ein Demokratiefördergesetz umzusetzen. In dem Interview sagte Gerhart Baum auch, dass das liberale urbane Bürgertum in Köln zu 30 Prozent die Grünen gewählt habe, nur zu 6 Prozent die FDP, weil die FDP diese, ihr eigentlich ureigene Klientel nicht mehr erreiche.

Benjamin Limbach: Ein entscheidender Punkt der Abwehrrechte ist es, alle staatlichen Eingriffe immer einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen. Ist das geeignet, was der Staat tut, ist es erforderlich, ist es angemessen? Dies ist ein Denken, das viele Rechtspolitiker*innen bei den Grünen, in der FDP und auch in anderen Parteien haben. Das sind Punkte, in denen es jederzeit eine gute Zusammenarbeit geben kann. Das merken wir auch bei der so viel gescholtenen Ampelkoalition. Grüne und FDP sind da bei mehreren Themen ganz nah beieinander. Es geht in den Diskussionen um Nuancen. Beispielsweise beim Selbstbestimmungsgesetz. Es geht darum, dass non-binäre Menschen selbst entscheiden und diese Entscheidung nicht in die Hände von Gutachter*innen gelegt wird. Es geht um einen liberalen Rechtsstaat, der nicht reglementiert, sondern Selbstentfaltung ermöglicht und die Menschen bei und nach ihrer Entscheidung schützt.

Norbert Reichel: Die gleiche Debatte haben wir in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs. Entscheidet die schwangere Frau selbst oder muss sie die Entscheidung Gutachter*innen oder Berater*innen überlassen? Das sind natürlich auch alles Fragen, die bei manchen Menschen gefühlsmäßig ans Eingemachte gehen, im Pro wie im Contra.

Benjamin Limbach: In diesen Punkten gibt es zwischen Rechtspolitiker*innen der Grünen und der FDP nach meinem Dafürhalten auch Schnittmengen, es dürften sich immer Kompromisse finden lassen. Aber das gilt auch für andere Parteien. Da hat sich sehr viel bewegt. Das sieht man auch am Koalitionsvertrag zwischen CDU und Grünen in Nordrhein-Westfalen. Es ist nicht so, dass die CDU immer nur konservative Rechtspolitik betriebe. Bei der „Ehe für alle“ haben im Bundestag viele Politiker*innen der CDU und der CSU dafür gestimmt. Das hätte man sich Jahre zuvor nicht vorstellen können. Politikerinnen wie Ursula von der Leyen haben sich immer für eine liberale Rechtspolitik verwendet. Vielleicht sind in der Rechtspolitik die Extreme auch nicht mehr so stark wie in früheren Jahrzehnten.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2023, Internetzugriffe zuletzt am 18. April 2023.)