Friedensethik angesichts des Ukrainekrieges

Eine Rede zur Solidaritätsveranstaltung „Frieden und Freiheit für die Ukraine“

„Die Frucht der Gerechtigkeit wird Frieden sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit auf immer.“ (Jes. 32,17)

Seit zwei Jahren hören wir jeden Morgen von Bomben, Raketen und Drohnen in der vorangegangenen Nacht, die in der Ukraine Opfer fordern. Wir hören zunehmend authentische Berichte und sehen die Bilder des Schreckens. Seit zehn Jahren kämpfen und sterben Ukrainer, die ihr Land verteidigen, von dem Präsident Putin vor zwei Jahren offen bekannte, dass er es von der Landkarte verschwinden lassen will. Täglich sterben Zivilisten und wird lebenswichtige Infrastruktur der Ukraine zerstört. Seit zehn Jahren herrschen in den von Russland besetzten Gebieten Terror und Zwang, Mord und Vergewaltigung. Mehr als 20.000 Kinder wurden entführt und zwangsadoptiert, um sie ihrer Identität zu berauben und zu russischen Patrioten zu machen. Butscha ist zum Symbol für dieses Leid der russischen Besatzung geworden.

Unsere Begriffe stimmen nicht mehr

Vor zwei Jahren merkten wir in Deutschland und in der EU – manche hatten früher schon darauf hingewiesen: Unsere Vorstellungen und Begriffe von Frieden und Sicherheit stimmen nicht mehr! Wir waren geprägt von den Worten Willy Brandts: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Das stimmte ja unter den Bedingungen der gegenseitigen nuklearen Bedrohung des Kalten Krieges. Und die notwendige Entspannungspolitik und der KSZE-Prozess trugen zum Ende des Kalten Krieges bei. Dann endete er. In Ostmittel – und Südosteuropa setzten sich Freiheit und Demokratie durch. Das Jahr 1989 veränderte nicht nur den Osten, sondern ganz Europa. Wir in Deutschland hatten vor 35 Jahren die Friedliche Revolution, welche das Tor öffnete für die Deutsche Einheit.

Wir Ostdeutschen und die neuen Demokratien hatten bald oder nach einigen Jahren die Chance, in der EU und in der Nato gemeinsam in Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie zu leben. Die Kirchen in der DDR hatten sich 1988/89 in der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung für einen „gerechten Frieden“ ausgesprochen – ein Begriff, der fortan die christliche Friedensethik prägte.

Das Ende des Kalten Krieges war mit großen Hoffnungen verbunden, was Frieden und Sicherheit betrifft. Ost und West reichten sich im Herbst 1990 in der „Charta von Paris“ die Hände und bekannten sich zu den Menschenrechten und zum Völkerrecht als Grundlage der internationalen Beziehungen. Eine Friedensdividende schien möglich, um sich den anderen globalen Herausforderungen zuzuwenden und die finanziellen Mittel in diese Bereiche umzuschichten.

Die Hoffnungen auf ein Zeitalter des Friedens erfüllten sich nach 1990 nicht. Der Schock kam schon 1991 und begann auf dem Balkan. Die Älteren werden sich erinnern, als plötzlich die Frage im Raum stand, was wir tun können und sollten, um dem serbischen Präsidenten Milosevic Einhalt zu gebieten, die bisherigen Bruderstaaten in Jugoslawien und dann insbesondere das Kosovo mit Krieg und Vertreibung, also mit „ethnischer Säuberung“ – wie es damals hieß – zu überziehen.

Ich erinnere mich an viele Gespräche und Diskussionen in der ganzen Gesellschaft, in den Parteien und auch in unseren Kirchen, in denen wir darum gerungen haben, was in einer solchen Situation ethisch geboten ist. Der Schutz von Menschen war hier die zentrale Aufgabe, die wir als internationale Aufgabe neu definieren mussten. Die Vereinten Nationen sprachen hier von der Schutzverantwortlichkeit, der „responsibility to protect“.

Die Frage war, ob die Bundeswehr sich an militärischen Einsätzen beteiligen sollte, um Milošević zu stoppen und an weiteren Verbrechen zu hindern. Schon Anfang der 1990er Jahre bin ich dann für unsere Beteiligung daran eingetreten, war ich doch überzeugt, dass wir uns dieser Verantwortung nicht entziehen dürfen.

Wir tun uns schwer

Seit zwei Jahren sind wir mit den Überfall Russlands auf sein Nachbarland, die Ukraine, konfrontiert. Angesichts dieses umfassenden Krieges gegen ein ganzes, riesiges Land mit seiner Zivilbevölkerung sprach der Kanzler von der Notwendigkeit einer Zeitenwende. In dieser konkreten Situation, die an den deutschen Überfall auf Polen vor 85 Jahren erinnert, gehört nun alles auf den Prüfstand, was wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten als Orientierung gewonnen hatten.

„Keine Waffen in Krisengebiete“ zum Beispiel war uns ein wichtiges Prinzip geworden. Was aber nun, wenn das Opfer eines Angriffskrieges, heute die Ukraine, sich ohne Waffen nicht wehren kann? Können wir dafür die Verantwortung übernehmen, dass dieses Volk sich nicht verteidigen kann und deshalb unterworfen, seiner Eigenständigkeit und Unabhängigkeit beraubt wird und unmenschliche Verbrechen an den Menschen dieses Volkes begangen werden? Dürfen wir da einfach zusehen? Im zivilen Recht kann man auch wegen „unterlassener Hilfeleistung“ straffällig werden. Lädt man nicht auch international in solchem Fall Schuld auf sich?

Auch wir treten – damals wie heute – für den Frieden ein und als Christen beten wir für ihn. Doch gilt es zu sagen, welchen Frieden wir meinen! Frieden ist mehr als das alleinige Schweigen von Waffen. Uns wird heute mehr und mehr klar: auch ein Waffenstillstand zur falschen Zeit kann die Zukunft eher verbauen als eröffnen. Der Frieden, den wir suchen, ist auch nicht die „Pax Romana“ – so nannten die alten Römer ein erobertes und damit befriedetes Gebiet oder Land. Ein Frieden also, in welchem denen, die dort leben, Freiheit und Möglichkeiten selbstbestimmten Lebens genommen sind. Das aber ist nicht der Frieden, der Shalom, von dem die Bibel und auch Jesus sprechen. In diesem ist eingeschlossen, dass die Verhältnisse dem Menschen in seiner Geschöpflichkeit, in seiner Gottesebenbildlichkeit und damit seiner Würde entsprechen und gerecht werden.

Friedenshandeln ist nicht einfach die Umsetzung scheinbar fester Prinzipien wie das der Gewaltlosigkeit ist, sondern muss auf die oft komplexe Situation bezogen ganz konkret menschendienlich sein. Auch unsere große Erfahrung, unsere gewaltlose, friedliche Revolution von 1989, die so viel an Zukunft eröffnet hat, ist kein Schema, das einfach übertragen werden kann. So kann es geschehen, dass wir vor der Wahl stehen zwischen Pest und Cholera, und deshalb tun wir uns verständlicherweise so schwer.

Wissend, dass Krieg und militärische Gewalt immer unschuldiges Leid mit sich bringen, kann es doch geboten sein, zur Durchsetzung des Rechts und zum Schutz von Menschen auch Gewalt, also militärische Mittel einzusetzen. Die Friedensdenkschrift der EKD hat dies dann im Jahr 2007 nach intensiven Diskussionen auch so gesehen. Und gleichzeitig bleibt die Orientierung darauf, der Option für Gewaltlosigkeit den Vorrang zu geben, wenn auch so die entsprechenden Ziele zu erreichen sind. Doch sind sie es heute?

Wer wünschte nicht, es wäre einfacher. Und so stellen wir fest, dass sich Menschen unter dem Evangelium unterschiedlich entscheiden. In der Frage der Waffenlieferungen und dem Sinn von Verhandlungen in dieser Situation gibt es in unserer Gesellschaft und in unseren Kirchen verschiedene Positionen. Das müssen wir gegenseitig aushalten und dann doch beieinanderbleiben – im Bekenntnis von Schuld, die wir nicht vermeiden können. Denn das ist deutlich: Die Verweigerung der Beteiligung, etwa durch Waffenlieferungen, ist auch kein „Waschen der Hände in Unschuld“! Auch das Nichthandeln, das andere Tod und Verbrechen aussetzt, bedeutet Schuld. Gleichzeitig gilt es, beieinander zu bleiben im Streit um den rechten Weg, im Gebet um Frieden und in der Hoffnung auf ihn. Gleichzeitig aber gilt es zu handeln! Und eben auch zu entscheiden!

Mit der Russischen Orthodoxen Kirche verbinden uns seit Jahrzehnten bestehende Dialoge und Kontakte. Was aber nun, wenn deren Patriarch Kyrill den Angriffskrieg unterstützt und regelrecht zum „heiligen Krieg“ erklärt? Gewiss, es gibt glücklicherweise in Russland und in der Russisch-Orthodoxen Kirche auch andere Positionen, aber es sind wenige und sie haben es sehr schwer, die Stimme zu erheben und gehört zu werden! Wie gehen wir heute in der Ökumene damit um? Wo ist Dialog noch möglich und wo versagt er?

Auf der Seite der Opfer

Müssen wir uns nicht an die Seite der Opfer stellen und helfen, dem Aggressor in den Arm zu fallen mit allen Möglichkeiten, die uns dafür zur Verfügung stehen? Dietrich Bonhoeffer rief den Kirchen seiner Zeit zu, dass es nicht nur christliche Aufgabe ist, den unter die Räder Gekommenen zu helfen, sondern dem Rad in die Speichen zu greifen – und den Bösen selbst zu hindern. Eigentlich müssten wir die Ukraine, das Opfer, selbst mit verteidigen – was wir (anders als damals bei Milošević in den 1990er Jahren) nicht können, weil Russland Nuklearstaat ist. Ich gestehe, ich bin der Überzeugung, dass wir dann aber der Ukraine alles geben müssen, was es braucht, um sich zu verteidigen, einschließlich weitreichender Waffen wie dem „Taurus“ und auch Flugzeugen und Abwehrwaffen, die den Russen die Lufthoheit über der Ukraine nehmen.

Es gilt auch zu sehen: Wir sind ja im Grunde auch selbst betroffen – will Russland ja nicht nur die Ukraine unterwerfen, sondern auch die auf Völkerrecht beruhende internationale Weltordnung zerstören. Man schaue sich einmal die Landkarte an, was es bedeuten würde, der Aggressionsstaat Russland würde siegen und sich die Ukraine einverleiben. Wir könnten uns ausrechnen, wer die nächsten Opfer sind. Ich bin überzeugt – was wir heute nicht zu tun bereit sind, kostet heute schon Menschenleben, wird morgen nicht nur teurer, sondern erfordert dann auch weit größere Opfer, in der Ukraine und wohl auch darüber hinaus!

Doch die Ukraine braucht nicht nur militärische Hilfe! Und wir müssen natürlich auch über die militärische Dimension hinausschauen. Frieden betrifft weit mehr! Die Ukraine braucht die Unterstützung für die Hunderttausenden Flüchtlinge und wir sind dankbar für die vielfältige Hilfe, die sie in unserer Gesellschaft und auch in den christlichen Gemeinden erfahren! Gleichzeitig halte ich es für einen politischen Fehler, dass nicht auch Russen und Belarusen, die als Demokraten oder Wehrdienstverweigerer diesen Diktaturen entfliehen, die gleichen Möglichkeiten bei uns erhalten wie die Ukrainer. Die Ukraine braucht langfristig verlässliche Hilfe für den Wiederaufbau, für Stabilität und Sicherheit – und das schaffen wir nur durch die Integration in die EU und auch in die NATO. Dies sollten wir schon heute so deutlich sagen und vorbereiten! Nicht alles wird öffentlich finanziert werden können – und private Investitionen wird es nur geben, wenn die Sicherheit gewährleistet ist. Die Ukrainer brauchen eine Partnerschaft auf Augenhöhe und die Anerkennung des Rechts der Menschen, in Würde zu leben und zu uns zu gehören.

Eine Ethik des Friedens kann keine Rezepte liefern, die einfach nur anzuwenden sind. Dietrich Bonhoeffer war sich nach intensivem Ringen um den rechten Weg am Ende seiner Sache sehr sicher, im konkreten Jetzt das Nötige zu tun. Dietrich Bonhoeffer war in den 1930er Jahren immer mehr im Hören auf die Bergpredigt zum Pazifisten geworden war, entschlossen, den Wehrdienst zu verweigern. Dabei war klar, darauf stand unter Hitler die Todesstrafe. Schließlich aber entschied er sich anders. So unterstützte er im politischen Widerstand gegen Hitler das geplante Attentat – wissend um die Schuld, die man so auf sich lädt. Aber er hielt dies dann doch nicht nur für vertretbar, sondern für geboten. Er trat dafür ein, den Mörder an weiteren Morden zu hindern.

Die Kirche seiner Zeit hat dies – und damit auch ihn damals, deshalb scharf kritisiert und seinen politischen Weg abgelehnt. Wir sehen das heute anders. Im Tun des als rechtens Erkannten gibt es keine letzte Sicherheit – und als Christ sage ich, es gibt aber die Zuversicht und die Bitte an Gott, dass er sich unser erbarme. Im Bundestag sprach zum Holocaust-Gedenken der Sohn eines Überlebenden, Marcel Reif. Er erzählte davon, dass sein Vater über seine Erfahrungen im KZ kaum gesprochen habe. Aber eine Botschaft habe er ihm weitergegeben – „Sei ein Mensch!“ Menschsein aber heißt: Mitmensch sein! Ein Mensch, der Verantwortung übernimmt und sich dem Mitmenschen zuwendet und ihm beisteht. Ein Mensch, der beschützt und ihn trägt, wo er kann, der dem friedlichen Zusammenleben dient und nach Versöhnung und Zukunft sucht.

Eigentlich bin ich am Schluss dieser Rede angekommen – möchte aber doch mit dem Stichwort der Versöhnung noch auf ein Thema kommen, dass heute in den Briefen von Ukrainerinnen zur Sprache kam: ich meine den Hass auf Russland und die Russen.

Als Deutscher muss ich bekennen, dass die große Mehrheit meines Volkes in der Zeit des Nationalsozialismus den Krieg und die Verbrechen unterstützt und begangen haben. Der politische Widerstand war klein, denn er war lebensgefährlich – wie das in einer kriegführenden Diktatur so ist. Nur wenige im Westen haben ihn anerkannt – so der mit Dietrich Bonhoeffer befreundete Bischof von Chichester in England, George Bell. Trotzdem haben wir Deutschen in den folgenden Jahrzehnten vielfältige Versöhnung erfahren. Dafür war zentral, eigene Schuld zu bekennen – denn Versöhnung braucht Wahrheit. Und es hat lange Zeit gedauert. Doch gilt das auch für die Zukunft mit Russland – Russland bleibt Nachbar und Versöhnung mit einem demokratischen Russland ist auch hier unsere Hoffnung. Der Weg dahin aber wird weit sein und viele Anstrengungen brauchen.

Heute jedoch gilt es, Sicherheit vor Russland zu gewährleisten und so Frieden zu schaffen. So stehen wir heute unverbrüchlich an der Seite der Ukraine, dem Opfer der russischen Aggression und Verbrechen!

Markus Meckel, Berlin

(Anmerkung: Die Rede hielt Markus Meckel im Rahmen der Solidaritätsveranstaltung „Frieden und Freiheit für die Ukraine“ am 25. Februar 2024 in der Grunewaldkirche Berlin. Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im März 2024, Internetzugriffe zuletzt am 4. März 2024. Titelbild: Firouzeh Görgen-Ossouli.)