Hass und Hetze?

Wir doch nicht – nur die anderen!

Der erste öffentliche Auftritt Robert Ficos nach dem auf ihn verübten Attentat Anfang Juni 2024 wurde mit Spannung erwartet. Genau drei Wochen nach dem Anschlag und drei Tage vor den Europawahlen war es nun soweit. Das fünfzehnminütige Video, das der slowakische Premierminister ohne vorherige Ankündigung auf Facebook veröffentlichte, ist natürlich und zwangsläufig eine politische Inszenierung. Eine Inszenierung allerdings von besonderer Wucht.

Drei Wochen lang kommunizierte der Premierminister nicht selbst. Stattdessen gab es zahlreiche Auftritte verschiedener Kabinettsmitglieder und Äußerungen anderer Politiker aus Ficos Partei Smer. Insbesondere die Pressekonferenzen von Verteidigungsminister Robert Kaliňák und Innenminister Matúš Šutaj-Eštok wiesen einen eigenartigen Charakter auf: Informationen über den Zustand Ficos wurden ausschließlich von diesen Politikern kommuniziert und kommentiert, nicht etwa von den behandelnden Ärzten und Ärztinnen. Kaliňák trat gern im schwarzen T-Shirt auf, was ihm in den Augen einiger Journalist:innen das Aussehen eines Leibwächters verlieh. Die Botschaft war klar: Die beiden Spitzenpolitiker stellten sich vor den verletzten Fico, emotional, engagiert und entschlossen. Zugleich beriefen sie sich in ihren Äußerungen immer wieder auf den Willen des Premiers und dessen offensichtlich unangreifbare Autorität.

Robert Fico wurde auf diese Weise in eine besondere Position gerückt: verletzt und schützenswert, zugleich aber der Bezugspunkt eines jeden gesprochenen Wortes und einer jeden getroffenen Entscheidung. Fico wurde auch als Grund für aufgeschobene politische Schritte genannt, wie beispielweise das von Staatspräsidentin Zuzana Čaputová und ihrem gewählten Nachfolger Peter Pellegrini vorgeschlagene Versöhnungstreffen aller Parteien. Das Nichtstun, das Warten auf eine Entscheidung des Premiers (das natürlich in einem deutlichen Gegensatz stand zu radikalen Forderungen und Drohungen einiger Regierungspolitiker) überhöhte Fico noch weiter – das Vorgehen der Koalition versetzte das Land in eine Art Schwebezustand, im Schock, in Trauer, paralysiert und verloren ohne das Machtwort des Regierungschefs. Opposition und Medien standen unter einem enormen moralischen Druck, politisches Handeln schien nicht möglich und nicht denkbar.

Fico, der machtbewusste Vollblutpolitiker, gilt schon lange als charismatisch. Jetzt aber erhält diese Beschreibung eine zusätzliche, religös anmutende Überhöhung. Ficos Rolle als zentrale Figur der Partei und der Regierungskoalition ist nicht allein auf seine von der Verfassung vorgesehene Position zurückzuführen. Viel wichtiger ist die Struktur der ihn umgebenden und schützenden Männergesellschaft. Diese wurde schon in der Vergangenheit immer wieder mit mafiösen Mustern oder Gangstrukturen verglichen. Im moralisch aufgeladenen Kontext des Attentats kommt nun noch etwas hinzu: Das Bild einer Gemeinschaft ergebener Jünger, die sich um eine verletzte und zugleich fast übermenschlich starke Heilsfigur scharen.

Wie praktisch eine solche Überhöhung ist, zeigt sich an einem weiteren Aspekt charismatischer Politik. Denn Charisma verleiht die Möglichkeit, sich über die für normale Menschen geltenden Regeln hinwegzusetzen – sanktionslos. Dass dies der Politik von Smer sehr entgegenkommt, wurde in den letzten Monaten bereits mehr als deutlich. Mit verschiedenen teils unorthodoxen, teils grenzwertigen und vor allem unverhohlen antidemokratischen Maßnahmen entsteht hier die Basis für ein autoritäres System, in dem die Kontrollfunktionen von Justiz, Opposition und vor allem Medien zunehmend ausgehebelt werden.

Das Attentat schuf nun die wohl einmalige Möglichkeit, die legislativen und administrativen Maßnahmen durch ein moralisches Argument zu stützen. Kaliňák und Šutaj-Eštok reklamierten für sich nicht nur die Deutungshoheit, sondern auch eine ethische Überlegenheit. Wer ihre Kommunikation problematisierte, Nachfragen zu den Strukturen von Polizei und Sicherheitsdienst stellte oder Genaueres zu Ficos Gesundheitszustand wissen wollte, wurde schnell als Zyniker und Leugner oder gar Befürworter politischer Gewalt diskreditiert. Ficos Video nun griff diese Vorarbeit nahtlos auf. Der Premierminister begann seine Rede mit der Erklärung, keinen Hass zu empfinden und keine Rache zu wollen. Er verzeihe dem Täter.

Unmittelbar mit dem nächsten Satz beginnen dann die Schuldzuweisungen: An die politisch erfolglose Opposition, die feindlichen Medien, die aus dem Ausland gesteuerten NGOs. Der Täter sei nur ihr Bote gewesen, die Verantwortung liege bei ihnen. In einem Rundumschlag kritisiert Fico die EU, die NATO, die „globalen Eliten“, natürlich George Soros und insgesamt den Westen, der angeblich den Krieg gegen die Ukraine künstlich verlängere, die Visegrad-Einheit sabotiere und die Souveränität der Slowakei bedrohe. Kleine Staaten seien durch große Mächte bedroht. Diese allumfassende Verschwörungserzählung zieht ihre moralische Autorität aus dem Attentat und dem Opferstatus Ficos. Der Premier, der seit langem nicht mehr mit von ihm als „feindlich“ kategorisierten Medien spricht, der Journalist:innen und Vertreter:innen der Opposition als „Schweine“ und „Prostituierte“ bezeichnete und sich über Drohungen gegen die Staatspräsidentin lustig machte, stilisiert sich nun zum einzigen Vertreter eines Meinungspluralismus und zum Kämpfer für politischen Frieden.

Mit dieser Rede behauptet Fico, die politische Landschaft der Slowakei befrieden zu wollen und beansprucht damit eine Führungsrolle, die über die Rolle des Premierministers hinausgeht. Die Strategie, die er dafür nutzt, ist gut vorbereitet und so einfach wie wirkungsvoll: Hass, Hetze, Aggression sieht er ausschließlich bei der ihn schon so lange störenden Opposition. Das Attentat gegen ihn gilt als Beweis. Nach Monaten intensiver Arbeit an den Institutionen hat Fico damit den Plan eines autoritären und national exklusiven Systems nun auch ideologisch begründet und an seine Person geknüpft. Die Slowakei war auf dem Weg in ein autoritäres System. Fico beschleunigt und will ganz offenbar noch einen Schritt weiter gehen: In Richtung Führerstaat.

Martina Winkler, Universität Kiel

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juni 2024, Internetzugriff zuletzt am 7. Juni 2024.Das Titelbild zeigte eine der Demonstrationen gegen Fico in Bratislava. Foto: Michal Hvorecky.)