Große Lösung und Kinderrechte
Grundlagen der Reform des Kinder- und Jugendhilferechts 2021
Am 27. Mai 2021 hatten wir Gelegenheit, in einer gemeinsamen digitalen Veranstaltung der AG Kinder, Jugend, Schule des Bonner Kreisverbandes der Grünen und des Demokratischen Salons mit Prof. Dr. Christian Schrapper, Erster Vorsitzender des Instituts für soziale Arbeit, und der Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner über die Konsequenzen der Anfang Mai von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Novelle des SGB VIII zu diskutieren, in dem die Aufgaben und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe geregelt sind.
Die Novelle sieht u.a. umfangreiche Beteiligungen von Kindern und Jugendlichen bei der Jugendhilfeplanung, die Überführung der Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche mit Behinderten in den Zuständigkeitsbereich der Jugendämter (sogenannte „Große Lösung“) sowie eine verlässliche Zusammenarbeit der Jugendhilfe mit Schule und Justiz vor. Es gibt enge Zusammenhänge u.a. mit Bundeskinderschutz- und Bundesteilhabegesetz. Die Länder regeln die Umsetzung in Ausführungsgesetzen, eine Aufgabe der nächsten Legislaturperiode in Nordrhein-Westfalen. Die genannten Gesetze haben erhebliche Auswirkungen auf die Kommunen, die Träger der freien Jugendhilfe sowie die Partner der Jugendhilfe, nicht zuletzt die Schulen.
Die von Christian Schrapper vorgestellte Präsentation darf ich verfügbar machen: Einführung.Christian_Schrapper: In der Debatte wurden bei den genannten begrüßenswerten Änderungen auch einige kritische Punkte angesprochen.
- Bisher war es nicht möglich, dass sich im Bundestag die Parteien auf die durch die UN-Kinderrechtekonvention erforderliche Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz einigen. Strittig ist, ob die Kinderrechte in Artikel 2 und damit unter den Persönlichkeitsrechten, in Artikel 6 und somit als Anhängsel der Elternrechte oder als Staatsziel verankert werden sollten. Das SGB VIII geht erheblich weiter und zeigt, wie Kinderrechte durch den umfassenden Beratungs- und Beteiligungsanspruch auf individueller Ebene wie auf der Ebene von eigenständigen Organisationen von Kindern und Jugendlichen (wie Fridays for Future) über ein Spezialgesetz umgesetzt werden können (ausführlich zum Thema Kinderrechte siehe mein Interview mit Katja Dörner mit dem Titel „Vorfahrt für Kinderrechte“).
- Möglicherweise ist es schwierig, das Gesetz mit seinen vielen individuellen Rechtsansprüchen und den erweiterten Verfahren in kleinen Jugendämtern umzusetzen. Es gibt zwar immer wieder Debatten darüber, ob kleine Jugendämter – derzeit möglich für Gemeinden mit mehr als 25.000 Einwohner*innen – die fachliche Differenziertheit, die für die Umsetzung erforderlich wäre, sicherzustellen, doch erwies sich bisher das Beharren vieler Bürgermeister*innen auf ihren Zuständigkeiten durchweg als durchsetzungsstark.
- Schulsozialarbeit ist inzwischen Gegenstand des Gesetzes, doch dürfte die Umsetzung in den Ländern und in den Kommunen schwierig werden, weil beispielsweise in Nordrhein-Westfalen in den letzten zehn Jahren acht verschiedene Rechtsgrundlagen geschaffen wurden, sodass es Schulsozialarbeit im Landesdienst, im kommunalen Dienst und im Dienst freier Träger der Jugendhilfe durch Umwandlung von Lehrerstellen, durch Landeszuschüsse an die Kommunen, mit jeweils verschiedenen Zweckbestimmungen, mit und ohne kommunale Eigenbeteiligung gibt. Eine koordinierte Abstimmung zwischen Angeboten der Jugend- und der Schulsozialarbeit – die eigentlich ein Anwendungsfall von Jugendsozialarbeit ist – gibt es nur dort, wo sich die Kommunen dieser Aufgabe angenommen haben.
- Es ist nicht nur schwierig, das zusätzlich benötigte Personal über die kommunalen Haushalten zu finanzieren, sondern auch, entsprechend qualifiziertes Personal zu finden.
- Last not least: es bleibt abzuwarten, wie Länder und Kommunen sich auf Ausführungsgesetze verständigen. Dabei ist das noch in Bundestag und Bundesrat anhängige Ganztagsfördergesetz ebenso von Belang wie bereits teilweise in den Ländern bestehende Ausführungsgesetze zu Bundesteilhabegesetz und Bundeskinderschutzgesetz. Viele Teile des Gesetzes treten aber unabhängig von den Vorgaben der Länder zur Umsetzung am 1. Juli 2021 in Kraft.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2021, Internetzugriffe zuletzt am 10. Juni 2021.)