Imperialismus, Nation, Genozid

Russische und russländische Narrative im Ukraine-Krieg

„So musste das Verschwinden der Sowjetunion zwangsläufig eine intellektuelle Krise auslösen: Verloren ging jener riesige theatralisierte Raum, auf den die kühnsten Hoffnungen und die radikalsten Formen der Ablehnung des Bürgerlichen projiziert worden waren. Schon die gewaltigen Dimensionen dieser Projektionsfläche sind einzigartig.“ (Michael Ryklin, Räume des Jubels – Totalitarismus und Differenz, Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 2003)

Arina Nâbereshneva, Der Herr seines Lebens

Konzepte wie „Imperium“ und „Nation“, die wir als Historiker*innen auf dem Ideenfriedhof der Geschichte geglaubt hatten, sind zurückgekehrt. Sie sind nicht nur ein Teil unseres Diskurses über die Gegenwart, an der wir leiden. Sie werden zudem von den Herausforderern unseres friedlichen postmodernen kosmopolitischen Konzeptes des gesellschaftlichen Zusammenseins, wie die Regierung Russlands, als aktive Politik betrieben. Sie sind da handlungsleitend. Das geschieht auf mehreren Ebenen, doch heute wenden wir uns nur einer davon zu – nämlich der Ideologie, die innenpolitisch legitimieren soll, was der russische Präsident und seine Umgebung anrichten: im Nachbarland – menschenverachtende Kriegsgewalt und Kriegsverbrechen, und im eigenen Land – Repression, Jagd auf unerfahrene Männer zur Verschickung an die Front, internationale Isolierung samt Angst und Depression. Um dieses Handeln zu erklären, ja zu verklären, braucht es einen enormen diskursiven Aufwand, und Putin hat auf das gesetzt, was uns womöglich antiquiert vorkommt – auf die Geschichte, die er selbst als „historische Wahrheit“, als Geschichte „wie es gewesen ist“, versteht.

Im Folgenden werde ich die Elemente des gegenwärtigen Geschichtsdiskurses ansprechen und sie in ihrer Entstehungsgeschichte einordnen. Zum zweiten geht es mir um das ambivalente Konzept des Imperiums im russischen Fall, so geht es hier um die äußeren und inneren Zwänge zur Entstehung des russischen Imperiums, und um seine innere Zerrissenheit, die in der Eigenart der russischen Nation als imperiales Projekt liegt. Drittens geht es hier um die Grenzen der Mobilisierungswirkung des Imperiums-Konzeptes, die der Regierung sehr wohl bewusst sind, warum sie auf viel mehr emotionalisierende Begriffe aus dem Zweiten Weltkrieg setzt, wie zuerst und vor allem das Wort Genozid.

Imperiale Narrative

Die aggressive Rhetorik Putins und der Regierung seit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist uns gut bekannt: das sind Aussagen wie „genuin russische Territorien“ in Bezug auf die Ukraine oder die Auffassung der ukrainischen Sprache als Missverständnis und Illusion, so der berüchtigte Satz des russischen Innenministers Peter Bulawin aus dem Jahr 1863: „Die ukrainische Sprache gab es nicht, gibt es nicht und wird es nicht geben“. (damit kommentierte er den Erlass zum Verbot der pädagogischen und religiösen Schriften auf ukrainisch / malorossisch).

Die Logik liegt auf der Hand: in Russlands Krieg wird der heutigen Ukraine das Recht auf ihre Existenz als souveräner Staat abgesprochen, und deswegen soll es auch im Geschichtsbild keine Ukraine geben. Geschichte wird aus dem Diskurs der Gegenwart betrachtet – und vice versa.

Arina Nâbereshneva, Freedom – Funeral

Doch die ideologische Vorbereitung des Krieges begann in Russland nicht erst mit dem 24. Februar 2022. In seinem längeren programmatischen Artikel „Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer“ vom Juli letzten Jahres legte Putin die Weichen für seine Ukraine-Politik fest. Die Kernaussage dieses Textes war, dass die ukrainische Nation eine Erfindung wäre. Dies begründete er mit folgenden Argumenten:

  1. Russen, Weißrussen und Kleinrussen hätten eine gemeinsame historische Herkunft – das Alte ‚Rus‘. Daraus erfolge der gemeinsame Glaube und gemeinsame kulturelle Traditionen und Sprache, was den Zusammenhalt dieser Länder im Großen Russland zu einem organischen Prozess macht.
  2. Das Überleben der Eigenständigkeit der Ukraine hing immer von seiner Nähe zu Moskau ab – wandte sie sich zum Beispiel an Schweden oder Polen zu, begann der Rückfall der Staatlichkeit.
  3. Die Ukraine gab es nicht als Staat – nur Malorossija, das, ins Deutsche übersetzt, Kleinrussland heißt. Aus dieser Etymologie leitete Putin die Hierarchie der „beiden Brüder“ Die gemeinsame semantische Wurzel „rossija“ sollte belegen, dass Ukrainer eigentlich Russen wären.
  4. Die Eliten der Ukrainer – die Kosaken – hätten stets die Vereinigung mit Russland gewollt und unterstützt, nur wurden sie von den ausländischen Kräften stets verführt und in den Abgrund gestürzt.

Allein an diesen wenigen aus Putins Rede herausgegriffenen Argumenten wird deutlich, dass der Ukraine eine Schlüsselstellung in der Geschichtsvermittlung zukommt. Doch die Botschaft von einer historischen Einheit der Russen und der Ukrainer ist nicht alles, was seine imperiale Rhetorik ausmacht. Dazu gehört auch die oft geäußerte Meinung, dass Russland keine Grenzen hätte. Dies ist ein imperiales Konzept per excellence, geht es doch hier um den genuin imperialen (Selbst-)Zwang nach Expansion und um imperiale Denk-Konzepte wie „russkij mir“ („russische Welt“). Diese Idee signalisiert, dass es zumindest im Geiste ein expandierendes Imperium gäbe. Angelegt werden die Prinzipien des Irredentismus. Sie bedeutet, dass ein Raum durch eine bestimmte Idee (diffus) zusammengehalten wird. Diesem grenzenlosen russischen (Denk-)Imperium ist es eigen, dass es bestimmte Werte vertritt, die von den gedachten Gegnern immer angegriffen würden. Die Haltung nach Außen ist zunächst defensiv, im eigenen Land geht man jedoch gewaltsam gegen jene vor, die man als Angriff „auf die traditionellen Bräuche“ (Stichwort LGBTIQ*) auffasst.

In diesem Denken liegt es auf der Hand, dass dieses sich stets expandierende Imperium „ausländische Agenten“ als Feinde hervorbringt: kein echter Russe, so die Deutung, würde sich gegen die genuin „russische“ Traditionen stellen. Der Kampf gegen diese ausländische „Agenten“ ist eine Staatsräson des Imperiums.

Die historische Mission

Zum imperialen Diskurs gehört auch die Vorstellung von einem eigenen Sonderweg und somit von einer historischen Mission. In der Geschichtspolitik wird die imperiale Rhetorik von einer modernisierenden Wirkung der Metropole auf die Peripherien geäußert – und somit von ihrem vermeintlich freiwilligen Beitritt zum Imperium im 18. und im 19. Jahrhundert. hochgehalten. Die historische Mission ist in dieser Deutung immer eine friedliche. Russen werden daran erinnert, dass Russland die Menschen und die Gebiete vom „Bösen“ befreit. Stützen kann sich der Kreml auf den Mythos von Russland als friedliches Imperium, dem es (vermeintlich!) komplett an kolonialen Praktiken gefehlt hätte. Die heutigen Nationalstaaten seien aber in ihrer Behandlung der nationalen russischen Minderheiten ungerecht, und Russland hätte die Mission, dieser Ungerechtigkeit das Ende zu setzen. Die Russen werden dort, wo sie keine Mehrheitsnation stellen (Moldau, Baltikum, nun auch die Ukraine), zum trojanischen Pferd der Expansion, im heutigen Schlachtruf formuliert „Wir lassen die Unsrigen nicht im Stich“.

Arina Nâbereshneva, War

Nicht zuletzt haben wir es mit dem Phänomen zu tun, dass der Staatschef sich als Historiker gibt. Er tut es unaufgefordert, und überschreitet somit seine Kompetenzen als (vermeintlich) demokratisch gewählter Präsident eines modernen Nationalstaates.  Auch das ist eine imperiale Taktik, die uns aus der Imperiengeschichte bekannt ist. Die aufgeklärte Kaiserin Katharina II. war auch jene Empress, die sich über die Geschichtsschreibung Gedanken machte – und nicht zuletzt war sie von allen Monarchen die Person, unter der das russische Reich am breitesten und schnellsten expandierte.

Brandgefährlich wird diese Inszenierung des Staatschefs als Historiker dann, wenn der Historiker zum Re-Enactor, als zum historischen Re-Konstrukteur wird. So, wie Putin sich am 21. Februar 2022 mit Peter dem Großen (dem ersten gekrönten russischen Imperator) verglich und sich selbst als „Sammler der Länder des Historischen Russlands“ darstellte.

Putinsche Geschichtspolitik bewegte sich bis 2012 vor allem im Diskurs zur Stärkung des russländischen Nationalismus, den man im offiziellen Sprech als „Patriotismus“ bezeichnete. Seine Rhetorik auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 markiert das erste Mal, dass die Revision der „gemeinsamen Vergangenheit“ im Geiste der „Sammeln der historischen Länder“ recht deutlich ist. Das war der Gipfel, in dem die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO in Aussicht gestellt wurde. Hier ist bereits sichtbar, dass die Ukraine für Putin ein Dorn in der Entstehung der russischen Nation ist.

Es bedurfte einer enormen Gedankenakrobatik, um den Krieg (der zu Beginn noch eine „Sondermilitäroperation“ hieß) als frühneuzeitliche Praxis des Sammelns der Länder der Rus‘ zu verkaufen. Offensichtlich kann es für Putin nicht weit genug in die Geschichte gehen: in den neuesten Bildungsmedien soll die „Militäroperation“ mit der Christianisierung der Rus‘ im 10. Jahrhundert und Putin mit Alexander Newski verglichen werden.

Dieser re-konstruierende Diskurs wurde vor acht Jahren, im Jahr 2014, tatsächlich handlungsleitend für die russische Innen- wie Außenpolitik. Der imperiale Nationalismus, d.h. die Inklusion aller Russen im neu projizierten neuen Imperium, der also eine tatsächliche territoriale Expansion zur Folge hat, ist spätestens seit der Krim-Annexion auf der Tagesordnung. Es werden beachtliche geschichtspolitische Ressourcen aktiviert, so die Erinnerungsaktionen an Vladimirs Christianisierung der Rus‘ im Jahr 988, Revolutionserinnerung als Versöhnungsaktion auf der Krim und vieles mehr. In dieser Zeit begann die Forcierung des Diskurses der Wiederherstellung des Imperiums: praktisch und ideologisch. Putin nutzte das revolutionäre Chaos nach den Maidan-Protesten 2014, annektierte die Krim und provozierte einen bewaffneten Konflikt im Donbass, der zu einem hybriden Krieg Russlands gegen die Ukraine eskalierte. Gleichzeitig tauchte das „Noworossija-Projekt“ wieder auf: Im April 2014 verkündete Putin in einer Live-Schaltung eine weitere historische Entdeckung, indem er Donezk, Luhansk, Charkiw, Nikolajew, Cherson und Odessa als „Noworossija“ bezeichnete und erneut seine Verwunderung über die „Übergabe“ dieser Gebiete durch die Bolschewiki an die Ukraine zum Ausdruck brachte.

Wenn im Diskurs Putins sehr viel Imperiales steckt, dann müssen wir wohl an die Ursprünge des imperialen Gedankens gehen, d.h. ihn in der Zeit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert einordnen.

Voranstellen möchte ich, dass ich die Begriffe wie Imperium, Russifizierung, Kolonisierung analytisch und nicht normativ verwende. Außerdem übertragen wir als Historikerinnen und Historiker nicht die Diskussionen der Gegenwart in die Vergangenheit – sonst hat es keinen Sinn, sich mit Geschichte zu befassen. Das ist vor allem wichtig, weil wir im Westen in unserer Kritik an Putin meinen, dass Russen zum imperialen Weg verdammt sind und an einem post-imperialen Syndrom leiden. Das bedeutet eine selbstunkritische Übernahme des Putin-Diskurses des russischen Sonderweges, von Russland als etwas Einzigartigem, von Russland als Nicht-Europa. Ich glaube, dass wir im Gegenteil den Putin‘schen Diskurs von der (vermeintlichen) Wiederherstellung des Imperiums historisieren und somit im wahrsten Sinne des Wortes entwaffnen sollten.

Zudem wäre zu fragen, wie aufrichtig Putin selbst an die Wiederherstellung des Imperiums glaubt? Sicher weiß er, dass sein Staat, die Russische Föderation in der russischen Verfassung als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion festgeschrieben ist, (und in der Sowjetunion sowohl das Imperium als auch der Imperialismus negativ besetzte Begriffe waren). Zudem können wir diesen Diskurs nicht als Leitmotiv der gesamten Regierungszeit Putins sehen. Es geht ihm vor allem um die Stabilität seiner eigenen Herrschaft und um seine Angst um innerrussische Umwälzungen, (Farbrevolutionen), um wirtschaftliche Profite und um seinen selbstsüchtigen Wunsch, in die Geschichte einzugehen. Ich denke, in seinen Ausflügen ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit steckt der Putinsche Zynismus, den er sowohl den russischen Adressaten als auch dem Westen geschickt verkauft.

Zivilisierung – Russifizierung

Es gehört zur Spezifik russischer Geschichte, dass Imperium und Nation zwei miteinander verbundene Begriffe sind. Daher ist es wichtig, dass wir jetzt in das 18. Jahrhundert, in die Zeit der Geburt des Russländische Imperium gehen und uns fragen, was sich im Jahr 1721 änderte – neben der Selbstbezeichnung als „Imperium“. Wenn heute der Kreml also über den Mythos von Russland als ein friedliches Imperium, dem es komplett an kolonialen Praktiken fehle, spricht, was sagt uns die Historiografie dazu?

Arina Nâbereshneva, Target

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte Russlands als Imperium ist die Politik der Russifizierung, d.h. eine systematisch geplante Nationalitätenpolitik der Regierung. Ist sie mit brutaler physischer Unterwerfung einhergegangen, hatte sie etwa das Ziel verfolgt, den Minderheiten ihre kulturelle Hegemonie aufzunötigen?

Tatsächlich sahen russische und westeuropäische Historikerinnen und Historiker das Zarenreich auf einem ganz anderen Pfad als andere europäische Kolonialreiche. Während sie in den westlichen europäischen Überseereichen eine auf rassischer Ideologie geleitete Assimilierungspraktiken sahen, stellten sie Russlands vermeintlich philanthropische und humanistische Mission dem gegenüber. Doch die wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen: Russlands Praktiken der Zivilisierung und Assimilierung weisen zahlreiche Parallelen zu Denkweisen und Verhalten anderer europäischer Kolonialreiche auf.

Viele Geschichten der Begegnung der Kolonisierer mit der indigenen Bevölkerung in Sibirien ähneln durchaus dem, was wir aus Nord- und Südamerika kennen. Die russischen Reisenden brachten hinter den Ural Alkohol, Tabak und Rücksichtslosigkeit in ihrem „Reisegepäck“ mit. Die Einstellung war durchaus rassistisch, wie Jörn Happel in seinem Aufsatz über Reisende im Sibirien des 18. Jahrhunderts schon im Titel notiert: „Unter ‚Ungeziefer und Wilden‘“ (in: Jahrbücher der Geschichte Osteuropas, Band 61, 2013). Sibirien-Reisende berichteten in ihren Reiseberichten von Unzucht und Hurerei im Osten – sie beteiligten sich selbst an der sexuellen Ausbeutung einheimischer Frauen und schufen das Bild von wilden Schönheiten aus dem Osten. Hier beginnt der russische Orientialismusdiskurs, der sich kaum von der Analyse unterscheidet, die Edward Saïd als paradigmatisches Konzept westlichen Denkens formuliert hat. Wie im Westen hatte auch die Aufklärung im Osten ihre Schattenseite.

Wenn wir die Praktik der Veränderung der Lebensform von den nicht-christlichen, nicht-sesshaften Völkern betrachten, so kann man auch im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts am Beispiel Sibiriens sehr wohl eine gewaltsame Kolonialisierung erkennen. Auch deren Rechtfertigung gleicht den Argumenten der Conquistadores in Südamerika: es ist der Diskurs der eigenen Überlegenheit gegenüber anderen Völkern, die als nicht-christlich, nicht sesshaft, nicht gebildet nach der Norm der Eroberer, nicht kultiviert waren und deshalb dem Heil zugeführt werden mussten, das ihnen durch die Kolonisierung gebracht wurde.

Die Schattenseite der Aufklärung formte den Diskurs der eigenen Überlegenheit gegenüber den sibirischen Völkern, die vor allem auf ihre „Defizite“ hin beschrieben und behandelt wurden: Sie waren in diesem Diskurs nicht-christlich, nicht sesshaft, nicht-gebildet und nicht-kultiviert.

Wie entstand diese imperiale Praxis in Russland in Bezug auf andere Kolonien? Wie vieles an der Schwelle zur Neuzeit kam der Impuls aus dem Westen – mit der (Früh)Aufklärung. Es resultierte aus dem Anspruch Peters I., das eigene Land zur Gruppe der zivilisierten Völker zu zählen. Vor dem 18 Jahrhundert, bevor also Peter das Fenster nach Europa öffnete, hatte das russländische Reich weder eine Zivilisierungs-, noch eine Assimilierungspolitik verfolgt. Nach den russischen Bojaren – russischer Elite – sollte auch das „gemeine Volk“ zivilisiert und kultiviert werden. Die Praxis der Zivilisierung zu Beginn des 18. Jahrhunderts unterschied nicht nach Russe oder Nicht-Russe: alle müssten die Verwestlichung akzeptieren. Unter Katharina II., mit der Stärkung des westlichen Ideen-Transfers, wurden die Zivilisierungsstrategien konzipiert, wobei man auch hier nicht von einer systematischen Umsetzung durch Eliten sprechen kann.

Doch diese Zivilisierung zu Beginn des 18. Jahrhunderts müsste man von der „Russifizierung“ – wenn wir das als gewaltsame Assimilierung in Sprache, Religion und Kultur verstehen – klar trennen. Nehmen wir den korrekteren Begriff der Russifizierung, ethymologisch eigentlich „Russisch-Machen“, als „Russisch-Werden“ – und deuten es als „zum-kultivierten-loyalen-Untertan-machen“, entfällt die ethnisch-nationale Komponente komplett (lesenswert hierzu: Ricarda Vulpius, Die Geburt des Russländischen Imperiums, Wien/Köln /Weimar, Böhlau, 2020)

Die russländische imperiale Elite, der nächste Kreis Peters, bestand in Personen ausländischer, livländischer, schwedischer, sächsischer, preußischer, holländischer, französischer Herkunft. Minimalanforderungen, um Russe zu sein, bestanden in der Anerkennung des aus dem 16. Jahrhundert stammenden dynastischen Reichspatriotismus mit dem Konzept der vom Gott gewollten Autokratie und dem christlich-orthodoxen Glauben. Die Konversion zum Glauben und die russische Alphabetisierung konnten für die Ausländer ein Schritt zum Russe-Werden sein, aber es gab viele Ausnahmen. Das Imperium war im Werden und musste sich anstrengen, um durch eine divide et impera“–Praxis die nicht-orthodoxen Peripherien loyal zu halten.

Arina Nâbereshneva, Hand of Despair

Zur Hilfe kamen der Wissens-Transfer der europäischen Imperien mit ihren Kolonien und auch – so die Ironie der Geschichte – gerade die Ideen aus Kiew. Als Peter I. nach der Schlacht von Poltava im Jahr 1709 (als sich Kosakenführer Mazepa sich auf die Seite der Schweden stellte) die übrige ukrainische Elite für sich zu gewinnen suchte, fand er im Diskurs der Kiewer Bildungsschicht die Idee eines ethnisch und religiös homogenen ostslawischen Volkes. Diese Idee, die von Kiewer Gelehrten propagiert wurde, war eine im späten 17. Jahrhundert formulierte Antwort der Kosakenführer auf die Stärkung des Katholizismus, der unierten Kirche und des polnischen Adels. Sie erklärte das Recht der Romanow-Dynastie auf das Erbe der Rurikiden (d.h. das gesamte Gebiet des alten Russlands), die konfessionelle Einheit (Orthodoxie) und, in geringerem Maße, die ethnische Verwandtschaft. Es sei aber daran zu erinnern, dass auch wenn die Kosakenführer diese Rhetorik nutzen, sie gleichzeitig sehr wohl ihre eigenen Privilegien und auch die Autonomie ihres Landes verteidigten.

Doch es war diese ostslawische in Kiew entstandene Idee, so der ukrainische Historiker Serhii Plokhy, die als erste proto-nationale Konstruktion gelten kann (in seinem Buch „The origins of the Slavic Nations – Premodern identities in Russia, Ukraine and Belarus“, Cambridge (Mass.) University Press 2006). Der Transfer aus Kiew nach Moskau spiegelte sich diskursiv in dem von Peter zum ersten Mal nach Poltava verwendeten Begriff „Vaterland“ („otechestvo“). Der russländische Monarch war demnach direkt und für immer mit dem Staat in seiner Ausdehnung verknüpft, und es war er, der die territorialen Grenzen zu bestimmen hat (Stichwort: wo endet Russland?)

Hier nahm auch der Diskurs des starken Zaren seinen Anfang. Peter I. stellte sich zum einen als Vater des Vaterlandes dar, um sich dann als moderner Diener des Volkes, der sein Leben für sein Amt opfert, zu präsentieren. Das Ziel dieses Herrschers – des „Vaters“ und des „Dieners“ zugleich – war die Kohäsion der loyalen Untertanen, also der Groß- und Kleinrussen und somit die Konsolidierung des Einheitsstaates.

Nicht zu übersehen ist die imperiale Praxis von divide et impera“ in Kooptation der lokalen Eliten – wie zum Beispiel als die Kosakenführung Hetmanat unter der Kaiserin Katharina II. zu imperial loyalem russischen Adel wurde. Es hat aber nichts mit einer angeblichen historischen Einheit des russischen und des ukrainischen Volkes zu tun. Die Christianisierung der Völker war in dieser Zeit nichts Anderes als die Heranführung zur Bildung, die im „Allgemeinwohlstaat“ sicherlich vor allem dem Militär- und Staatsdienst dienen sollte.

Wir halten fest: die imperiale Praxis importierte Russland aus dem Westen, aus der Denkerschule der Aufklärer: es ging um eine mission civilisatrice in Bezug auf die zu kolonisierende (d.h. sesshaft zu machende) Bevölkerung. Die Kolonisation bedeutete zunächst Erforschung (durch die westeuropäischen Wissenschaftler), dann gewaltsame Unterwerfung (durch russische imperiale Eliten selbst). Die Praxis der Herrschaft in Bezug auf die Verwaltung, System der Fürsorge-Anstalten, den Umgang mit der Marginalität, der Strafpraxis und der Verfassungsideen übernahm man aus dem (aufklärerischen) Westen.

National – transnational

Was das Konzept des Zusammenhaltens des Imperiums angeht, übernahm Russland es von Kiew, von den Kiewer Intellektuellen, die die Ideen lieferten. (und sie lieferten diese, ganz pragmatisch, um ihre eigene Herrschaft, die damals mit Konfession zusammenfiel, vor den polnischen Herrschern zu verteidigen). Das entstehende Staatsvolk („narod“) der Russländer („rossijan“) mit ihrer Kohärenz von gleichberechtigten Groß-, Klein und Weißrussen war nichts anderes als der erste Schritt zur Hauptkategorie der Moderne, sie wurde zum größten Problem des russischen Selbstverständnisses überhaupt. Kann Nation imperial sein, und wenn ja – Was ist russische Nation?

Der Begriff „nation“ („nacija“) entstand im frühen 18. Jahrhundert. Verwendet wurde er zunächst zur Bezeichnung ethnisch homogener Gruppen (in der Quellensprache zum Beispiel: „ein Städter malorossischer Nation“). Als Fremdwort blieb es bis ins späte 18. Jahrhundert hinein erhalten und hatte eine Vielfalt an Bedeutungen: Ethnie, Adelsstand, Staatsmacht. Mit der Französischen Revolution bekam nation“ das Deutungselement der liberalen Monarchie- und Dynastie einschränkenden Verfassungsprojekte. Nun stand die Nation im Zusammenhang mit der Idee einer schichtenübergreifenden politischen Repräsentanz aller Bürger.

Es ist also nicht verwunderlich, dass der Begriff „Nation“ im Russland der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert zensiert wurde. Als Gegenbegriff zur liberal verstandenen „Nation“ entwickelte in den 1830er Jahren während der Herrschaft Nikolaus‘ I. der Minister der Volksaufklärung Sergei Uvarov den Begriff „narodnost‘“ (Nationalität, Volk, Volkstümlichkeit), um die uneingeschränkte Monarchie als status quo und als Zukunftsperspektive zu legitimieren. Uvarov formulierte die Trias, die heute noch ihre intellektuelle Nachwirkung hat: Orthodoxie – Autokratie – Narodnost, wobei Orthodoxie auf den Moskauer Mitropoliten Filaret, und Autokratie auf den Chef des politischen Geheimdienstes Alexander von Benckendorff zurückgeht. Die Verwendung des Begriffes zielte in den Kern der Frage nach der politischen Verfassung Russlands: Nation“, im Gegensatz zu „narodnost‘“, stellte die uneingeschränkte Monarchie in Frage; die Berufung auf „narodnost‘“ sollte den liberalen Forderungen nach einer politischen Repräsentanz des Volkes und nach einer Verfassung eine Absage erteilen, waren doch die Untertanen bereits ein Teil der Trias Orthodoxie – Autokratie – Narodnost. Für die Etablierung der russischen nationalen Geschichtserzählung war der Uvarovsche narodnost‘-Begriff von höchster Bedeutung: die neu eröffneten zeitgenössischen Lehrstühle für Geschichte arbeiteten mit diesem Begriff. Uvarov (selbst keineswegs ein Anti-Europäer) verband mit „narodnost‘“ die Idee des „reifen Russlands“, dessen Kultur ein eigenes Prestige habe und auf der europäischen Bühne als gleichberechtigter Akteur mitspiele.

Arina Nâbereshneva, Self Censorship

Die Diskussion der historischen nationalen Identität berührte die Diskussion nach dem Sonderweg und der russischen Eigenart. Viele Historikerinnen und Historiker beteiligten sich an der Kontroverse zwischen „Slawophilen“ und „Westlern“ in den 1840er Jahren und diskutierten die Frage, ob Russland den Weg des Westens mit Verspätung gehe oder ob die petrinische Westernisierungspolitik Russland von ihrem eigentlichen, richtigen Weg, Moskau als Drittes Rom oder als Neues Jerusalem, abbrachte. Es bleibt anzumerken, dass diese Kontroverse nach den Gemeinsamkeiten und Gegensätzen zwischen Russland und Europa und die Frage nach der russischen oder europäischen Zukunft (Stichwort: Sonderweg) nach wie vor Gegenstand der intellektuellen Debatte sind.

Im offiziellen Diskurs und in der schulischen Vermittlung der Geschichte knüpft der Kreml an die konservativen Ideen Sergei Uvarovs an: der Diskurs der Souveränität (souveräner Staat, souveräne Demokratie) ist einer der wichtigsten Diskurse unter Putin. Er und seine Umgebung greifen zum Diskurs der Slawophilen mit dem russischen Sonderweg als Rezept der russischen nationalen Selbstidentifikation: Russland als Nicht-Europa und Nicht-Asien, eine souveräne Großmacht mit messianischem Anspruch der Weltgeltung.

Schließlich sprach die nationale Meistererzählung im Konzept des Narodnost‘ von der „ungeteilten dreiteiligen“ russischen Nation, die die drei slawischen Völker vereinte – Großrussen, Kleinrussen (Ukrainer) und Weißrussen. Dieses Verständnis von russischer Nation wurde tradiert, entwickelte sich in der Sowjetzeit unter einem anderen Deckmantel weiter und wird zurzeit mit viel Elan aktualisiert.

In der sowjetischen Historiografie dominierte ein anti-nationaler, proletarisch-internationalistischer Zugang, man sprach vom „sowjetischen Volk“, das aus vielen (ethnisch-kulturell verstandenen) Nationen bestand. Gleichzeitig institutionalisierte die Sowjetmacht ethnische Gruppen, wies ethnischen Entitäten territoriale Gebiete zu und förderte deren nationales Selbstverständnis sowie das Paradigma des historischen Rechts auf die „eigenen“ Republiken und autonomen Gebiete. Wir sehen an der Geschichte der Staaten, die nach dem Zerfall der kolonialistischen Imperien entstanden sind, dass es ein ungeheuerlich schweres Erbe für die jungen Nationalstaaten darstellt – es kommt zu radikalen Ideologien wie Faschismus oder Nationalsozialismus, es kommt zu Bürgerkriegen und es kommt zu genozidalen Verbrechen (in und durch Europäer, siehe Erster Weltkrieg, Holocaust, postkoloniale Kriege, Kriege im postsozialistischen Jugoslawien).

Auch in Russland wurde (ethnischer) Nationalismus im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion wieder zu einer stark mobilisierenden Kraft. Boris Jelzin reagierte auf die Gefahr des Bürgerkriegs mit einer Verfassung, die vom multinationalen Volk Russlands als politisches Subjekt sprach und den Namen des Staates mit Russländische Föderation“ („Russland“) postulierte. Gleichwohl war auch Jelzin der mobilisierenden Anziehungskraft des (russischen) Nationalismus im bestimmten Grad verfallen. Äußerst aktiv wird in den 1990er Jahren nach einer „russischen Idee“ und „russischen Zivilisation“ gesucht und vom „russischen Messianismus“ gesprochen, was sich auch in den Schulbuchtexten widerspiegelte. Die „russische Idee“ sollte das ideologische Vakuum nach dem Zerfall der UdSSR füllen. Aus der totalitären sowjetischen Vergangenheit wollte man nun auf den richtigen, nationalen Weg zurückkehren – und dabei in die europäische Zukunft schauen. In der naiven Vorstellung der Heilkraft des – demokratischen – Nationalismus versprachen sich die Intellektuellen der Jelzin-Zeit die Integration in die westeuropäischen Strukturen. Die Trägheit des entideologisierten Vakuums unter Jelzin trug dazu bei, dass die Schwäche des russischen Nation-Building-Prozesses erst unter Putin wieder virulent wurde.

Der Bezugspunkt populistischer russländischer Geschichtspolitik war bis zur Krimannexion 2014 nicht eine ethnisch-russische Nation, sondern eine russländische Nation, die aus Gründen der Staatsraison multiethnisch und multireligiös festgelegt bleiben musste. Weit bekannt ist sicherlich der notorische Satz Putins „Der Zerfall der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, doch viel weniger bekannt ist sein Zitat „Der Islam gehört zu Russland“.

In den offiziellen Texten wurde – in der begrifflichen Tradition der Sowjetunion – klar zwischen dem schädlichen russischen (biologischen, rassischen) Nationalismus und dem „guten“ russländischen Patriotismus unterschieden. Begriffe wie Identität“ oder „russische Idee“ wurden in den offiziellen Reden des Kremls kaum noch verwendet, dafür aber Ausdrücke wie „russische eigene Werte“ („duchovnost‘“, „samobytnost‘“).

Dem Begriff der Liebe zum Vaterland als mobilisierendes Konzept kommt politisch eine viel wichtigere Bedeutung zu als dem Begriff der Nation. Dies hängt mit der sowjetischen Tradition und mit der semantischen Verbindung zwischen Imperium und Nation zusammen. Dieses Selbstbild als Imperium soll für den „inneren Bedarf“ gesellschaftlich nicht den Nationalismus, sondern imperiale Loyalität (d.h. Patriotismus) stärken, auf der internationalen Bühne soll damit das Bild von Russland als militärisch starker Großmacht vermittelt werden.

In den aktuellen Schulbüchern, in Abschnitten zur imperialen Geschichte, wird die Russländische Geschichte aber auch weiter als Geschichte des Zentrums und als eine Biografie der Staatsmacht erzählt. Das klassische Prisma der nationalen Meistererzählung – nämlich die historische Schlüsselrolle der Russen – behielt ihre gesellschaftliche Durchdringungskraft.

Arina Nâbereshneva, Freedom in Captivity

Doch gerade dies ist eine Achillesverse des imperialen Diskurses im heutigen Krieg Russlands. Das von Putin propagierte Selbstbild als Imperium nutzen Bewohner der Russischen Föderation, um sich der Verantwortung für den Krieg zu entziehen: „Ich bin kein Russe – ich wohne in Burjatien“. Es sind zentrifugale Tendenzen, die hier greifen, es ist eine Strategie der Externalisierung der Verantwortung. Es ist eine ähnliche Praxis, wie man sich im post-sowjetischen Raum von der Verantwortung für Verbrechen des Kommunismus lossagen konnte. Jeder, der nicht in Moskau wohnt, kann sagen – wir sind nicht das Zentrum, denn dieses bedeutet Ausbeutung. Der imperiale Nationalismus entfaltet hier eine subversive Kraft. Es ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass die Diskurse, die vom Staat geschaffen wurden, Eigenleben und Eigensinn entwickeln – eine Deutung, die dem Staatssinn gegenläufig ist.

Auch sind in Russland im letzten Jahrzehnt rechtsnationale und rechtsradikale (protofaschistische) gesellschaftliche Gruppen – unabhängig davon, ob sie sich selbst als nationalistisch oder patriotisch definieren – stärker geworden. Regen Zulauf haben imperiale (Eurasische Projekte), post-imperiale extrem nationalistische (Russland nur für Russen) oder auch geschichts-chauvinistische (neo-stalinistische) Projekte.

Das unemotionale Imperium und der Genozid-Diskurs

Während wir im Westen den Dämon des russischen Denkens und Handelns vor allem in seiner „Verdammung“ zum Imperialismus sehen, entfaltet er im Land selbst keine besonders starke emotionale Kraft. So, wie wir ihn jetzt ausbuchstabiert und seziert haben, haben wir ihm seine „Einzigartigkeit“, seine Sonderweg-Pose genommen und zum Teil als das Produkt des westlichen Wissenstransfers entzaubert. Denn in der imperialen Praxis geht es um Kolonisierung (unter dem Mantel der Zivilisierung) und Ausbeutung (in der offiziellen Sprache um divide-et-impera-Praxis) sowie um geopolitische Macht (es gibt Großmächte und Pufferzonen, oder wie im Denken des 18. Jahrhunderts middle grounds“). Das imperiale Denken mündet nicht zwangsläufig in den Krieg, das Imperium bedeutet nicht Vernichtung, und vor allem nicht eine desperado-ähnliche Selbst-Vernichtung wie Russland das jetzt durch die atomaren Drohungen vermittelt.

Schließlich ist die imperiale Größe nichts, was einen Gefallenenkult stiften kann. Als Sinnstiftung des Sterbens russischer Soldaten bieten sich weder das Imperium noch die Nation an. Das, was uns als post-imperiales Syndrom der Russen erscheint und wo wir nach Erklärungen für das gewaltsame Handeln suchen, ist in der Alltagsrealität der Russen irrelevant. Viel mehr greift hier ein Konzept, das wir erst aus der jüngeren Geschichte kennen – das Konzept des Genozids. Dieser aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs aktualisierte Diskurs ist enorm emotionalisierend, enorm moralisierend – und deswegen enorm handlungsleitend. So gehe es angeblich um die Beendigung des „Genozids“ in ukrainischen Ostgebieten durch die Kiewer Regierung. Das Bild, das der Kreml jetzt über den deutschen Krieg gegen die Sowjetunion (1941-1945) vermittelt, ist eine Abkehr von der üblichen sowjetischen Siegesrhetorik: Im Fokus steht jetzt das Leid der Zivilbevölkerung während des Krieges, das als Genozid definiert wird.

Die Selbstbeschreibung als Opfer – nicht als Held und als Sieger – mag, denkt man an die sowjetische und post-sowjetische offizielle Erinnerungslogik, neu und schwierig sein. Doch für Russland ist es offenbar die Ultima Ratio, um Menschen zu mobilisieren. So wundert es nicht, dass seit 2020 in Russland eine erinnerungspolitische Offensive von ungesehenem Ausmaß zu erkennen ist. Staatliche und gesellschaftliche Akteure bringen den Schrecken des Krieges an die Öffentlichkeit. Sie sprechen von Opfern unter Zivilisten in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und vom Genozid“. Den Ton gibt ein programmatischer Text von Wladimir Medinski, Präsidentenberater und Chef der Russländischen Militärhistorischen Gesellschaft, mit dem Titel „Jeder Fünfte“ an, in dem er die Verluste unter der Zivilbevölkerung neu berechnet, sowjetische Kriegsgefangene als Opfer eines Genozids definiert und die rhetorische Frage aufwirft, wie es möglich sein könne, dass die Sowjetbevölkerung als „Opfer des klassischen Genozids“ als Verantwortliche für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gesehen wird. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade Medinski an den ersten Verhandlungen mit der Ukraine im März teilnahm – man war sich seiner Wirkung als (professioneller) Historiker bewusst. Die Geschichtspolitik in Bezug auf den Krieg ist nun nicht mehr nur Siegestriumph, sondern Genozid-Diskurs, der erlaubt, alte normativ und emotional aufgeladene Begriffe wie Faschisten, Nazisten, Kollaborateure, Okkupation ins Gedächtnis zu rufen und neu zu besetzen.

Arina Nâbereshneva, Defeated

Der Genozid-Diskurs teilt bekanntlich scharf zwischen Opfern und Täter, das ist in Russland in Bezug auf Kiewer Gewalt gegenüber den Zivilisten im Donbas der Fall. Die Aktualisierung der Verbrechen des deutschen Vernichtungskrieges auf dem sowjetischen Gebiet soll russische Bürger emotional aufdrehen, und vor diesem emotionalen Hintergrund entwickelt sich die Berichterstattung über den Donbas. Die russische Armee, so der Kreml, kann historisch gesehen, nur die Rolle des Befreiers annehmen. Die dort ausgeübte Gewalt der russischen Soldaten, in Echtzeit überall zu sehen, kann man schwer mit solchen diffusen Projektionen wie Imperium legitimieren, viel mehr jedoch – in der Zeit, in der der Holocaust als beispielloses Verbrechen Kern der westlichen Identität ist – mit dem Begriff Genozid. Mir bleibt nur zu sagen, dass es eine neue viel gefährlichere Entwicklung ist, denn in Erinnerung an genozidale Verbrechen gibt es weder Vergebung noch Versöhnung.

Katja Makhotina, Universität Bonn

(Anmerkungen: Der Essay entspricht einem Vortrag, den die Autorin am 19. Oktober 2022 im Internationalen Club La Redoute in Bonn-Bad Godesberg gehalten hat. Erstveröffentlichung im November 2022. Zur Person der Autorin siehe das Gespräch mit Norbert Reichel, das im Mai 2022 im Demokratischen Salon veröffentlicht wurde. Die Bilder von Arina Nâbereshneva, St. Petersburg, wurden von Katja Makhotina zur Verfügung gestellt, Rechte bei der Künstlerin.)